Eine Studie über Gewalt in der Körperbehindertenhilfe
Dem Engagement von ehemaligen Heimkindern des Johanna-Helenen-Heimes in Volmarstein in Nordrhein-Westfalen ist es zu verdanken, dass eine wissenschaftlich Studie über das evangelische Heim für körperbehinderte Kinder in Auftrag gegeben wurde. Die HistorikerInnen Prof. Dr. Hans-Walther Schmuhl und Dr. Ulrike Winkler haben eine umfassende Forschungsarbeit über das evangelische Johanna-Helenen-Heim von 1947-1967 verfasst, die 2010 veröffentlicht wurde. Dabei haben sie nicht nur Akten untersucht, sondern auch ehemalige Heimkinder und ehemaliges Personal befragt. (7) Beide Wissenschaftler finden die Ausklammerung der Behindertenheime durch den Runden Tisch Heimerziehung nicht nachvollziehbar, zudem sei die Gruppe keineswegs marginal gewesen.
Die Einweisungswege in die heilpädagogischen Heime waren in diesem Zeitraum immer noch von eugenischem Gedankengut der NS-Zeit beeinflusst. Die Diagnostik war fragwürdig, Unterernährung und unzureichende Bildung konnten z.B. zu einer Einstufung als „geistig behindert“ führen. Verhaltensauffälligkeiten infolge von Vernachlässigung und Misshandlung wurden u. U. als vererbte, genetisch begründete, moralische Minderwertigkeit klassifiziert. Erst 1961 wurde eine Heimaufsicht verpflichtend durch die Landesjugendämter, 1963 wurde das Haus erstmals untersucht, jedoch sei es bei dieser Untersuchung um die Abstände der Handtuchhalter gegangen und nicht um die Lebensqualität der Kinder.
Das evangelische Johanna-Helenen-Heim war eine „Totale Institution“
Im Resümee der Untersuchung über das Johanna-Helenen-Heim wird festgestellt, dass es eine „totale Institution“ im Sinne des Soziologen Erving Goffman war: eine Institution, die sämtliche Lebensäußerungen kontrollierte und einem störungsfreien Betriebsablauf unterwarf, die Kontakte nach außen weitgehend abschirmte, die individuelle Identität auslöschte und durch Indoktrination, Drill, psychische, körperliche, sexuelle und religiöse Gewalt nachhaltig konditionierte. Die Kinder hatten extrem beengten Wohnraum (1,3-2,5 m²) zur Verfügung, der einzige eigene Platz war das Bett. Sie wurden sozial isoliert und emotional vernachlässigt. Persönliches Eigentum, wie Spielsachen und Geschenke, durfte von Kindern, die keinen Schutz durch Angehörige hatten und somit in der Hierarchie ganz unten rangierten, nicht behalten werden. Die Kinder waren demütigenden, christlich-sexualfeindlichen Kontrollen und Unterwerfungsritualen ausgeliefert. Dies begründete zudem strikte Geschlechtertrennung und keinerlei sexuelle Aufklärung. Der christliche Glaube begründete Behinderungen mit Teufelsbesetzungen und charakterlichen Schwächen. Das Menschenbild war gleichzeitig von eugenisch-rassistischen Ideologien der NS-Zeit geprägt. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass große Teile des deutschen Protestantismus, nicht nur die „Deutschen Christen“, der nationalsozialistischen Erb- und Rassenpolitik zustimmten. (8) Das diakonische Personal – Krankenschwestern, Lehrerinnen, Helferinnen, Ärzte, nutzte seine Machtposition zu unberechenbaren Misshandlungen, Demütigungen und Beschimpfungen. Die Kinder lebten so in einem permanenten Gefühl der Bedrohung und bemühten sich, die Stimmungsschwankungen der MitarbeiterInnen feinfühlig zu erahnen, um Strafen zu vermeiden. Sie passten sich an, ihre Gefühle zu verbergen, um möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. (9)