DORTMUND. (hpd) Unter der Leitung der Fachgruppe Biologiedidaktik, und unterstützt von der GEW-nahen Max-Traeger-Stiftung sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, begann am vergangenen Montag das Kolloquium Biologie und Gesellschaft an der TU Dortmund. Im Mittelpunkt der sechsteiligen Vortragsreihe steht in diesem Semester die Kritik an der Paramedizin.
Zum Auftakt der Veranstaltung hielt der Biologe und Wissenschaftsjournalist Dr. Markus C. Schulte von Drach, Redakteur bei sueddeutsche.de, einen Überblicksvortrag zum Thema Paramedizin. Mehr als 70 Gäste, unter ihnen zahlreiche BefürworterInnen der so genannten Alternativmedizin, waren zu Gast. Im Anschluss daran fasste Schulte von Drach die wichtigsten Aussagen für den hpd noch einmal zusammen.
Frage: Sehr geehrter Herr Schulte von Drach, weshalb beschäftigen Sie sich mit dem Thema Paramedizin?
Mein Interesse an Parawissenschaften geht ursprünglich zurück auf den ersten Vortrag eines Wünschelrutengängers, den ich noch vor meinem Studium eher zufällig gehört habe. Was der für Behauptungen aufgestellt hatte – das passte nicht mit dem zusammen, was ich aus dem Physikunterricht wusste. Aber ich war der einzige Zuhörer, der skeptische Fragen gestellt hat, auf die ich allerdings keine Antworten bekam. Von dem Punkt an habe ich mich für die Parawissenschaften interessiert – und für die Frage, wieso so viele Menschen daran glauben. Als Journalist habe ich dann begonnen, mich mit Paramedizin zu beschäftigen, weil es hier um die Gesundheit der Menschen geht. Ein ganz wichtiges Thema. Und als Naturwissenschaftler und Wissenschaftsjournalist sehe ich mich in der Pflicht, der Verbreitung von teilweise gefährlichem Unsinn entgegenzuwirken.
Frage: Was versteht man unter Paramedizin?
Der Begriff umfasst Heilverfahren, die auch als alternative Heilverfahren, Komplementärmedizin – das heißt ergänzende Medizin –, sanfte, ganzheitliche oder Erfahrungsmedizin bezeichnet werden. Gemeinsam haben diese Methoden, dass sie auf Weltbildern beruhen, die gegen die Naturgesetze verstoßen oder den Erkenntnissen über die menschliche Physiologie widersprechen. Außerdem mangelt es ihnen an Wirkungsnachweisen. Subjektiv haben viele Menschen vielleicht den Eindruck, dass die eine oder andere Methode ihnen geholfen hat. Ordentlich gemachte Studien zeigen aber, dass diese Verfahren nicht besser wirken als Scheinmedikamente und dass das Wohlbefinden der Patienten vor allem durch die Anteilnahme der Therapeuten beeinflusst wird. Zur Paramedizin gehören zum Beispiel die Homöopathie, die Anthroposophische Medizin, Ayurveda, Bachblütentherapie, Schüßler-Salze, Edelsteintherapie, angewandte Kinesiologie, Kraniosakraltherapie, um nur einige zu nennen. Auch Akupunktur gehört dazu, jedenfalls solange man am esoterischen Überbau festhält und verspricht, dass das Verfahren gegen alles Mögliche hilft.
Frage: Was sind die grundlegenden Unterschiede zwischen Paramedizin und Medizin?
Medizin ist der Versuch, auf der Grundlage der ständig wachsenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse Krankheitsursachen zu finden und zu bekämpfen, Krankheitssymptome zu lindern, Verletzungen zu behandeln und der Ausbreitung von Krankheiten vorzubeugen. Die angewandten Mittel und Maßnahmen werden in streng geregelten Studien getestet. Die Medizin entwickelt sich deshalb ständig weiter und findet immer wieder neue Ansätze, die sich dann bewähren müssen.
Die Paramedizin beruft sich dagegen überwiegend auf längst überholte oder magische Weltbilder und hält starr fest an bestimmten Behandlungsmethoden und Herstellungsprozessen von Arzneien. Deshalb ist es auch so perfide, von Schulmedizin und Alternativmedizin zu sprechen. Schulmedizin klingt unflexibel und auf bestimmten Lehrmeinungen beharrend. Alternativmedizin dagegen klingt offen gegenüber Neuem. Dabei ist es doch gerade umgekehrt. Wobei ich nicht behaupten will, dass Mediziner und Pharmaunternehmen immer alles richtig machen. Beileibe nicht. Aber zumindest ist die ernsthafte Prüfung der Methoden vorgeschrieben. Davon kann bei der Paramedizin keine Rede sein.
Frage: Würden Sie dennoch der Aussage zustimmen ‚Wer heilt, hat Recht‘?
Wenn jemand tatsächlich heilt, dann hat er wohl Recht. Aber Paramediziner heilen nicht. Die Patienten haben natürlich nach einer Behandlung häufig das Gefühl, ihnen sei geholfen worden. Und dafür gibt es einige ganz einfache Erklärungen. Die meisten Beschwerden, wegen denen man zum Paramediziner geht, verschwinden nach einer Weile von selbst wieder. Hat man sich behandeln lassen, glaubt man natürlich, das hätte geholfen. Dazu kommt der Placeboeffekt, der inzwischen gut genug untersucht ist, um sagen zu können, dass auch Scheinmedikamente eine Wirkung haben. Und den Patienten geht es auch dann besser, wenn ein Arzt oder Heilpraktiker ihnen zuhört, Mitgefühl zeigt, sie ernst nimmt. Darin sind viele Paramediziner offenbar besser als die Mediziner. Homöopathen nehmen sich für die sogenannte Erstanamnese schon mal eine Stunde oder länger Zeit.
Frage: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum sich trotz der offensichtlichen Scharlatanerie immer mehr Menschen zur Paramedizin hinwenden?
Ich wundere mich vor allem immer wieder darüber, dass die meisten Menschen offenbar nicht wissen oder begreifen, wie absurd das alles ist. Sogar Naturwissenschaftler geben ihren Kindern homöopathische Globuli, obwohl sie wissen müssten, dass nach der extremen Verdünnung der Arznei kein Wirkstoff mehr in dem Mittel enthalten ist. Dass Wasser kein Gedächtnis hat, das dann auch noch auf Zucker übergehen müsste. Wenn Wasser sich so prägen ließe, dann sähe unsere Welt wohl ziemlich anders aus. Ich glaube deshalb, viele halten zum Beispiel Homöopathie, Bachblütentherapie und anthroposophische Medizin für eine Art Kräutermedizin. Und die meisten Alternativmediziner sind wohl auch keine Scharlatane im Sinne eines Betrügers. Die sind überzeugt, etwas Gutes zu tun.
Frage: Aber wenn es so ein Unsinn ist, wieso interessieren sich so viele Menschen dafür?
Die wachsenden Erkenntnisse über unseren Körper und die Krankheitsursachen haben seit dem Krieg zur Apparatemedizin und einer starken Spezialisierung der Ärzte geführt. Wir werden nur noch als Teil eines riesigen Patientenguts behandelt und nach Schema F mit bestimmten Medikamenten oder Operationen behandelt. Im Krankenhaus sind wir nur noch „die Niere von Zimmer drei“. Insbesondere ab den 1970er Jahren hat dann die Belastung von Mensch und Umwelt durch die Industrie heftige Kritik an der Ausbeutung der Natur und der Technisierung der Welt ausgelöst und an unserer blinden „Wissenschaftsgläubigkeit“. Im Bereich der Medizin haben viele Menschen sanfte, natürliche Alternativen gesucht. Da hat die Stunde der Paramediziner geschlagen. Und die Nachfrage steigt mit jedem Pharmaskandal, mit jedem kritischen Bericht über Antibiotika und Impfungen. Immer mehr Ärzte – auch an Kliniken – kommen der Nachfrage in der Bevölkerung entgegen, immer mehr Universitäten kommen den angehenden Medizinern in der Ausbildung entgegen – und so bekommt zum Beispiel die Homöopathie oder die so genannte Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) einen seriösen Anstrich, der auf andere paramedizinische Verfahren abfärbt. Das lässt die Nachfrage in der Bevölkerung wohl weiter wachsen.
Frage: Welche Rolle spielt das Gesundheitssystem in Bezug auf die Paramedizin?
Unser Gesundheitssystem spiegelt die Verhältnisse in der Medizin sicher teilweise wider. Inzwischen fertigen Ärzte Patienten im Minutentakt ab. Wer fühlt sich da noch als Individuum behandelt? Das ist bei einer homöopathischen Behandlung ganz anders. Interessanterweise haben inzwischen auch immer mehr Krankenkassen auf die Nachfrage reagiert und zahlen unter bestimmten Bedingungen nun das ausführliche Gespräch mit einem homöopathischen Arzt. Könnte dann nicht auch ein langes Gespräch mit einem konventionellen Mediziner übernommen werden, an dessen Ende wenigstens keine wirkungslosen Zuckerkügelchen verordnet werden?
Frage: Welche Rolle spielt der Einfluss der paramedizinischen Lobby?
Im Vergleich zur konventionellen Pharmaindustrie spielen die paramedizinischen Arzneimittel auf dem Gesundheitsmarkt zwar keine besonders große Rolle. Aber die paramedizinische Lobby ist trotzdem ziemlich aktiv. Hersteller von homöopathischen Medikamenten und Stiftungen, die paramedizinische Methoden unterstützen, finanzieren bereits einige Lehrstühle an renommierten Universitäten. Dort soll Paramedizin offiziell auf ihre Wirksamkeit untersucht werden. Allerdings sind die Studien in der Regel zu klein, zu kurz, zu schlecht kontrolliert. Es geht vor allem darum, den paramedizinischen Methoden einen seriösen Anstrich zu verpassen. Das ist das Ziel der Lobbyarbeit.
Frage: Können Sie ein Beispiel nennen?
Lassen Sie mich doch mehrere nennen. Der Esoterik-Lehrstuhl von Professor Walach am neu gegründeten Institut für transkulturelle Gesundheitswissenschaften (intrag) an der Viadrina in Frankfurt an der Oder wird von der Firma Biologische Heilmittel Heel finanziert, die Homöopathika herstellt. Je mehr Menschen Homöopathie ernst nehmen, umso mehr kann Unternehmer Stefan Quandt von seinen Zuckerkügelchen verkaufen.
Besonders wichtig ist die Karl und Veronica Carstens-Stiftung. Frau Carstens, die Ehefrau des früheren Bundespräsidenten, ist selbst homöopathische Ärztin. Und sie ist so sehr von dieser Paramedizin überzeugt, dass ihre Stiftung mehrere Lehrstühle unterstützt und jeder medizinischen Fakultät Geld anbietet für die Einrichtung des Wahlpflichtfachs Homöopathie. Auf der Ebene der EU bearbeitet die Lobbyorganisation European Coalition on Homeopathic and Anthroposophic Medicinal Products (ECHAMP) – die die großen europäischen Hersteller von homöopathischen und anthroposophischen Pseudomedikamenten vertritt – die Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Sie will die Politiker davon überzeugen, dass man die Wirksamkeit dieser Mittel nicht so überprüfen kann wie konventionelle Arzneien. Deshalb soll die Zulassung der Mittel erleichtert werden.
Frage: Was muss Ihrer Ansicht nach getan werden bzw. wer muss was tun?
Die Menschen müssen ehrlich darüber informiert werden, was für ein bizarrer Unsinn hinter den einzelnen Verfahren tatsächlich steckt. Da sind gerade die Ärzte in der Pflicht, die doch eigentlich naturwissenschaftlich ausgebildet wurden. Auch die Medien sollten nicht so unkritisch und naiv über Paramedizin berichten und diesen esoterischen Sermon nachbeten von wegen sanft oder ganzheitlich. Aber die wichtigsten Lehren aus unseren Erfahrungen mit der Paramedizin sind: Die Menschen wollen nicht abgefertigt werden, und es nutzt dem Kranken, wenn man ihn ernst nimmt und sich um ihn kümmert. Nicht nur mit Medikamenten. Ein Arzt muss sich auch mit der seelischen Belastung der Patienten auseinandersetzen. Mindestens in dem Maße, wie es zum Beispiel Homöopathen tun.
Die Fragen stellte Christoph Lammers (FG Biologiedidaktik)
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Programm
Vortragsreihe „Paramedizin“ im Rahmen des interdisziplinären Kolloquiums „Biologie und Gesellschaft“ im Wintersemester 2011/2012 an der TU Dortmund. Jeweils montags von 17:15 bis 18:45 Uhr, im Hörsaal C-HS 2 (Chemiegebäude), Otto-Hahn-Straße 6, 44227 Dortmund.
24.10.2011: Dr. Markus C. Schulte von Drach (München): Von Marktschreiern zu Medizinern. Paramedizin auf dem Vormarsch
07.11.2011: Dr. Barbara Burkhard (München): Anthroposophische Medizin
Ein kritischer Blick auf Anspruch und Wirklichkeit
21.11.2011: Dr. Colin Goldner (Train / St.Johann): Vorsicht Tierheilpraktiker! Alternativveterinäre Diagnose- und Behandlungsverfahren
05.12.2011: Dr. Peter Pommer (Oberammergau): Impfungen im Spannungsfeld von rationaler und irrationaler Kritik
19.12.2011: Prof. Dr. Martin Hermann (Duisburg/Essen): Wer heilt, hat nicht immer Recht.
Homöopathie und andere paramedizinische Verfahren kritisch betrachtet
16.01.2012: Prof. Dr. Jürgen Windeler (Köln): Nutzenbewertung medizinischer Methoden. Welchen Platz hat „Pluralismus“?