Notizen aus Russland

Erstes Bulletin über Pseudowissenschaften veröffentlicht.

Eine von der Russischen Akademie

der Wissenschaften geschaffene „Kommission gegen Pseudowissenschaften und die Verfälschung wissenschaftlicher Forschungen" hat ihr erstes Bulletin herausgegeben. Es trägt den Titel „Zum Schutz der Wissenschaft" und enthält Artikel, Rezensionen und Mitteilungen namhafter russischer Wissenschaftler. Die erste Ausgabe befasst sich unter anderem mit Problemen des Bildungswesens, der Patentierung fragwürdiger Heilmethoden, der grassierenden Verbreitung von Astrologie, Korruption und dem erstarkenden Obskurantismus. Das Bulletin soll halbjährlich erscheinen.

Zum Problem der im heutigen Russland verbreiteten Heils- und Irrlehren äußerten sich auch Petersburger Wissenschaftler, deren Thesen in das Vorwort des Sammelbandes aufgenommen wurden. Darin heißt es: „Das gegenwärtig zu beobachtende Erstarken der Scharlatanerie hat spezifische Gründe. Eine Ursache hierfür ist der wilde russische Kapitalismus, der keine Ehre und kein Gewissen, sondern einzig und allein bares Geld kennt. Weitere Gründe sind die Überbleibsel der sowjetischen Mentalität mit ihrem bedingungslosen Glauben an die Medien, der beschädigte Ruf der russischen Wissenschaft und schließlich das weltanschauliche Vakuum, welches im Ergebnis der Krise der sowjetischen Ideologie entstand. Ein Vakuum, in das eine bunte Masse hineinströmte - Scharlatane, Heiler, „Gurus", „Retter" jedweder Couleur oder einfach Gauner, die sich etwas davon erhoffen, Menschen, die ihre Orientierung und den Glauben an sich selbst verloren haben, irgendein Märchen, eine Lüge oder einen Betrug aufzutischen.

Vor dem Hintergrund des Irrationalismus, der heute Russland beherrscht, wird klar, welch ungeheuerlichen Fehler die gegenwärtige „herrschende Klasse" begangen hat, als sie die Bildung, Wissenschaft und Kultur als „nicht-marktwirtschaftliche", „unrentable" und im Vergleich mit Erdgas- und Erdöl-Pipelines „wertlose" Faktoren sich selbst mit ihren Problemen überlassen hat.

Der junge russische Staat überwindet langsam die Formation des Kapitalismus der Nomenklatura und Banditen. Doch schon gibt es eine neue Plage. Die jetzt auftauchenden Reformer haben es auf die Reformierung von Wissenschaft, Kultur und Bildung abgesehen. Doch sind sie sich dessen bewusst, das ihre - gelinde gesagt - merkwürdigen und unverständlichen Reformen, die sie versuchen durchzusetzen, zu einem sinkenden Niveau in Bildung und Kultur führen?" Mehr in den <Originalartikeln (1)> (Russisch), <Artikel (2)> (Russisch) und <Artikel (3)> (Russisch).

Akademiker Ginsburg fordert Unterricht über Religionen

In einem Artikel vom 20.02.2007 für die russische Wochenzeitung „Rossijskaja Gaseta" befasst sich Witali Ginsburg, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und Nobelpreisträger für Physik, mit der in Russland kontrovers geführten Frage der Vermittlung religiöser Themen an Russlands Schulen.

Als Reaktion auf das von der Russisch-Orthodoxen Kirche geförderte neue Unterrichtsfach „Grundlagen der orthodoxen Kultur" - <hpd berichtete> -, das nach Ginsburgs Auffassung nichts anderes als das „Gottesgesetz" vermittele, spricht sich der Gelehrte für die Einführung eines Schulfaches „Religionswissenschaft" oder „Geschichte der Weltreligionen" aus: „Selbst, wenn man die Bibel nicht als heiliges Buch betrachtet, ergibt sich die Notwendigkeit eines solchen Fachs allein schon aus der Tatsache, dass diese Schrift zweifellos ein herausragendes künstlerisches und historisches Denkmal ist." Laut Ginsburg gäbe es bereits ein für die Schulen verfasstes Lehrbuch „Geschichte der Weltreligionen", das jedoch immer noch nicht gedruckt worden ist, da, soweit er informiert sei, die Russisch-Orthodoxe Kirche Einwände gegen das Unterrichtsmaterial habe. <Originalartikel> (Russisch)

Kirche und Medien

Oberpriester Wsewolod Tschaplin, stellvertretender Vorsitzender der Abteilung für kirchliche Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, erklärte Mitte Februar, dass die orthodoxe Kirche in den russischen Massenmedien derart stark präsent sei, wie es sich weitaus reichere und zahlenmäßig größere Kirchen im Westen nur wünschen würden. Seinen Worten nach schreibe die Mehrzahl der überregionalen Zeitungen die „Wahrheit über die Kirche und positiv über die Kirche". So hielten es auch die weltlichen Fernsehsender, die kirchlichen Themen weitaus mehr Freiraum gewähren würden als beispielsweise im traditionell katholischen Italien.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche verfüge zudem über fünf eigene christliche Kabelsender sowie eine Vielzahl von Internetauftritten und Radioprogrammen. In jeder Region werde etwas Kirchliches über Funk und Fernsehen gesendet. Unabhängig von Aufmachung und Stil eines Beitrags fänden religiöse Medien immer dann Anklang, wenn sie „brennende Fragen des modernen Lebens" behandelten. Auf einer Pressekonferenz versicherte Tschaplin seinen rechtgläubigen Journalistenkollegen: „Ein normaler russischer junger Mensch will Herr über sein Schicksal sein und die Geschicke der Welt mitbestimmen ... Und egal, ob Sie ihn mit Rap, Rave, Klassik oder einer akademisch selbst trockensten Predigt ansprechen, Sie werden dennoch erhört." <Originalartikel> (Russisch)

Kirche und Armee

Zum 90-jährigen Bestehen des Systems der Militärausbildung in Russland betonte das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) Alexij II. die wichtige Rolle seiner Institution bei der Festigung des Patriotismus und der geistlich-sittlichen Traditionen in der Armee. Im Militärdienst zeige sich nach Auffassung des Patriarchen der Geist des Evangeliums, wonach es keine größere Liebe gäbe als jene, die eigene Seele für die seiner Freunde zu opfern.

Das Kirchenoberhaupt zeigte sich erfreut, dass in Folge eines zwischen der ROK und der russischen Armee unterzeichneten Abkommens die Wiedergeburt ruhmreicher patriotischer Traditionen gefördert werde und, dass neue Gotteshäuser und Kapellen auf dem Gelände militärischer Hochschulen und Ausbildungseinrichtungen entstünden. Somit erhielten die Armeeangehörigen, Mitarbeiter dieser Einrichtungen und deren Familienangehörige die Möglichkeit einer geistlichen Ausbildung mit Vorlesungen und fakultativen Kursen zu den „Grundlagen der orthodoxen Kultur".

Alexii II. wünschte dem Oberkommandierenden der Streitkräfte W. Michailow, allen Offizieren, Veteranen, Kämpfern und Mitarbeitern der militärischen Ausbildungseinrichtungen „beste Gesundheit, gutes Gelingen, ein langes Leben und Beistand bei den Angelegenheiten zum Ruhme unseres Vaterlandes". <Originalartikel> (Russisch)

Kirche und Recht

Der stellvertretende Vorsitzende des Duma-Komitees für die Angelegenheiten gesellschaftlicher Vereinigungen und religiöser Organisationen Alexander Tschujew will die Strafen für Verbrechen gegen Vertreter der Geistlichkeit verschärfen. Am 09.02.2007 legte er in der Unterkammer des Parlaments ein Gesetzesvorhaben vor, das Korrekturen im Strafrecht vorsehe und solche Straftaten zu den Gesetzesbrüchen mit erschwerenden Umständen zähle.

„Das Gesetzesvorhaben stellt eindeutig klar, dass Verpflichtungen von Geistlichen die Erfüllung einer gesellschaftlichen Pflicht darstellen. Daher sind Delikte gegen Vertreter der Geistlichkeit als Verbrechen zu betrachten, die im Zusammenhang mit einer Dienstpflicht oder der Erfüllung einer gesellschaftlichen Pflicht der betreffenden Person und damit unter erschwerenden Umständen zu betrachten sind", schreibt der Initiator in einem Kommentar zu seinem Gesetzesentwurf.

Gegenwärtig werden in Russland Verbrechen gegen Geistliche als Delikte gegenüber Privatpersonen geahndet. <Originalartikel> (Russisch)

Kirche und Universitäten

Der interkonfessionelle Rat für Theologie wird in Zusammenarbeit mit staatlichen und gesellschaftlichen Vertretern zwei umfangreiche Programme für die theologische Ausbildung und die theologische Wissenschaft in Russland erarbeiten. Dieser Beschluss wurde Anfang Februar an der Staatlichen Universität in Tula bei einem Runden Tisch zum Thema „Die Rolle der theologischen Ausbildung und Wissenschaft bei der Entwicklung der russischen Bürgergesellschaft" gefasst.

In einer angenommenen Resolution heißt es: „Die Theologie mit der ihr eigenen Struktur, Begrifflichkeit, Axiomen, Prinzipien und Methoden stellt neben der Geschichte, Philologie und Philosophie eine der Grundrichtungen fundamentalen geisteswissenschaftlichen Wissens dar."
Derzeit wird der Studiengang Theologie an 36 Hochschulen des Landes, darunter 21 staatlichen angeboten. Es gibt jedoch keine staatlich anerkannten akademischen Titel für das Fach Theologie. <Originalartikel> (Russisch)

Vernunft hat in Estland im Streit um Sowjet-Denkmäler gesiegt

Die Erklärung des estnischen Präsidenten Toomas Hendrik Ilves, dass „Gesetz über den Abbruch verbotener Bauten" - <hpd berichtete> - nicht zu unterstützen, zeugt davon, dass in der Republik die Vernunft gesiegt hat.

So wurde die Entscheidung des estnischen Staatschefs über die mögliche Demontage des Denkmals der sowjetischen Kriegsbefreier vom stellvertretenden Vorsitzenden der Duma von der Fraktion „Einheitliches Russland" Wladimir Pechtin kommentiert.

Er unterstrich, dass die absolute Mehrheit der Bewohner des Planeten die Veteranen des Zweiten Weltkriegs achten würde. Das Verhältnis Estlands zu den sowjetischen Kriegsbefreiern sei nicht nur ein Versuch der Geschichtsumschreibung, sondern auch ein Akt der unverhüllten Missachtung überlebender Kriegsveteranen und der Millionen von Soldaten, die ihr Leben für den Sieg und den Frieden geopfert haben.
Zur Position seiner estnischen Kollegen erinnerte Pechtin an einen in Russland bekannten Ausspruch: „Die Lüge in der Deutung der Vergangenheit führt zum Misserfolg in der Gegenwart und bereitet Katastrophen in der Zukunft vor." <Originalartikel> (Deutsch)

Umfrage 1: Russen über Europa und Demokratie

Die meisten Russen (71 Prozent) sehen sich nicht als Europäer und 65 Prozent können den Begriff Demokratie kaum definieren. So lauten die Ergebnisse einer Umfrage darüber, wie die Russen die europäischen Werte auffassen. Sie wurde vom Russland-EU-Zentrum und dem Lewada-Zentrum durchgeführt.

Unter den 1.600 Befragten ist sich fast die Hälfte sicher, dass die EU eine Bedrohung für die finanzielle und industrielle Unabhängigkeit des Landes darstelle. Ein Drittel der Befragten sehen Europa als Nachbarn und Partner, mit dem Russland langzeitige Beziehungen ausbauen und entfalten muss.

Etwa 30 Prozent der Umfrage-Teilnehmer sind der Meinung, dass die westliche Demokratie für Russland nicht tauge, und 27 Prozent glauben, dass es so etwas in Russland nie gab. 30 Prozent der Befragten bezeichneten das heutige Russland hingegen als demokratisches Land. Etwa 25 Prozent der Befragten sind mit dem existierenden System zufrieden.

Die überwältigende Mehrheit der Russen (82 Prozent) spürt keine Verantwortung dafür, was im Lande geschieht. Noch mehr, 94 Prozent, glauben, dass sie wenig oder gar keinen Einfluss darauf ausüben, was in Russland geschieht.

Die Ergebnisse der Studie sind bereits in Brüssel, München und Stockholm präsentiert worden. Das Russland-EU-Zentrum will die Ergebnisse auch in Paris und Warschau vorlegen. <Originalartikel> (Deutsch)

Umfrage 2: Russen über Schwule und Lesben

In einem Beitrag für den Sender „Echo Moskau" sprach der Generaldirektor des Allrussischen Zentrums zur Erforschung der gesellschaftlichen Meinung, Waleri Fjodorow, am 14.02.2007 über die Ergebnisse einer Umfrage zu verschiedenen gesellschaftlichen Erscheinungen, darunter zur Haltung der russischen Bürger gegenüber Homosexuellen.

19 % der Befragten sind der Auffassung, dass gleichgeschlechtliche Beziehungen bis hin zu Freiheitsstrafen gesetzlich verfolgt werden müssten. 12 % meinen, Homosexualität solle mit Geldstrafen geahndet werden, 18 % treten für eine gesellschaftliche Ächtung solcher Beziehungen ein und 34 % der Umfrage-Teilnehmer meinten, man solle Schwule in Ruhe lassen und ihnen keine weitere Beachtung lassen.

Auf die Frage „Welches gesellschaftliche Benehmen halten Sie für moralisch vertretbar?" erklärten 56 % der Teilnehmer in Bezug auf Homosexualität, dass diese niemals gerechtfertigt werden dürfe, während 27 % sie „mit Nachsicht" betrachten würden.

Fjodorow konstatierte, dass „unsere Gesellschaft eine gewisse Transformation der Ansichten und Werte durchlebt, doch diese Veränderung geschieht langsam und mit großen Problemen". In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, dass im Vergleich zu den aktuellen Ergebnissen bei einer analogen Umfrage 2005 sogar 49 % der Russen meinten, man solle Schwule in Ruhe lassen. Die Transformation der Ansichten erfolgt also nicht nur langsam, sondern auch widersprüchlich. <Originalartikel> (Russisch)

 

Tibor Vogelsang