Ethik und Neurowissenschaften

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Wolf Singer, Kathinka Evers, Peter Singer, Thomas Metzinger / Fotos © Evelin Frerk

FRANKFURT/M. (hpd) Inwieweit können uns die Neurowissenschaften behilflich sein, moralische und ethische Standards zu setzen? Zum Teil intensiv diskutiert wurde diese Frage von den Philosophen Peter Singer, Kathinka Evers und dem Neurowissenschaftler Wolf Singer, die ihrerseits selbst umstritten sind, was entsprechende Einwürfe ihrer Gegner unterstrichen.

Anlässlich des 14. Treffens der Nachwuchsgruppe „Philosophie des Geistes“ und der Verleihung des Barbara Wengeler-Preises 2011 der Barbara Wengeler-Stiftung im Rahmen des Frankfurt Institute for Advanced Studies (FIAS) an der Universität Frankfurt gab es zum Thema „Ethics and Neuroscience“ eine Podiumsdiskussion mit den Professoren Kathinka Evers (Uppsala), Peter Singer (Princeton) und Wolf Singer (Frankfurt), die von Thomas Metzinger moderiert wurde. Eine anspruchsvolle Thematik, die zudem komplett in Englisch diskutiert wurde.

   

Peter Singer begann seinen halbstündigen Vortrag „What can Neuroscience tell uns about Ethics!“ mit dem Anliegen, er wolle Hilfe und Belege von den Neurowissenschaften, ob bzw. ab welchem Punkt Lebewesen Gefühle und Schmerzen empfänden. Dies sei wichtig für das Verständnis der Moral. Daher konzentrierte er sich auf Moraltheorien, auf die Frage, in welchen Gehirnregionen moralische Urteile gefällt werden sowie auf andere Themen, die mit Hilfe der Neurowissenschaften und Evolutionspsychologie beantwortet werden können. Die Relevanz diesbezüglicher Forschung für unser Verständnis von Moral sollte Ziel der Diskussion sein.

Drei „selbst evidente“ ethische Axiome

Obgleich dies ein neues Forschungsfeld darstellt, bezog sich Singer immer wieder auf den Philosophen Sidgwick, einem rationalen Intuitionisten und Utilitaristen, der bereits 1874 in „The Methods of Ethics“ drei moralische Axiome aufstellte. Sidgwick schrieb, jede tadellose Theorie der Ethik müsse auf einem oder mehreren Prinzipien gründen, die wir intuitiv als „selbst evident“ erfassen.

  1. Fairness oder Gleichheit: Was für mich richtig und falsch ist, muss nicht für jemand anderen richtig und falsch sein. In einer Interpretation von Kants Imperativ kann man sagen: Wenn ich eine moralische Leitlinie für andere aufstelle, muss diese unter den gleichen Gegebenheiten auch für mich gelten.
  2. Besonnenheit: Allen Anteilen unseres bewussten Lebens gilt unsere „Zuwendung“ gleichermaßen. Ein angenehmes Erlebnis heute ist ebenso wichtig wie ein angenehmes Erlebnis in zehn Jahren.
  3. Unparteilichkeit: Das Wohl eines anderen Menschen ist ebenso wichtig wie mein Wohl.

Sidgwick meinte, es handele sich dabei um Wahrheiten, nicht nur um subjektive Präferenzen. Weiter war Sidgwick der Ansicht, die Kenntnis um die Herkunft des Sittlichkeitsgefühls, unsere Fähigkeit, moralische Wahrheiten zu verstehen, könne dazu führen, moralischen Wahrheiten zu misstrauen und diese komplett zu diskreditieren. Wir glaubten, wenn wir die Ursache einer Überzeugung kennen würden, diese Überzeugung sei falsch. Dies führe letztlich zu einem vollständigen Skeptizismus allem gegenüber, was aber keine vertretbare Position sei. Vielleicht, so Peter Singer, widerlege das, was wir von der Evolutionspsychologie und den Neurowissenschaften lernen, weder moralischen Realismus noch moralischen Objektivismus und höhle vielleicht insbesondere Sidgwicks Axiome nicht aus, sondern unterhöhle andere moralische Belange. Inwieweit also können die Forderungen Sidgwicks angesichts neuer Belege zur Moral heute noch überleben?

Zwei widerstreitende Gehirnareale

Ein Blick auf neuere Arbeiten etwa von Josh Green, dessen Buch „The Moral Brain“ demnächst erscheine, könnte diese Frage eventuell beantworten. Josh Green stellte Menschen vor moralische Dilemmata und beobachtete dabei mittels funktioneller Magnetresonanztomographie ihre Gehirntätigkeit. Er stellte zum besseren Verständnis eine „ziemlich nette“ Analogie der ethischen Entscheidungen mit verschiedenen Kameraarten her:

  • „Point and shoot“ - Draufhalten und schießen (Autofokus etc.), ergibt meist ein recht gutes Foto
  • Kameras, die manuell eingestellt bzw. justiert werden

Bezüglich unserer moralischen Urteile funktionieren verschiedene Gehirnareale in dem einen oder im anderen Modus, nämlich zum einen im„point and shoot“-Modus, dieser sei gewissermaßen „automatisch“ und intuitions- bzw. emotionsbasiert, zum anderen im „manuell“-Modus, dieser beinhaltet reflektierte, bewusste Prozesse.

Anhand verschiedener Beispiele konnte Singer verdeutlichen, dass wir Menschen eher darauf anspringen, auch fremde, entfernte Individuen zu retten oder ihnen zu helfen, als einer undefinierten Gruppe. Selbst wenn beim Nachdenken klar wird, dass es ungerecht wäre, nur dieser Person zu helfen bzw. dass das gespendete Geld nicht nur dieser Person zugute kommen wird. Wir sind grundsätzlich auf „point and shoot“-Modus eingestellt.

Darüber hinaus scheint es eine Rolle zu spielen, ob wir mithilfe des Umlegens eines Schalters jemanden töten oder ihn mittels Körperberührung töten müssten, wie Josh Green anhand seiner „Trolley-Experimente“ zeigte – im ersten Fall haben Menschen weniger Probleme und sehen geringere moralische Dilemmata als im zweiten. Doch warum? Wir Menschen haben im Laufe der Evolution eine Abneigung dagegen entwickelt, Menschen mit Berührungen zu töten. Abstraktere Formen des Tötens wie Bomben, das Umlegen von Schaltern oder das Öffnen einer entfernten Falltür sind allerdings noch nicht lange Zeit möglich, weshalb wir dagegen noch keine Abneigung entwickelt haben. (Diese Erklärung ist allerdings umstritten, wie sich später in der Diskussion zeigte.)

„Point and shoot“ nicht immer sinnvoll

Nicht immer sind die automatischen, intuitiven Reaktionen die besten. Sie korrespondieren zwar mit deontologischen Entscheidungen in dem Sinne, dass man einen anderen nicht als ein Mittel, sondern nur als Zweck verwenden sollte. Oder man gegen seine Rechte verstieße, ein Versprechen bräche oder etwas stehlen würde – die diversen Entscheidungen, die wir treffen, ohne die Konsequenzen zu berücksichtigen, dabei aber an bestimmte moralische Regeln denken. Darüber hinaus mögen die Regeln im Alltag funktionieren, aber nicht in jeder denkbaren Situation.

Hier beschrieb Singer drei Fälle, in denen die intuitiven Antworten nicht sinnvoll sind:

  1. Unsere Reaktion auf globale Armut, denn hier sollten wir uns verpflichtet fühlen zu geben. Manche Menschen sind der Meinung, man solle in Slums Webcams installieren, damit man eine Idee von den Lebensumständen der dort residierenden Menschen erhält, um dadurch Hilfsbereitschaft auszulösen.
  2. In einer Reihe anderer Fälle bestünde Gesprächsbedarf, denn aufgrund von Entwicklungen in der Gesellschaft und medizinischer Technologie können wir Menschen am Leben erhalten, die zuvor gestorben wären. Die deontologische Sicht heißt, jeder Mensch verdiene denselben Respekt, egal in welchem Zustand er sich befinde. Eine große Anzahl von Patienten ist unwiederbringlich ohne Bewusstsein und benötigt viele Ressourcen. Die meisten Menschen erkennen, dass darin kein wirklicher Sinn liegt, also werden Maschinen abgestellt. Allerdings haben wir ein Problem mit einigen dieser Entscheidungen, ob wir das Leben von Einigen schnell beenden oder sie am Leben erhalten, um sie langsam und qualvoll verenden zu lassen. Wir fühlen einen Widerstand dagegen, ihnen eine Spritze zu verabreichen, die ihnen tatsächlich helfen würde zu sterben. Wenn wir darüber nachdenken, erkennen wir, dass, wenn jemand selbst um den Tod bittet und ihnen möglich ist, nach Hilfe zum Sterben zu bitten, es keinen wirklichen rationalen Einwand dagegen gibt.
  3. Der „point and shoot“-Modus versagt vollständig in Bezug auf den Klimawandel: Wir verfügen über keine evolutionär gewachsene, inhärente Antwort auf unseren Ausstoß fossiler Brennstoffe. Dies stellt ein ernsthaftes moralisches Unrecht dar und wird in den kommenden Jahrzehnten über steigende Meeresspiegel und andere Auswirkungen Millionen Tote verursachen.

Aus diesen Gründen kann uns hier der „manuelle“ Modus die richtigen moralischen Antworten geben.

Moralische Wahrheiten versus evolutionäre Prinzipien

Was zeigen uns die Neurowissenschaften über die Möglichkeit, dass es moralische Wahrheiten gibt, die nicht durch unser wachsendes Wissen über Evolution und die Art, wie wir moralische Urteile fällen, diskreditiert werden? Sidgwicks Axiome bieten, so Singer, gute Kandidaten. Zum einen sind sie zu abstrakt, um eine instinktive, intuitive „Igitt“-Reaktion wie bei einer gewaltsamen Handlung hervorzurufen. Zum anderen, wenn man darüber nachdenkt, wie Evolution funktioniert, befähigt es uns natürlich zu überleben, uns zu reproduzieren und unsere Gene an zukünftige Generationen weiterzugeben. Was selbstredend andere moralische Verpflichtungen gegenüber unseren Nachkommen und unserer Gemeinschaft mit sich bringt. Es ist aber schwer zu erkennen, wie moralische Prinzipien, die so breit und weit reichend sind wie die Axiome Sidgwicks, in dieser Weise evolviert sein könnten.

Wie könnte vor allem das letzte Axiom, die Unparteilichkeit, von evolutionärem Vorteil sein? Eigentlich ist es ein Nachteil bezüglich der Chancen auf Überleben und Reproduktion, wenn man sich selbst und seine Nachkommen und Kooperationspartner betrachtet.

Das Verständnis über die Vorgänge in unserem Gehirn, wenn wir moralische Entscheidungen treffen, hilft uns, Unterscheidungen zwischen den einen und den anderen moralischen Intuitionen und Urteilen zu treffen. Jene, die wir als nicht diskreditiert betrachten sollten, sondern als mögliche moralische Wahrheiten, sähen in etwa aus wie Sidgwicks Axiome. Zumindest als offene Möglichkeit: dass es in der Moral objektive Wahrheiten gibt.

  

Was lernen Philosophen von den Neurowissenschaften?

Auf den Vortrag von Peter Singer folgte eine einstündige Podiumsdiskussion mit Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main, Kathinka Evers vom Centre for Research Ethics and Bioethics der Universität Uppsala, Schweden sowie (als Moderator) Thomas Metzinger, Leiter des Arbeitsbereiches Theoretische Philosophie an der Universität Mainz.

Nach den Eingangsstatements war es dem Publikum überlassen, Fragen zu stellen, was auch rege erfolgte. Ebenso störten zwei Gruppen die Diskussion – die eine anti-Peter Singer, die andere anti-Wolf Singer - und ihnen wurde höflich erlaubt, ihre Standpunkte zu formulieren.

Die Neurowissenschaft ist, so Wolf Singer, kein normatives Mittel und kann keine Werte zuschreiben. Allerdings, meinte dann Kathinka Evers, können die Neurowissenschaften uns helfen zu diagnostizieren, dass wir neurobiologische Lebewesen sind, und das sei hochrelevant im Hinblick auf die Evaluation dessen, wessen wir überhaupt fähig seien. Wir könnten unsere Gesellschaft, unsere Bildungssysteme und unsere Gesetze derart formen, dass sie zu unseren Gehirnen passen. Insoweit könnten uns die Neurowissenschaften nicht sagen, was richtig oder falsch ist, aber sie könnten helfen, wenn unsere Werte festgesetzt sind.

Der Verstand ist extrem formbar

Auf die Frage aus dem Publikum, was es denn für Folgen hätte, wenn die Neurowissenschaften uns lehrten, dass es uns unmöglich sei, fern liegende Konsequenzen abzuschätzen, erwiderte Wolf Singer: Um Empathie und Verantwortung gegenüber dem Fernen zu entwickeln, wäre zu fragen, ob es Erziehungs- oder Bildungsstrategien gebe, um Kindern zu helfen, diese Fähigkeiten zu entwickeln. Wir wissen, dass der menschliche Verstand sehr formbar ist, denn er ist derselbe wie der unserer Vorfahren, die in Höhlen lebten.

Peter Singer meinte, wir verfügten nicht über den emotionale Ausrüstung, um für Ferne, für namenlose Andere Empathie zu empfinden. Andererseits sorgten sich einige, es handele sich um ein politisches Problem, wie beispielsweise höhere Preise für Benzin einzuführen. Kathinka Evers führte aus, Menschen seien sehr schlecht bestückt, wenn es um ihre Selbsterkenntnis gehe. Wir drängten nach Transzendenz und die Sicht auf unsere Fähigkeiten sei extrem unrealistisch. Auf dem Wege, diese Sicht zu verbessern, könnte eine passende Selbstdiagnose von enormer Hilfe sein. Auch bestehe eine der wesentlichen Herausforderungen für einige Disziplinen wie Neurowissenschaften, Philosophie, Psychologie, darin, zu differenzieren, welche Elemente unseres Moralverhaltens wir uns als Teil unserer Kultur aneignen, welche wir erben. Für die Zukunft wird es sehr wichtig sein, den Unterschied zu kennen.

Laut Wolf Singer stehen unsere zwei unterschiedlichen Moralsysteme manchmal in Opposition und gehorchen sehr unterschiedlichen Prinzipien. Für Peter Singer ist relevant, welche Lebewesen bewusstseinsfähig sind und welche Schmerzen empfinden können – das träfe ebenso auf Menschen zu.

Kritikwürdiges

Wolf Singer erntete Kritik für seine Tierexperimente, die er auch an Affen durchführt(e). Auch wurden seine entsprechenden Ausführungen in Bezug auf Menschenaffen als fragwürdig angesehen, standen sie doch in Gegensatz zu den Erkenntnissen über den potenziellen Personenstatus von Menschenaffen, die am Vorabend sowohl von Volker Sommer als auch von Peter Singer vorgetragen worden waren. Allerdings stellte sich Wolf Singer zur Überraschung einiger seiner Kritiker hinter die Forderungen des Great Ape Projects.

Peter Singer wurde dagegen fälschlicherweise unterstellt, Behinderte töten zu wollen. Bezüglich der Einwürfe der entsprechenden Aktivistengruppen konnte festgestellt werden, dass die Aktivisten vor zwanzig Jahren noch zusammengekommen waren, um eine Diskussion über Peter Singers Philosophie zu verhindern, heute diskutierten sie immerhin. Zum Glück leben wir in einer freien Gesellschaft.

Das Abschlusswort hatte Kathinka Evers, die meinte, der wichtigste Aspekt Peter Singers bestünde nicht darin, Menschen schlechter zu behandeln, sondern nicht-menschliche Lebewesen besser!

Fiona Lorenz