Deutschland Deine Kinder (10)

 

Die Folge der Schläge waren Striemen. Manchmal bluteten sie auch. Das war sehr schmerzhaft. Das Muster der Strumpfhose, die Bettwäsche, das Nachthemd bereitete Schmerzen an den Beinen. Man konnte nicht richtig sitzen, das Liegen nachts im Bett war schmerzhaft. Eigentlich war man immer damit beschäftigt, eine Position zu finden, die den Schmerz vermeiden half. Ich konnte meinen eigenen Körper manchmal nicht mehr ertragen. Manchmal fühle ich heute noch diese Schmerzen bis hinunter zur Kniekehle.

Kinder, die Trinkverbot hatten, versuchten heimlich Wasser zu trinken. Alfons wurde erwischt, die Erzieherin schlug ihm von hinten mit der Hand auf seinen Hinterkopf, während er vom Wasserhahn trank. Alfons blutete aus dem Mund, ein Schneidezahn wackelte nach dem Schlag. Ein Mädchen trank aus Verzweiflung vor Durst nachts aus der Kloschüssel. Hier war der Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Doch auch sie wurde erwischt und bekam Prügel.

Die Zwei- bis Sechsjährigen mussten mittags „Kopfauflegen“. Mittagsschlaf im Sitzen. Einmal habe ich es gewagt, den Kopf zu heben. Mein Kopf wurde zur Strafe an den Haaren hochgerissen und mit einem heftigen Schlag auf den Tisch geknallt. Oft wurden ehemalige Heimkinder geholt, um auf uns aufzupassen.

Der Spaziergang der „Kleinen“ fand im Gänsemarsch statt. Wir hielten uns alle an einem Seil fest. Wer aus der Reihe tanzte, bekam von der Nonne mit der Kordel, die an der Kutte befestigt war, einen Schlag auf die Beine. Im Winter, wenn die Haut kalt war, schmerzte es ganz besonders schlimm.

Essensverweigerer bekamen „Tatzen“ mit dem Kochlöffel auf den Handrücken, auf den Kopf oder den Mund, um das Zuführen von oft fettem, ungenießbarem Fleisch voranzutreiben. Das Fleisch war oft so fettig, dass es lange am Gaumen klebte.

Wer sich übergeben musste, durfte das eigene Erbrochene wieder zu sich nehmen. Ja, Erbrochenes musste wieder gegessen werden. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal nachts viele Stunden vor meinem kalten stinkenden Erbrochenen saß. Ich weiß heute nicht mehr, ob ich es gegessen habe.

Beispielbild
Marsha mit ihrem Bruder
Ich erlebte viele Gewalttaten nicht nur am eigenen Leib sondern mit an anderen Kindern. Mein damals dreijähriger Bruder Eugen wurde von zwei älteren Heimkindern festgehalten, während ein Dritter meinem kleinen Bruder mit der Faust ins Gesicht schlug – und das nicht nur einmal und auch im Beisein des Direktors Max Auer. Mein Bruder rief nach mir um Hilfe. Ich war damals sechs Jahre alt. Das war eines der schlimmsten Erlebnisse für mich während meiner Heimzeit. Ich konnte meinem kleinen Bruder nicht helfen, ich hatte auch schreckliche Angst. 1980 verunglückte mein Bruder tödlich.

Habt ihr Erwachsenen davon erzählt?

Das hätten wir uns nicht getraut! Man wusste nicht, wer Freund ist oder Feind. Herr Max Auer hatte gute Kontakte zu Lehrern in der städtischen Schule, die wir besuchten. Mit 15 Jahren, nach der Umsiedlung in ein geschlossenes Heim, weit weg von meinen Geschwistern, wollte ich den Direktor wegen der Misshandlungen anzeigen. Man riet mir, die Sache „auf sich beruhen“ zu lassen.

Wurde Dir sexuell Gewalt angetan?

Ja. Mit fünf und elf Jahren. Beide waren ebenfalls Heimkinder. Der erste wurde nachts auf frischer Tat ertappt und durfte das Heim auch nach seiner Entlassung weiterhin besuchen. Vor kurzem habe ich erfahren, dass er während seiner Besuche wiederholt nicht nur an mir sondern auch an anderen Kindern sexuelle Gewalt ausgeübt hat.

Sexuelle Übergriffe gab es häufig. Es waren schlimme Erlebnisse, die ich größtenteils verdrängte. Aber, ich war damit nicht allein. Wir waren viele und doch war jeder allein. Niemand von uns hätte sich getraut, anderen davon zu erzählen, denn wir wussten ja, dass es „Sünde“ war, für die wir dann vom Direktor mit Stockschlägen und anderen Strafen belegt würden.

Beispielbild
Marsha mit Bruder und anderem Heimkind
Musstet ihr Kinder im Heim Arbeit verrichten?

Ja, wir Heimkinder ersetzten überwiegend Reinigungspersonal und Küchenhilfen. Während wir unseren Küchendienst verrichteten, genossen die „Angestellten“ im Angestelltenzimmer nebenan leckeres Essen. Für die Erzieherinnen wurde separat gekocht. Die Angestellten hatten grundsätzlich andere Mahlzeiten als wir Kinder. Unsere Pflicht zur Arbeit ging weit über das hinaus, was an Mithilfe im Haushalt üblich war. Waren Fußböden nicht nach den Vorstellungen der Erzieherin geputzt, wurde das Schmutzwasser wieder ausgeleert, man musste von vorn beginnen.

Für die ortsansässige Molkerei pflückten wir Kinder Eimerweise Johannisbeeren zur Joghurt-Herstellung. Für das Beerenpflücken haben wir einmal von der Molkerei Joghurt bekommen, den wir in der Heimküche abgeben mussten. Heimkinder wurden auch in der Druckerei zum Einlegen von Broschüren in die Zeitschrift „Monika“ eingesetzt. Entgelt für Dienstleistungen mussten beim Direktor abgegeben werden.