Abbé Pierre galt als der berühmteste Geistliche Frankreichs. Seine Popularität wurde zeitweise mit der von Mutter Teresa verglichen. Seit dem Sommer 2024 bringen Enthüllungen immer wieder sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen ans Licht, für die er verantwortlich gewesen sein soll. Dabei zeigt sich einmal mehr das bekannte Muster vieler kirchlicher Missbrauchsskandale.
Unermüdlich kümmerte er sich ab 1949 um Obdachlose und gründete die Wohltätigkeitsorganisation Emmaus. Diese Stiftung ist heute in 39 Ländern tätig, um Menschen in Not Wohnungen und Arbeitsplätze zu vermitteln. Abbé Pierre, der im Zweiten Weltkrieg der Résistance angehörte, hatte in Frankreich geradezu den Status eines Nationalheiligen. Staatspräsident Jacques Chirac rühmte den 2007 verstorbenen Armenpriester als "Frankreichs Gewissen und Inkarnation der Güte". Obwohl Abbé Pierre schon lange als notorischer Grapscher berüchtigt war, wurde er von der katholischen Kirche als Franz von Assisi des 20. Jahrhunderts verehrt und genoss den Ruf eines Helfers, der sich selbstlos in den Dienst der Armen stellte.
Inszenierte Heiligkeit
Zwar gab es skeptische Stimmen, wie die des Philosophen Roland Barthes, der dem Geistlichen schon 1957 ein geradezu orakelhaftes Kapitel in seinen "Mythen des Alltags" widmete. Barthes sprach vom "Kramladen der Heiligkeit" und kritisierte das inszenierte Auftreten des Priesters mit Lammfelljacke und Pilgerstock als oberflächliche "Attribute der Güte": "Ich bin beunruhigt über eine Gesellschaft, die so gierig die Zurschaustellung der Nächstenliebe konsumiert, dass sie darüber vergisst, sich Fragen über die Konsequenzen, ihren Gebrauch und ihre Grenzen zu stellen."
Im Juli 2024 brachten Enthüllungen mehr als zwei Dutzend sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen ans Licht, für die Abbé Pierre verantwortlich gewesen sein soll. Die französische Öffentlichkeit reagierte mit Entsetzen. Zwei Monate später wurden weitere Straftaten publik, die Henri Grouès, wie Abbé Pierre mit bürgerlichem Namen hieß, in den USA, Bangladesch, Marokko, Belgien und der Schweiz begangen haben soll. Das Andenken des Abbé Pierre war – symbolisch wie buchstäblich – zerstört, Statuen von ihm wurden in mehreren Städten vom Sockel gestürzt. Der Künstler James Colomina entwarf eine Skulptur, die den liegenden Abbé unter einem Leichentuch mit hoch aufragendem erigierten Penis darstellte: "Es liegt an der Gesellschaft, den Schleier zu lüften, um endlich zu sehen, was unter jahrzehntelangem Schweigen begraben liegt."
Die Straftaten des Armenpriesters erstreckten sich über rund fünf Jahrzehnte, mindestens eine Frau war zum Zeitpunkt des sexuellen Missbrauchs minderjährig. Schockierend ist das bekannte Muster vieler kirchlicher Missbrauchsskandale: Bereits seit den 1950er Jahren waren französische Bischöfe und führende Vertreter der Emmaus-Stiftung über die Vorwürfe gegen den Geistlichen informiert, sie griffen jedoch nicht ein. Stattdessen schützten sie den Abbé und machten sich so zu Mittätern. Einzig ein Aufenthalt in einer Schweizer Klinik zur Behandlung seiner "Lüsternheit" wurde initiiert – eine Maßnahme, die sich jedoch als wirkungslos erweisen sollte.
Ein bedrohliches Raubtier
Anfang dieses Monats wurden neun weitere Missbrauchsfälle bekannt. Die Zeitung Le Parisien, die die Vorfälle zuerst veröffentliche, zitierte den Präsidenten von Emmaus France, Tarek Daher, der Abbé Pierre als Manipulator und "bedrohliches Raubtier" beschrieb, "der sein ganzes Leben lang gewütet hat". Die Anschuldigungen stammen von Familienmitgliedern, Hotelangestellten, Krankenhauspflegerinnen und Flugbegleiterinnen. Neben inzestuösen Übergriffen durch den Geistlichen berichteten Zeugen auch von der Vergewaltigung eines zehnjährigen Jungen. Im Schlafsaal eines Kirchenfreizeitlagers verging sich Abbé Pierre an Schutzbefohlenen, die er eindringlich warnte: "Er sagte mir, dass er sehr mächtig sei, dass die Leute ihn liebten und dass mir niemand glauben würde, falls ich sprechen würde. Wenn ich es dennoch täte, würde ich große Probleme bekommen."
Die Enthüllungen werfen ein düsteres Licht auf das moralische Versagen der katholischen Kirche und der Emmaus-Gesellschaft, aus deren Archiven immer wieder neue Geheimnisse an die Öffentlichkeit dringen. Erst nachdem die letzten Zeugenaussagen veröffentlicht wurden und eine unabhängige Expertenkommission das omertàhafte Schweigen, das die einstige Ikone umgeben hat, beleuchten und den Fall aufklären soll, reagierte Éric de Moulins-Beaufort, der Erzbischof von Reims: Am vergangenen Freitag erklärte er als Vorsitzender der Französischen Bischofskonferenz die Justiz eingeschaltet zu haben, so dass "weitere Opfer oder mögliche Komplizen" des Abbé ermittelt werden könnten.
Nicht nur in Frankreich wurde das Statement des Erzbischofs als eine – viel zu – späte Reaktion gewertet. Mühsam versucht Moulins-Beaufort, die eigene Verantwortung zu kaschieren und den schweren Imageschaden für seine Kirche einzugrenzen, während die Opfer des lüsternen Abbés durch das dröhnende Schweigen der katholischen Institutionen jahrzehntelang im Stich gelassen wurden.