Die Passionsgeschichten der biblischen Evangelien

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Mit der Grablegung kommen die biblischen Berichte über die Passion Jesu zum Abschluss. Das Gemälde aus dem 19. Jahrhundert stammt von Peter von Cornelius.
Grablegung

Historische Hauptursache des seit dem 7. Oktober 2023 wieder stärker diskutierten Antisemitismus ist die im Neuen Testament begründete religiöse Judenfeindschaft, auf der der verhängnisvolle rassische Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts und teilweise darüber hinaus aufbauen konnte. Am Beginn und im Zentrum der Erlösungsreligion Christentum stehen die neutestamentlichen Passionserzählungen. Sie sind im Detail weitgehend unbekannt und unverstanden. Das trägt mit zu dem traurigen Umstand bei, dass sogar der akademische Nachwuchs oft nicht in der Lage ist, zwischen dem unseligen Antisemitismus und der Kritik an der Regierung des Staats Israel zu unterscheiden.

Bedeutung der Passion Jesu Christi

Die Passion Jesu (von lat. passio: Leiden), wie dessen Leidensgeschichte von der Gefangennahme in Jerusalem bis zur Kreuzigung meist genannt wird, steht im religiösen Zentrum des christlichen Glaubens. Sie kulminiert in Jesu Kreuzestod, der nach allgemeiner christlicher Lehre die entscheidende Erlösungstat in der Menschheitsgeschichte gewesen sein soll. "Das Pascha [Pessach] -Mysterium des Kreuzes und der Auferstehung Christi ist das Herz der Frohbotschaft ... Im Erlösungstod seines Sohnes Jesus Christus ging der Heilsplan Gottes 'ein für allemal' in Erfüllung...", heißt es im katholischen Weltkatechismus von 1993 (Nr. 571). Eucharistie beziehungsweise Abendmahl als Vergegenwärtigung des stellvertretenden Sühneopfers Jesu stehen im Glaubensmittelpunkt. Daher ist von Interesse, ob beziehungsweise inwieweit in den Passionsgeschichten des Neuen Testaments (NT) plausibel ein historischer Kern gesehen werden kann, zumal sie in unauflösbarem Zusammenhang mit der 2000-jährigen religiösen Judenfeindschaft stehen. Gedacht wird der Leidensgeschichte Jesu in der Zeit vor Ostern. Eine siebenwöchige Fastenzeit bereitet auf folgende Festtage vor: Gründonnerstag (Erinnerung an die Stiftung des letzten Abendmahles), Karfreitag (Erinnerung an den Tod Jesu) und Ostern (Feier der Auferstehung). Die Woche vor Ostern wird Karwoche genannt. Sie beginnt mit dem Palmsonntag (Einzug in Jerusalem).

Grundproblematik der Passionserzählungen

Die Berichte aller vier Evangelien werfen Fragen auf, die zu den interessantesten des Neuen Testaments zählen. Alle Passionserzählungen weichen nicht nur vielfach (auch in wichtigen Punkten) voneinander ab, sondern zeichnen sich entgegen den historischen Verhältnissen eines brutal besetzten Landes durch eine erstaunlich prorömische Tendenz aus. Der Römer Pilatus, der Jesus kreuzigen ließ, wird möglichst Jesus-freundlich dargestellt, als habe er die Verurteilung selbst nicht gewollt. "Die Juden" hingegen, insbesondere die Volksmenge, werden als hasserfüllte Feinde Jesu gezeichnet, obwohl Jesus nur wenige Tage zuvor bei seinem Einzug in Jerusalem von der Volksmenge bejubelt worden war. Die Umstände der Zeit, in der die Passionsgeschichten entstanden, haben offensichtlich auf die Darstellung der Ereignisse eingewirkt.

Selbst das Markus-Evangelium als das älteste ist nach allgemeiner Ansicht erst nach der vollständigen Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahr 70 entstanden, also mehrere Jahrzehnte nach Jesu Kreuzigung. Bemerkenswert ist dabei folgender Umstand: Die prorömische und judenfeindliche Tendenz der Evangelien entsprach der damaligen Interessenlage der Christen im römischen Reich. In dem Großgemetzel nach der Eroberung Jerusalems kam auch der Großteil der Judenchristen (das Umfeld Jesu) um, die im Gegensatz zu der siegreichen Richtung des paulinischen Heidenchristentums die Göttlichkeit Jesu abgelehnt hatten. Dem entspricht die textliche Entwicklung des Neuen Testaments mit seiner allmählichen Vergottung Jesu, die für die Erlösung am Kreuz erforderlich erschien.

Einzelheiten

Bei Markus gehen der Passionsgeschichte (Mk 14-15) drei Weissagungen von Jesus selbst voraus, wonach Jesus nach Jerusalem geht, im Wissen, von den jüdischen Führern umgebracht zu werden (Mk 8,31; 9,31; 10,32-34). Demgemäß verurteilen laut Mk 14,53 mit 14,64 alle Hohepriester, Ältesten und Schriftgelehrten Jesus einstimmig wegen Gotteslästerung zum Tod und liefern ihn dem Prokurator Pilatus aus (Mk 15,1). Der erkennt Jesu Unschuld, beugt sich aber schließlich dem Zorn des Volkes, das von den Priestern aufgehetzt worden war (Mk 15,11-14). Alle jüdischen Gruppierungen sind somit für Jesu Kreuzigung verantwortlich. Diese Verantwortlichkeit wird in den zeitlich folgenden Passionserzählungen von Matthäus, Lukas und Johannes noch gesteigert.

Matthäus ergänzt die Markus-Erzählung durch den Judasverrat für dreißig Silberlinge. Im Gegensatz zu Judas bereuen die Hohepriester und Ältesten gar nichts (Mt 27,4). Neu ist auch Mt 27,19, wo die Frau des Pilatus von einem Traum berichtet, Jesus sei ein "Gerechter". Angesichts des blutdürstigen Volkes wäscht sich daraufhin Pilatus die Hände in Unschuld (Mt 27,24), wodurch die Schuld der Juden gesteigert erscheint. Bemerkenswert ist dabei, dass der heidnische Römer einen biblischen Entsühnungsritus (Dtn 21,6; Ps 26,6) vollzieht. Ins Exzessive steigert der Matthäus-Text die Schuld der Juden durch die nur bei ihm vorkommende Selbstverfluchung des jüdischen Volks: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" (Mt 27,25; siehe schon Mt 23,34-36). Dabei benutzt das auf Griechisch verfasste Neue Testament für "Volk" das Wort ochlos, mit dem sonst die Sonderstellung als auserwähltes Volk Israels bezeichnet wird. Damit haben die Juden ihre religiöse Vorzugsstellung eingebüßt. Kaum ein literarischer Satz der Weltgeschichte dürfte real so viel Elend und Mord verursacht haben: die Krone der im Katholizismus erst 1965 beendeten Gottesmördertheologie.

Auch Lukas hat gegenüber Markus Veränderungen vorgenommen. Laut Lk 23,2 f. wird Jesus vom Hohen Rat beschuldigt, das Volk vom Steuerzahlen abzuhalten und zu behaupten, der Messias und König zu sein. Auf die Verleumdung bezüglich der Steuerfrage (Lk 20,20 ff.) fiel Pilatus aber nicht herein. Einen Kreuzigungsbefehl gab er bei Lk nicht mehr, sondern die Juden führen die Tötung selbst aus (Lk 23,25 und 26 ff.), was in Lk 24,20 ausdrücklich bestätigt wird. Pilatus wird somit noch unschuldiger. An der gemeinsamen Schuld von jüdischer Obrigkeit und Volk besteht hier kein Zweifel (Lk 23,13 ff.).

Das Johannes-Evangelium ist besonders judenfeindlich. Nach Joh 8,44 hat Jesus gesagt: "Ihr habt den Teufel zum Vater, und die Begierden eures Vaters wollt ihr erfüllen …". Über 50 mal erscheinen die Juden bei Johannes als Jesu Gegner. Ständig trachten sie ihm nach dem Leben (z.B. Joh 7,1; 8,37, 10,31 f.). Der Kampf gegen die Juden war eines der Leitmotive des unbekannten Verfassers. Bei ihm ist lediglich von einer Befragung Jesu durch einen Hohepriester die Rede (Joh 18,19 ff.). Jesus wird an Pilatus ausgeliefert, damit er von diesem hingerichtet werde. Pilatus konnte aber wiederholt keine Schuld finden und zeigte sich sogar ängstlich (Joh 19,8) gegenüber der großen Volkswut. Er wird als Opfer der Anschuldigung dargestellt, sich im Fall der Freilassung Jesu gegen den Kaiser zu stellen (Joh 19,12 ff.). Im Gegensatz zu den synoptischen Evangelien wird die Vergottung Jesu fast abgeschlossen. Im Vergleich zu ihnen ist die Existenz des Menschen Jesus bei Johannes unterbelichtet. Die Vergottung passt viel besser zur behaupteten Versöhnungstat als Erlösung.1

Von den weiteren Ungereimtheiten der biblischen Erzählungen über die Passion Jesu sei zunächst die Barabbas-Episode2 herausgegriffen: Statt der möglichen Freilassung Jesu habe das Volk fanatisch dessen Kreuzigung und die Freilassung des Banditen Barabbas verlangt. Die Behauptung, die Juden hätten ein Wahlrecht auf Freilassung eines Verurteilten am Passahfest gehabt, ist unhistorisch. Nicht plausibel ist der kurzfristige Stimmungswandel des Volks vom Jubel über den Einzug Jesu in Jerusalem und die starke Unterstützung durch das Volk bei der "Tempelreinigung" zum mörderischen Hass nur wenige Tage später.

Klar legendär sind die Berichte über einen jüdischen Prozess Jesu vor dem Hohen Rat (Synhedrion), der nach Markus und Matthäus stattgefunden hat und bei Lukas angedeutet ist, bei Johannes jedoch nicht existiert. Denn die geschilderten Umstände hätten einer größeren Zahl von Prozessvorschriften des höchsten jüdischen Gerichts massiv widersprochen, wie etwa Weddig Fricke, Pinchas Lapide und Hyam Maccoby eingehend dargetan haben. Dazu Rudolf Augstein: "Je ungereimter die Berichte, desto dicker die Exegese." Interessant ist auch die Entwicklung der sogenannten letzten Worte Jesu. Bei Markus lauten sie verzweifelt und ungöttlich: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" (Mk 15,34) Daraus ist bei Johannes ein erhabenes "Es ist vollbracht" geworden (Joh 19,30).

Ein Kapitel für sich sind das Schicksal und die Wirkungsgeschichte des bei Markus noch nicht existierenden "Verräters" Judas, dessen geschilderter Verrat ja heilsgeschichtlich notwendig, also Bestandteil des göttlichen Plans war. Im Übrigen hat der biblische Judas seine Tat bitter bereut, aber noch heute ist "Judas der Verräter" in verschiedenen Formen Teil unserer Sprache, und immer noch werden (zumindest in Bayern) an etlichen Orten am Karsamstag oder in der Osternacht trotz Kritik Puppen verbrannt, die Judas symbolisieren.

Historisches Resultat in Thesenform

Passionsspiel in der Via Dolorosa, Jerusalem, 2005; Foto: © Daniel Maleck Lewy, WIkipedia, CC BY-SA 3.0
Passionsspiel in der Via Dolorosa, Jerusalem, 2005; Foto: © Daniel Maleck Lewy, Wikipedia; Lizenz: CC BY-SA 3.0

Eine realistische Rekonstruktion der NT-Ereignisse ergibt in Kurzfassung: Jesus wurde auf Grund einer politischen Anzeige der Jerusalemer sadduzäischen (mit Rom kooperierenden, nicht pharisäischen) Tempelpriesterschaft nach einer jedenfalls raschen Entscheidung des nachweislich äußerst brutalen römischen Präfekten Pilatus – er wurde später wegen eines sinnlosen Blutbads seines Amts enthoben – verurteilt und unverzüglich hingerichtet. Die ursprüngliche Passionsüberlieferung wurde später umredigiert, damit das paulinische Christentum in der römischen Umgebung existieren konnte. Die Evangelien haben somit die historische Wahrheit "an einer entscheidenden Stelle ... umgebogen" (Lüdemann). Die mehrere Richtungen aufweisenden Pharisäer wurden weitgehend pauschal in Bösewichte umgedeutet, die Schuld der Römer und indirekt auch der Priesterschaft auf die Juden als Gesamtkollektiv umgelenkt. In den Worten von Uta Ranke-Heinemann: "Die Passionsgeschichte ist neben allem, was sie sonst noch ist, eine politische Tendenzgeschichte, verfasst mit der Absicht, die Christen von dem Ruch der Staatsfeindlichkeit reinzuwaschen." Die Judenfeindschaft der Evangelien mit den Passionslegenden als Zentrum wurde so zum existenzstiftenden Moment der neuen christlichen Religion.

Theologische Kritik

Theologen erklären dazu, jeder halbwegs ernstzunehmende Theologe wisse doch, dass die Evangelien keine historischen Fakten übermitteln, sondern Glaubensdokumente seien. Man verweist heute, nach 2000 Jahren, auf den Römerbrief des Paulus (Röm 11, 25 ff.), wonach schließlich auch ganz Israel gerettet werde. Tatsache ist aber, dass die Passionstexte in den Kirchen vorgelesen werden, als ob es sich um zumindest im Kern zutreffende Schilderungen handele, und in der katholischen Kirche enden Bibellesungen noch heute mit der Versicherung: "Wort des lebendigen Gottes".

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Literatur:

Augstein, Rudolf: Jesus Menschensohn, Hamburg 1999 (dtv-TB 2001, S. 217-275)

Bremer, Natascha: Das Bild der Juden in den Passionsspielen und in der bildenden Kunst des deutschen Mittelalters, Frankfurt a.M. u.a. 1986

Crossan, John D.: Jesus. Ein revolutionäres Leben. München 1996 (Beck'sche Reihe)

Czermak, Gerhard: Die Kirchen und die Juden, https://hpd.de/artikel/kirchen-und-juden-22003

Czermak, Gerhard: Christen gegen Juden, Reinbek 1997

Deschner, Karlheinz: Der gefälschte Glaube. Eine kritische Betrachtung kirchlicher Lehren und ihrer historischen Hintergründe. München 1988 (6- A. 2004)

Dünninger, E./Henker, M./Brockhoff, E.: Hört, sehet, weint und liebt: Passionsspiele im alpenländischen Raum. München 1990 (Haus der Bayerischen Geschichte)

Fricke, Weddig: Standrechtlich gekreuzigt. Person und Prozeß des Jesus aus Galiläa. Reinbek 1988

Landmann, Salcia: Jesus und die Juden oder die Folgen einer Verstrickung. München/Berlin 1987

Lapide, Pinchas: Wer war schuld an Jesu Tod? Gütersloh 1987

Lüdemann, Gerd: Das Unheilige in der Heiligen Schrift, Stuttgart 1996, S. 87-96 (3. A. Lüneburg 2004)

Maccoby, Hyam: König Jesus. Die Geschichte eines jüdischen Rebellen. Tübingen 1982 (eindrucksvolle historische Untersuchung; Neuausgabe unter dem Titel Jesus und der jüdische Freiheitskampf, Freiburg i.Br., 1996)

Ranke-Heinemann, Uta: Nein und Amen. Anleitung zum Glaubenszweifel. Hamburg 1992 (Kap. Karfreitag, 122-151; mehrere Ausgaben)


Sehr detailliert zur stufenweisen Vergottung Jesu: Karlheinz Deschner, Der gefälschte Glaube (1988) 69-7. ↩︎

dazu interessant Maccoby a. a. O. ↩︎