Identitätspolitiken von Links und Rechts: Der perfekte Sturm

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In der aktuellen Politik scheint es eine ungute Wechselwirkung zwischen Populismus und Identitätspolitiken von Links und Rechts zu geben. Durch Feindbilder und Stigmatisierung wird Wählerklientel abgeschreckt und wendet sich anderen politischen Lagern zu, da Politik als elitär wahrgenommen wird. So verlieren identitätspolitisch agierende Parteien am Ende auch noch die Minderheiten, die sie zu vertreten vorgeben, während die politisch radikale und extreme Rechte immer nur dann eine historische Machtperspektive zu haben scheint, wenn sie es schafft, beträchtliche Teile der unteren Klassen auf ihre Seite zu ziehen.

In Zeiten, in denen Rechtspopulisten in ganz Europa auf dem Vormarsch sind und in Deutschland die Partei Alternative für Deutschland (AfD) von Erfolg zu Erfolg eilt, scheint es plausibel, davon zu sprechen, dass wir einen gesellschaftlichen Rechtsruck erleben. Betrachtet man aber Langzeitstudien, so stellt man fest, dass empirisch erhobene rechtsextreme Einstellungen und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit über die Jahrzehnte eher ab- als zugenommen haben.

Unter diesem Aspekt scheint der gesellschaftliche Rechtsruck also eher ein politisches Narrativ als eine messbare Realität darzustellen. Wie kommt es aber, dass Menschen immer mehr bereit sind, in Deutschland eine Partei zu wählen, die in Teilen gesichert rechtsextremistische Positionen vertritt und deren Mitglieder immer wieder durch gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auffallen, wenn die Bevölkerung im Gros diese Einstellungen nicht teilt?

Meine These ist, dass es sich – zumindest in Teilen – um eine perfide Wechselwirkung zwischen Populismus und Identitätspolitiken von Links und Rechts handelt.

Populismus und Identitätspolitik

Populismus bezeichnet dabei eine Mischung aus Politikstil und etwas, das man "dünne Ideologie" nennt, also einer Ideologie, die nur einen begrenzten ideologischen Kern besitzt, der im Fall des Populismus in einer "Wir hier unten gegen die da oben"-Erzählung besteht. Der Politikstil nutzt verschiedene Elemente, wobei eines dieser Elemente eine Identitätserzählung ist, denn ein "Wir" benötigt ein "die Anderen", von dem es sich abgrenzt.

Ein "Wir" gegen "Die" reicht jedoch noch nicht aus, um von Identitätspolitik zu sprechen, denn sonst wäre faktisch jede Politik Identitätspolitik. Erst, wenn politische Positionen mit auf unveränderbaren Merkmalen basierender Identität in eins gesetzt werden, kann man sinnvoll von Identitätspolitik sprechen. Diese ist aber immer an den Populismus wie oben beschrieben anschlussfähig.

Die Notwendigkeit eines solchen "Right-Wing Populism" beschrieb Murray Rothbard schon 1992 und Samuel Francis beschrieb 1993, wie ein solcher funktionieren kann, indem die reaktionäre Rechte zum Mittel des Kulturkampfes greift. Die meisten aktuellen Populisten werden diese Texte nicht kennen, aber durch das Mittel der Imitation dessen, was anderswo scheinbar gut funktioniert, pflanzt sich diese Praxis länderübergreifend fort.

Sicherlich kann man immer versuchen, Dinge so darzustellen, dass sie gut in die eigene politische Erzählung passen, dieser Versuch muss aber ein Moment des Wahren besitzen, damit eine ausreichende Zahl von Wählern sie auch glauben kann. Es muss also zumindest eine Korrespondenz bestehen zwischen dem Behaupteten und der Realität, denn nur so ist Anschlussfähigkeit gegeben.

So schreibt auch der österreichische rechtsradikale und ehemalige Kopf der Identitären Bewegung Martin Sellner nicht einfach von "Provokation", die notwendig sei für einen von ihm ersehnten "Regime Change von Rechts", sondern von "anschlussfähiger Provokation", wohl wissend, dass einzelne Personen scheinbar fast alles zu glauben bereit sind (man danke an das sogenannte "Pizzagate"), die breite Mehrheit aber doch eine gewisse Grundplausibilität von Thesen mit der von ihnen wahrgenommenen Realität abgleicht.

Gibt es dieses "Fünkchen Wahrheit", auf dem Rechte ihre populistische Identitätserzählung aufbauen können? Ich würde behaupten: Ja, die gibt es. Leider. Und zwar findet es sich sowohl in Inhalten als auch in Praxen der identitätspolitischen Linken.

Feindbilder

Beginnen wir mit den Inhalten. Der Begriff "Identitätspolitik" kommt aus der neo-marxistisch geprägten U.S.-amerikanischen Linken und konstituiert bereits dort ebenfalls eine "Wir gegen die"-Erzählung. Das Feindbild ist dort nicht der "alte weiße Mann" sondern der "white heterosexual man". Dabei ist gar nicht entscheidend, wo die linke Identitätspolitik herkommt oder wer das Feindbild ist, sondern, dass es auch dort ein solches Feindbild überhaupt gibt.

Denn wie soll denn eine durch dieses Feindbild abgewertete Gruppe reagieren? Zumindest in Teilen wird sie diese Abwertung negativ auffassen und sich auf das Spiel "Wir gegen die" einlassen, was besonders dann gefährlich wird, wenn – wie es bei der linken Identitätspolitik der Fall ist – die abgewertete Gruppe die Mehrheit darstellt.

Genau das lässt sich auch beobachten. Denn die Alt-Right-Bewegung in den USA, eine Spielart der radikalen bis extremistischen Rechten, nutzt genau diese politische Erzählung zur Rekrutierung vor allem junger weißer Männer.

Wenn Männlichkeit und Whiteness (Weißsein) abgewertet werden, zumeist als toxisch bezeichnet werden, dann, so deren politische Erzählung, muss man sich organisiert gegen diese Abwertung und die Gruppen, die einen abwerten, wehren. Und selbst wenn die abgewerteten Gruppen nicht so weit gehen, sich in die Arme von Rechtsextremisten zu begeben, so werden sie wenig Neigung verspüren, mit denen zu kooperieren, die sie abwerten.

In einer Demokratie, in der es darum geht, sich Mehrheiten zu beschaffen und tragfähige Wählerallianzen zu bilden, ist dies fatal. Progressive Kräfte, die Wähler aus ihrer Allianz vergraulen, weil diese Eigenschaften besitzen, auf die sie keinen Einfluss haben, ist dabei eine schlicht absurde Wendung. Und wer glaubt, dass dies nur ein Nischenphänomen oder übertrieben sei, der sei an Hillary Clintons "basket of deplorables" (etwa "Korb der Bedauernswerten") erinnert, der sie am Ende die Wahl zur ersten Präsidentin der USA gekostet haben könnte. AfD-Wähler pauschal als dumm oder ungebildet zu beschimpfen erscheint in diesem Licht ebenfalls keine sehr sinnvolle Strategie zu sein, so man Teile dieser Wähler zurückgewinnen möchte.

Reaktanz begrenzen, Kooperation ermöglichen

Es geht auch nicht darum, jeden politischen Widerstand oder jede Art der Reaktanz zu vermeiden, denn ohne Widerstände wird sich kaum etwas in der Politik durchsetzen lassen. Es geht darum, dass man nicht so viel Reaktanz auslöst, dass man damit die eigene Wählerkoalition sprengt und sich damit mittel- bis langfristig Gestaltungsmöglichkeiten raubt.

Wer nun darauf verweist, dass sich identitätspolitische Inhalte selten in Parteiprogrammen wiederfinden, der sei an die Binsenweisheit erinnert, dass Politik nicht zuallererst über Policy funktioniert und angegriffene Gruppen sehr genau merken, ob sie aus gewissen Kreisen oder Parteien Solidarität erfahren oder dröhnendes Schweigen.

Wähler wollen ein Angebot bekommen, das Parteien für sie wählbar macht. Politisch Aktive wollen mit politischen Lagern kooperieren, die fair mit ihnen umgehen. Ist dies nicht der Fall, so werden diese Menschen politisch heimatlos und gehen einem Lager verloren, dem sie sich vorher vielleicht zugehörig fühlten, selbst wenn sie am Ende nicht so weit gehen, sich dem gegnerischen Lager anzuschließen. So geschehen zum Beispiel bei den Feministinnen, die sich gegen das sogenannte "Selbstbestimmungsgesetz" ausgesprochen haben, die oft den Grünen nahe standen und heute sagen, dass sie diese Partei absehbar nicht mehr wählen werden, weil sie aus dem Umfeld der Partei als "Transfeinde" markiert und diffamiert wurden und ihnen Nähe zu AfD-Positionen unterstellt wurde.

Wer immer noch glaubt, dies seien nur Nischenphänomene, dem sei eine Umfrage ans Herz gelegt, nach der fast ein Drittel der Wechselwähler, die sich für Donald Trump entschieden, sagten, es sei für sie wichtig gewesen, dass Kamala Harris "sich zu sehr für kulturelle Themen wie das trans-Thema interessiere anstatt der Mittelklasse zu helfen".

Neben diesen inhaltlichen Aspekten der Identitätspolitik haben sich um diese herum auch Praxen, also konkrete Handlungsweisen, entwickelt, die nicht notwendig inhaltlich mit ihr verbunden sind, aber aus verschiedenen Gründen eine starke Verbindung zu diesen besitzen.

Man denke an das sogenannte Gendern mit Binnenstern, das zu schwer verständlichen Sätzen führen kann. Spätestens dann, wenn Possessivpronomen ins Spiel kommen. Für die circa 7,5 Millionen Menschen zwischen 18 und 64, die als funktionale Analphabeten gelten, muss es wie ein Hohn klingen, dass diese Art der Sprache "inklusiv" sein soll, wenn sie doch eindeutig auf gebildete und privilegierte Schichten abzielt.

Ebenso seien die sich ständig ändernden Begriffe erwähnt, die in selbsterklärt progressiven Kreisen für akzeptabel gehalten werden oder eben auch nicht. Fälle wie der des Schauspielers Benedict Cumberbatch, der sich einen veritablen Shitstorm einhandelte, weil er sich für mehr Möglichkeiten für schwarze Schauspieler aussprach, dies aber in den falschen Worten ausdrückte, werden von vielen Menschen wahrgenommen und verschrecken diese, auch wenn es Extrembeispiele sind. Dabei hatte Cumberbatch nicht einmal das berühmt-berüchtigte N-Wort verwendet, sondern statt "of colour" seine Schauspielkollegen als "coloured" bezeichnet, was ihm als Abwertung ausgelegt wurde.

Bringt Stigmatisierungspolitik den Rechten mehr als sie ihnen schadet?

Insbesondere bildungsfernen Schichten verlangen diese an bildungsbürgerlichen Umgangsformen orientierten Praxen, die einiges an Wissen voraussetzen wie man Dinge auszudrücken hat, eine hohe Anpassungsleistung ab, welche dazu führt, dass diese als Elitenphänomen wahrgenommen werden, was wiederum an die Erzählung von "Wir gegen die da oben" der Rechtspopulisten anschlussfähig ist.

Und auch wenn es in Deutschland keine staatliche Zensur gibt, so müssen doch die Umfragen zur gefühlten Meinungsfreiheit aufrütteln, die von einem Höchststand der gefühlten Meinungsfreiheit in den 1990ern zu einem Tief geführt haben, in dem 44 Prozent der Menschen angeben, "besser vorsichtig" zu sein bei dem, was man sagt. Gerade Menschen, die ihren Lebensunterhalt eben nicht mit Sprache, sondern mit ihren Händen verdienen, kann dies gehörig verunsichern. So äußern Leo, Steinbeis und Zorn in ihrem Spiegel-Bestseller "Mit Rechten reden" die Vermutung, dass Stigmatisierungspolitik am Ende in Summe den Rechten mehr bringt als sie ihnen schadet.

Auch in Deutschland wenden sich die Arbeiter und ökonomisch Schwächeren in Scharen von linken Parteien ab, die dank identitätspolitischer Praxen zunehmend als Elitenprojekt gut gebildeter und ökonomisch abgesicherter Milieus wahrgenommen werden. Die Wählerschaft der Grünen gehört zum Beispiel neben derjenigen der FDP, die schon länger als "Partei der Besserverdiener" bekannt ist, im Schnitt zu den einkommensstärksten Haushalten und in den USA haben Wähler der Demokraten inzwischen im Schnitt ein höheres Einkommen als die Wähler der Republikaner.

So verlieren identitätspolitisch agierende Parteien am Ende auch noch die Minderheiten, die sie zu vertreten vorgeben, da diejenigen, die behaupten für diese Minderheiten zu sprechen, eben auch vornehmlich aus den gebildeten und ökonomisch abgesicherten Schichten stammen und es somit kein Wunder ist, wenn diese Milieus die materielle Komponente von Minderheitenpolitik zu Gunsten symbolischer Inklusion aus den Augen verlieren. Eine These, die im aktuellen Buch des Soziologen Musa al-Gharbi für die USA ausführlich beleuchtet wird.

Für Deutschland beschreiben der Sozialwissenschaftler Holger Marcks und der Historiker Felix Zimmermann in ihrem Online-Buch "Ein sozialrepublikanisches Panorama" Vergleichbares und auch der Spiegel-Bestseller-Autor Philipp Hübl schlägt mit seinem neuen Buch "Moralspektakel" in eine ähnliche Kerbe.

Wer den Rechtspopulisten nicht in die Karten spielen möchte, sollte mindestens einmal aufhören, Kritik an Identitätspolitik, so wie sie auch hier geäußert wurde, per se in die rechte Ecke zu stellen und sich inhaltlich auf die genannten Punkte einlassen. Noch besser wäre es, man würde auch die eigenen Inhalte und Praxen auf den Prüfstand stellen, denn eine historische Machtperspektive scheint die politisch radikale und extreme Rechte immer nur dann zu haben, wenn sie es schafft, beträchtliche Teile der unteren Klassen auf ihre Seite zu ziehen.

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