Deutschland Deine Kinder (10)

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Marsha im Kommunionskleid / Foto: privat

FREIBURG/BERLIN. (hpd) Denn sie wussten, was sie tun. Das Kinderheim "Heilig Kreuz" - ein dunkles Kapitel der Pädagogischen Stiftung Cassianeum in Donauwörth. Marsha ist eine 51jährige, lebhafte, selbstbewusste und fröhliche Frau. Nie würde man beim ersten Eindruck vermuten, dass sie unter so schweren Depressionen, Ängsten und körperlichen Beeinträchtigungen leidet, dass sie keiner geregelten Arbeit mehr nachgehen kann.

Der Grund hierfür führt zurück in ihre Kindheit und Jugend, die sie größtenteils in einem katholischen Kinderheim verbracht und erlebte, wovor man sie schützen wollte. Die traumatische Zeit in dem Heim prägt auch heute noch ihr Leben. Wer übernimmt Verantwortung? Auf Nachfragen folgen Schweigen oder viele Worte, Bedauern und Gebete.

Marshas „Heimkarriere“ begann 1965. Wegen „sozialer Missstände“ wurde das damals fünfjährige Mädchen nach Donauwörth in das katholische Kinderheim Heilig Kreuz gebracht. Es galt, sie und ihre Geschwister vor weiteren Gefahren für Leib und Seele in den Schutz staatlicher Obhut zu geben. Das Kinderheim Heilig Kreuz sollte der geeignete Raum sein, so war der Entscheid des Jugendamtes. Heilig Kreuz gehört zur Pädagogischen Stiftung Cassianeum. Für eine Stiftung nach dem öffentlichen Recht gibt es eine zuständige Aufsichtsbehörde. Das war und ist auch heute noch das Bischöfliche Ordinariat Augsburg. Begründer der Stiftung war Ludwig Auer, ein katholischer Volkspädagoge. 1916 eröffnete unter seiner Leitung die Pädagogische Stiftung Cassianeum, ein "Erziehungsheim". Diese Tradition wird heute in Form des Tageskindergartens weitergeführt. Das Heim selbst wurde 1977 aufgelöst. Es stand zu diesem Zeitpunkt unter der Leitung des Direktors und Monsignore Max Auer, dem Enkel des Begründers.

Kommen wir zu Marsha: Damals, so erzählt sie, hat kein Außenstehender etwas von dem, was im Heim geschah, bemerkt oder wissen wollen. Die Kinder wurden vom Katholischen Pfarrer und Monsignore Max Auer und einigen der Erzieherinnen, ganz besonders der Heimleiterin „Tante V“, körperlich und seelisch misshandelt. Das geschah für die Außenstehenden unbemerkt, denn Herr Max Auer war ein angesehener Mann in Donauwörth, der Auer Verlag war damals einer der größten Arbeitgeber der Stadt. Möglicherweise wollte auch niemand etwas „bemerken“, obwohl die Kinder wegen der sichtbaren Striemen an den Beinen vom Sportunterricht befreit waren oder auch im Sommer Strumpfhosen oder lange Unterhosen tragen mussten.

In den Jahren, in denen Marsha dort ‚zuhause‘ war, fanden in der Pädagogischen Stiftung Cassianeum Donauwörth religionspädagogische Fachtagungen statt. Das dunkle Kapitel der Pädagogischen Stiftung hat offensichtlich bis heute die Öffentlichkeit nicht erreicht. Marsha wollte die Öffentlichkeit erreichen und nahm 2010 mit einem Redakteur der Donauwörther Zeitung Kontakt auf. Sie wollte über die damaligen Zustände und Drangsalierungen im Kinderheim Heilig Kreuz zu berichten. Es war niemand – auch nicht das Bistum Augsburg – an einer Veröffentlichung interessiert und das finden wir erstaunlich. Auch auf der stiftungseigenen Homepage ist kein Wort von Ereignissen zu lesen, die bekannt geworden wären und in die Nähe der Landschaft Heimerziehung in den frühen Jahren der jungen Bundesrepublik Deutschland oder sexuelle Gewalt an Kindern führt.

Zur Verantwortung: Bischof in Augsburg wurde 1963 Josef Stimpfle und er blieb es bis zu seinem altersbedingten Rücktritt 1992. In seiner Funktion als Aufsichtsperson über die Stiftung besuchte er die Stiftung und das Kinderheim in regelmäßigen Abständen. Hierfür wurden die Räumlichkeiten und die Kinder „auf Hochglanz“ gebracht, um das schöne Bild zu wahren, so berichtet Marsha.

Sie will erzählen, was ihr im Kinderheim Heilig Kreuz unter dem Deckmäntelchen der christlichen Nächstenliebe angetan wurde und dort ihr Leben wie das vieler Betroffener nachhaltig beeinflusst hat. Hier beginnt ihr Bericht:

Du hast erzählt, Du siehst dich manchmal mit dem Argument konfrontiert: „Das war eben früher so, Schläge gab es zu dieser Zeit doch überall!“ Worin liegt der Hauptunterschied zu der Gewalt, die es auch häufig in Familien gab und dem, was Du erlebt hast?

Kinder wurden damals aufgrund von Missständen in der Familie oder der „Gefahr der Verwahrlosung“ durch die staatliche Fürsorge aus dem familiären Umfeld herausgenommen. Die Kinder sollten vor weiteren „Schädigungen“ geschützt werden. Und genau dieser Schutz wurde uns nicht gewährt! Stattdessen wurden wir, die Schwächsten der Gesellschaft misshandelt - diesmal im Namen der christlichen Nächstenliebe. Durch die „Staatliche Fürsorge“ wurden wir auf vielfältige Art erneut traumatisiert und für unser weiteres Leben schwer beschädigt. Das war ein ganz klarer Verstoß gegen die Menschenrechte und die Menschenwürde.

Im Gegensatz zur Familie gab es für uns Heimkinder keinerlei Rückzugsmöglichkeit, keinen Ort, keinen Menschen, an den wir uns vertrauensvoll hätten wenden können. Wir waren den Launen des Direktors und einigen seiner Erfüllungsgehilfinnen, besonders der Heimleiterin ausgeliefert. Ständige und willkürliche Kollektivstrafen waren üblich.

Gewalt gab es mehr, als man bei vollem Verstand ertragen kann. Ich bin davon überzeugt, dass dies für meine seit vielen Jahren anhaltende chronische Schmerzerkrankung Ursache ist. Ständig die körperliche Anspannung, die Angst, grundlos eine Ohrfeige, einen Schlag auf den Rücken, eine Kopfnuss oder Tritte von Erzieherinnen und anderen Kindern zu bekommen, macht einen fertig. Man ist nur noch in Habachtstellung, man gewöhnt sich eine anhaltende körperliche Anspannung an vor dem, was sich plötzlich, unerwartet und willkürlich aus dem Hinterhalt auf dem Kopf, dem Rücken, dem Gesäß entlädt. Es war sehr beängstigend, bedrohlich. Man wusste nicht, wer Freund oder Feind war. Schon als Kind litt ich häufig unter unerklärlichen Kopf- und Bauchschmerzen.

Vermutlich kommen Äußerungen der Verharmlosung und erneuten Diskriminierung der Heimkinder von jenen, die auch damals davon nichts wissen wollten oder/und uns Heimkinder schon immer als „Randerscheinung“ betrachteten, als Menschen zweiter Klasse. Für viele sind wir auch heute noch minderwertig. Der Neid auf die Zuwendung und möglicherweise finanzielle Entschädigungen, die uns zuteil kommen könnten, spielt meiner Meinung nach eine ganz erhebliche Rolle.

Erinnerst Du Dich an einzelne Gewalttaten durch Erzieher/Innen, was konkret hast du erlebt?

Erst einmal möchte ich betonen, dass nicht alle Erzieherinnen gewalttätig waren. Aber, im Bett galt Redeverbot, der nächtliche Toilettengang war verboten. Uns Kleinen, also den Zwei bis Sechsjährigen, drohte man mit dem Schwarzen Mann und dem Bösen Wolf, der unter dem Bett auf uns lauert und uns holen würde, sobald wir das Bett verließen. Bettnässen war die Folge. Bettnässen wiederum wurde mit Trinkverbot über einen Tag sowie Schlägen bestraft.

„Bettschwätzer“ mussten zur Strafe nachts einige Stunden mit erhobenen Armen auf einem Holzkleiderbügel knien. Wer währenddessen „schwächelte“, wurde an den Haaren hochgezogen, bekam eine heftige „Watsch‘n“ von hinten, die oft heftige Ohrenschmerzen verursachte. Oder die Strafaktion endete mit einem Schlag auf den Hinterkopf, durch diesen schlug der Kopf an den Schrank oder an die Wand.

Die Beichte nahm uns der Direktor Max Auer persönlich ab. Das war Pflicht. Er war Priester. Das 6. Gebot für uns Kinder lautete: „Du darfst nicht Unkeuschheit treiben“ Herr Auer fragte im Beichtstuhl: „Hat jemand sein Didi in dein Pipi gesteckt?“ „Hast Du Dein Pfuili berührt?“ „Hat jemand Dein Pipi angefasst?“ Das war sein Lieblingsgebot.

Wer nichts zu beichten hatte, dem wurden Sünden eingeredet. „Lüg nicht!“ zischte er im Beichtstuhl. Oft folgte die Buße direkt nach der Beichte im Wohnhaus des Direktors: sechs Stockschläge mit dem Rohrstock auf das nackte Gesäß. Es kam auch vor, dass Kinder den Stock selbst suchen und mitbringen mussten. „Einen, der ordentlich pfeift“, sagte der Direktor.