Boualem Sansals frühe Streitschrift

Das Gefahrenpotential des Islamismus

moschee_algier.jpg

Moschee in Algier
Moschee in Algier

In Algerien wurde er gerade zu einer fünfjährigen Haftstrafe aufgrund einer bloßen Meinungsäußerung verurteilt. Boualem Sansal gehört dort zu den kritischen Schriftstellern, seine Einwände beziehen sich nicht nur auf den Islam und den Islamismus, sondern auf alle Formen des religiösen Glaubens. Davon zeugt eine ältere Streitschrift.

Ein algerisches Gericht verurteilte Boualem Sansal jüngst zu einer Haftstrafe von fünf Jahren. Der algerisch-französische Schriftsteller hatte sich über Grenzstreitigkeiten geäußert. Für ihn gehören Algeriens östliche Gebiete historisch zu Marokko. Diese Aussage galt als Gefährdung der territorialen Integrität des Landes, was nach Artikel 87 des algerischen Strafrechts verboten ist. Damit wurde eine längere Haftstrafe aufgrund einer bloßen Meinungsäußerung verhängt, noch dazu gegen einen Achtzigjährigen mit Krebserkrankung.

Darüber hinausgehende Behauptungen hielten einer kritischen Überprüfung nicht stand, sodass hier von einer mehr als nur zweifelhaften Entscheidung des Gerichts ausgegangen werden kann. Sie ist gegen einen Autor gerichtet, der sich auch kritisch zu historischen Detailfragen äußerte. Etwa dazu, dass bei der Entkolonialisierung des Landes frühere deutsche SS-Männer mitwirkten, was auf die Front de Libération Nationale (FLN = Nationale Befreiungsfront) als heutige Regierungspartei nicht nur einen Schatten wirft.

Darauf bezogene Bekundungen hatten Sansal bereits aufgrund seines literarischen Werks unbeliebt gemacht. Zumindest in Algerien stieß er immer wieder auf offiziellen Unmut. In Deutschland erhielt er demgegenüber 2011 den renommierten Friedenspreis, der vom Deutschen Buchhandel jährlich an Schriftsteller vergeben wird.

Boualem Sansal bei der Leipziger Buchmesse 2014, Foto: © Amrei-Marie, Wikipedia,  CC BY-SA 4.0
Boualem Sansal bei der Leipziger Buchmesse 2014, Foto: © Amrei-Marie, Wikipedia, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Aber auch hierzulande gab es bezüglich seiner Meinungsfreiheit einige Probleme für Sansal, allerdings nicht durch den Staat, sondern bezogen auf eine Stiftung. Er hatte den Auftrag für ein Buch über Islamismus erhalten, worin sich auch viele kritische Aussagen zum Islam und die damit einhergehenden Islamismusbezüge fanden. Da diese Bekundungen missfielen, kam es zunächst nicht zu einer Veröffentlichung. Sansals eigentlicher deutscher Verlag sprang ein, und so erschien dann 2013 doch "Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert". Bereits zuvor hatte der Autor seine kritische Distanz zu jeder Form von Religion bekundet, dabei aber insbesondere den Islam aufgrund von fanatischen Komponenten kritisiert.

Rückblick auf die Streitschrift von 2013

Auch wenn es offenbar andere Gründe für Sansals aktuelle Verurteilung gibt, soll doch ein Blick auf die Inhalte der früheren Streitschrift geworfen werden. Der Autor macht gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass es nicht um eine akademische Abhandlung, sondern um seine subjektive Sicht geht. Tatsächlich ist der Essay mitunter nicht wirklich systematisch oder trennscharf bei den Positionierungen, was selbst für die Differenzierung von Islam und Islamismus gilt. Zunächst ist dann bei Sansal das Thema, dass auch in Algerien der Aufstieg des Islamismus ignoriert wurde. Er habe sich nach der Entkolonialisierung über Märkte und Moscheen verbreitet, die Herzen der Menschen seien durch die Predigten erobert worden. Insbesondere fällt der kritische Blick immer wieder auf die Muslimbruderschaft, wobei auch ohne genaue Erläuterung von einem "alten weltumspannenden Plan" (S. 18) die Rede ist. Es gibt durchaus einschlägige Konzepte, die bei Durchsuchungen gefunden wurden. Nur bleibt bei Sansal unklar, welche möglichen Strategiepapiere er genau meint.

Eine Differenzierung wird dann zwischen dem "gemäßigten" und "radikalen" Islamismus vorgenommen, auch hier leider ohne genaue Erläuterung mit eigentlich wichtigen Hintergrundinformationen. Bestätigungen dafür liefert indessen die existente Fachliteratur zur Muslimbruderschaft, worauf es aber keine Hinweise von Sansal gibt. Danach geht es um seinen Blick auf die islamische Welt: Es bestünden unterschiedliche Denkschulen, fanatische wie tolerante. Der Geltungsbereich der Scharia ist ebenso ein Thema wie deren Verbindlichkeitsanspruch. Es heißt dann gar: "Nebenbei bemerkt ist es auch in Europa mit der freien Meinungsäußerung nicht weit her, sobald es um den Islam geht" (S. 47). In dieser Pauschalität ist das Statement sicherlich nicht stimmig, allenfalls bezogen auf pauschale "Islamophobie"-Stereotype gegenüber skeptischen Werturteilen. Immer wenn man kritisch über den Islam sprechen wolle, weiche man auf den Islamismus aus, so die These. Kühne Kritik am Islam finde demgegenüber fast nur noch in muslimischen Ländern selbst statt.

Auch bei anderen Aussagen neigt Sansal häufig zu Überspitzungen, wobei nie der wahre Kern der jeweiligen Positionierungen verkannt werden sollte. So heißt es etwa pauschal über den Islamismus: "Sein Ziel ist die Kontrolle über die Gesellschaft und die Machtergreifung im Staate" (S. 51). So unrealistisch dieses Ansinnen für die westlichen Länder ist, so stark ist die islamistische Ideologie von derartigen Inhalten und Strukturen geprägt. Der Autor listet dann eine Reihe von Punkten auf, welche als Analysekriterien für eine unter Muslimen eventuell stattfindende Radikalisierung genutzt werden können. Er blickt auch auf die gesellschaftlichen Bereiche, die für den Islamismus als treibende Kräfte ausgemacht werden. Es gehe nicht nur um einschlägige Gruppen, sondern auch um intellektuelle Eliten, bestimmte Medien, die muslimischen Staaten, aber auch die arabische Straße. Derartige Ausführungen machen den Erkenntniswert der Streitschrift aus. Nicht nur in Gedanken an den Inhaftierten lohnt die differenzierte Lektüre dieses bislang eher ignorierten Werks.

Hinweise:

Über die Hintergründe der seinerzeitigen Nicht-Veröffentlichung durch eine deutsche Stiftung informiert Matthias Küntzel: Die Schatten verscheuchen.

Der Autor des vorstehenden Beitrags veröffentlichte über einen dystopischen Roman von Sansal einen ausführlichen Text:
Armin Pfahl-Traughber, Der Islamismus als Totalitarismus der Zukunft. Eine Analyse anhand der Dystopie "2084 – Das Ende der Welt" von Boualem Sansal, in: Hendrik Hansen/Armin Pfahl-Traughber (Hrsg.), Jahrbuch für Extremismus- und Terrorismusforschung 2019/20 (II), Brühl 2020, S. 101-126.
Es geht in dem genannten Buch um die Darstellung einer möglichen zukünftigen islamistischen Herrschaftsordnung. Das benannte Handlungsjahr 2084 spielt erkennbar auf Orwells "1984" an. Vgl. Boualem Sansal, La fin du monde, Paris 2015, deutsch: 2084. Das Ende der Welt, Gifkendorf 2015.

Unterstützen Sie uns bei Steady!