Gelegenheitsstrukturen für Gewalt an Kindern
Manfred Kappeler analysiert in seinem Ende 2010 veröffentlichten Essay „Anvertraut und Ausgeliefert“ die „Gelegenheitsstrukturen“, die sexuelle Gewalt in katholischen, evangelischen und reformpädagogischen Institutionen jeweils unterschiedlich begünstigt haben. Er macht darauf aufmerksam, dass das damals noch stark pietistisch geprägte erzieherische Ideal Gehorsam, Autoritätshörigkeit und der Unterdrückung sexueller Impulse galt. Die christliche Sexualmoral sei an der Ausgestaltung von TäterInnenprofilen beteiligt, die sexualfeindliche Pädagogik sei selbst Teil sexualisierter und sexueller Gewalt – darauf weist der erfahrene Experte in aller Deutlichkeit hin. Daher fordert er, Konsequenzen daraus zu ziehen und Priester, Nonnen, Ordensbrüder und Diakonissen, somit alle dem Zölibat Verpflichteten, nicht mehr im Erziehungsdienst zuzulassen. (10)
Die Züchtigung von Kindern aus „Liebe“(das Wort „Liebe“ wird im christlichen Sprachgebrauch meist im Sinne von „Unterwerfung“ benutzt) wird von bibeltreuen Christen bis heute religiös begründet und muss zum Schutz von Kindern öffentlich diskutiert werden. „Gewalt als „handgreifliches Argument“ zur Verbreitung des Christentums, zur Festigung des Glaubens oder zur Erziehung im Glauben ist zweifellos ein wesentlicher Bestandteil westlicher Gewalt- und Traumageschichte.“ (11) Darauf weist Prof. Dr. Wolfgang U. Eckart in der Fachzeitschrift „Trauma und Gewalt“ hin.
KirchenmitarbeiterInnen ist oft nicht bewusst, wie kontraindiziert und retraumatisierend ihre erneuten seelsorgerisch-missionarischen Angebote sind
Pädagogische und therapeutische MitarbeiterInnen und auch SeelsorgerInnen von kirchlichen Institutionen, die heute mit ehemaligen Heimkindern in Beratungskontexten stehen, müssen sich mit den Gewalttaten, die von Mitgliedern ihrer christlichen Weltanschauungsgemeinschaft ausgeübt wurden, spezifisch auseinandersetzen. Dies ist eine Herausforderung, die die eigene religiöse Identität und das eigene religiöse Image in Frage stellen kann. (12) Aber Argumente, die Zeiten hätten sich geändert, um dann zur Tagesordnung überzugehen werden den Betroffenen nicht gerecht. Für ehemalige Heimkinder, die in konfessionellen Einrichtungen aufwachsen mussten, kann alles, was mit dem Thema Kirche zu tun hat, traumatisch besetzt sein und schmerzhafte Erinnerungen in unerträglicher Weise reaktivieren. KirchenmitarbeiterInnen ist oft nicht bewusst, wie kontraindiziert und retraumatisierend ihre erneuten seelsorgerisch-missionarischen Angebote sind. Eine unbedingte Regel in der traumatherapeutischen Arbeit lautet: Kein Täterkontakt! (13) Daher muss Betroffenen von Kontakten zu unreflektiert agierenden Täter-Nachfolge-Organisationen abgeraten werden.
Das Johanna-Helenen-Heim hat hier einen für Betroffene schmerzhaften Prozess durchlaufen, denn vor dem Beginn der Forschungsarbeiten durch die Historiker Schmuhl und Winkler standen Abwehr und Verleugnung durch die damalige Heimleitung. (14)
Es ist zu hoffen, dass weitere Institutionen der bundesdeutschen Heimerziehung diesem positiven Beispiel einer wissenschaftlichen Aufklärung folgen und eine von Zeitzeugen unterstützte Forschung initiieren, um so die Position der Überlebenden zu stärken.
Daniela Gerstner
Die Studie über das Johanna-Helenen-Heim wurde am 16. März 2010 in einer Pressekonferenz vorgestellt: Die HistorikerInnen Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl und Dr. Ulrike Winkler stellen die Studie vor. (Video 1 und Video 2)
Anmerkungen:
(1) Vgl.: Dr. Michael Wunder: UN-Konvention wirkt sich auch auf Betreuung aus. Ein Prüfstein für Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung. Bt plus. Zeitschrift für professionelle Betreuungsarbeit. Okt. 2010 (http://www.bgt-ev.de/behindertenrechtskonvention.html)
(2) Vgl. Klaus Sessar (Hg.): Herrschaft und Verbrechen. Berlin, Münster 2008; Seite 109-157: Manfred Kappeler: Der Umgang mit den Opfern spiegelt die Haltung zu den Verbrechen der Täter. Die Exklusion der im NS-Staat zwangssterilisierten Menschen in der Bundesrepublik. (http://www.lit-verlag.de/isbn/3-8258-1028-3)
(3) http://euthanasiegeschaedigte-zwangssterilisierte.de/bez_rehabilitation....
(4) Vgl. Der Freitag, "Rassisch minderwertig" | 18.07.2003 | Katja Neppert „Noch immer gültig. 70 Jahre "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses"
(5) http://www.freitag.de/2003/30/03311202.php
(6) Andreas Scheulen: Der Zuchtgedanke ist Kerngehalt des Rassengedankens.“ Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und der Ausgrenzung der Opfer. In: Betrifft: Die Justiz, Nr. 94, Juni 2008, Seite 285-289. (http://www.betrifftjustiz.de/)
(7) Peter Henselder im Interview mit Ulrike Winkler über die Studie „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe“ (http://de.sevenload.com/sendungen/Top-TV-im-OKB/folgen/MvUYuff-02-TopTV-23-3-210). Literatur: Hans-Walther Schmuhl, Ulrike Winkler: Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Das Johanna-Helenen-Heim in Vollmarstein von 1947-1967. Bielefeld, 2010. (http://www.regionalgeschichte.de/ueber-uns/ueber-uns.php)
(8) Hierzu muss ergänzt werden, dass auch Liberale, Sozialdemokraten und Kommunisten keinen Widerstand gegen das Gesetz leisteten. Vgl. Manfred Kappeler: Der Umgang mit den Opfern spiegelt die Haltung zu den Verbrechen der Täter. In: Klaus Sessar (Hg.): Herrschaft und Verbrechen. Münster 2008. Zu den historischen Hintergründen eugenischer Ideen: L. Segal, E. Walraph: Rassenwahn oder Wissenschaft (http://www.ns-eugenik.de/eugenik/sa9.htm) Eine von Ärzten betriebene Website zum Thema „Missbrauchte Medizin im Dritten Reich“
(9) Vgl. Schmuhl, Winkler: Gewalt in der Körperbehindertenhilfe. Bielefeld, 2010; Inhaltsverzeichnis und Vorwort: http://docs.google.com/viewer?a=v&q=cache:e1OF9zQamJYJ:www.regionalgesch...
(10) Vgl. Manfred Kappeler: Anvertraut und Ausgeliefert. Berlin, 2011, (http://www.nicolai-verlag.de/product_info.php?products_id=266)
(11) Wolfgang U. Eckart: Schlagt sie, der Herr will es! Gewalt und religiöse Erziehung. Trauma und Gewalt, 5. Jahrgang, Heft 1/2011 (http://www.traumaundgewalt.de/)
(12) Vgl. Franz Buggle: Denn sie wissen nicht, was sie glauben. Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann. Leseprobe: (http://docs.google.com/viewer?a=v&q=cache:UDa2e8L973QJ:www.alibri-bueche...)
(13) Vgl.: Michaela Huber: Trauma und die Folgen (http://www.junfermann.de/details.php/p_id/218)
(14) http://gewalt-im-jhh.de/Reaktionen_der_ESV_zu_den_Stel/reaktionen_der_es...) und (http://gewalt-im-jhh.de/Grobe_Unwahrheit_-_ESV-Leiter_/grobe_unwahrheit_...)