Der Mensch ist mehr als sein Genom!

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Genom bsteinmann/wikipedia Collage F. Lorenz

(hpd) Verfahren, welche die Zerstörung von Embryonen erfordern, dürfen nicht patentiert werden. Dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofs ist allerdings juristisch wie moralisch bedenklich. Die Rechtspraxis in europäischen Ländern spricht Embryonen keineswegs einen Menschenrechtsstatus in diesem Ausmaß zu, wie man am Beispiel der Abtreibung und der Präimplantationsdiagnostik unschwer erkennen kann.

In seinem Urteil vom 18. Oktober 2011 hat der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden, dass ein Verfahren, welches die Zerstörung von Embryonen erfordert, nicht patentiert werden darf. Gegenstand der Entscheidung ist ein vom Bonner Stammzellforscher Oliver Brüstle bereits im Dezember 1997 angemeldetes Patent auf ein Verfahren zur Gewinnung von isolierten und gereinigten neuralen Vorläuferzellen aus menschlichen embryonalen Stammzellen. Neurale Vorläuferzellen sind unreife Zellen, die jedoch die Fähigkeit haben, sich zu reifen, d.h. entwickelten Zellen des Nervensystems auszubilden. Embryonale Stammzellen sind aus menschlichen Embryonen gewonnene Stammzellen. Das zum Patent angemeldete Verfahren sollte zur Behandlung neurologischer Krankheiten dienen; Oliver Brüstle zufolge existieren sogar bereits klinische Anwendungen, etwa an Parkinson-Patienten.

Der Gerichtshof war auf eine Vorlage des deutschen Bundesgerichtshofs (BGH) hin tätig geworden, der eine Reihe von Fragen zur Interpretation der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rats vom 6. Juli 1998 über den Schutz biotechnologischer Erfindungen formuliert hatte. Der BGH fragte u.a. an, was unter dem Begriff „menschliche Embryonen“ in Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie zu verstehen sei, insbesondere ob auch unbefruchtete menschliche Eizellen, in die ein Zellkern aus einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist, und unbefruchtete menschliche Eizellen, die im Wege der Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden sind, noch unter den Begriff „Embryo“ fallen könnten.

Der Gerichtshof der Europäischen Union legte in seiner Antwort den Begriff „Embryo“ denkbar weit aus und bejahte sämtliche der erwähnten Fragen. Als entscheidenden Gesichtspunkt bei der Entscheidung der Frage, ob eine Zelle bzw. eine Zellgruppe als Embryo bezeichnet werden soll, bezog sich das Gericht auf das Potential der Zelle bzw. der Zellgruppe, „den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen“ (Randnummer 35 des Urteils). Selbst Stammzellen, die aus einem menschlichen Embryo gewonnen werden, können nach Ansicht des Gerichtshofes der Europäischen Union unter den Begriff „Embryo“ fallen, wenn „sie geeignet sind, den Prozess der Entwicklung eines Menschen in Gang zu setzen“ (Randnummer 37). Dies sei vom nationalen Gericht im Licht der technischen Entwicklung zu prüfen. Die Richter begründen ihr weites Verständnis des Begriffes „Embryo“ mit dem Konzept der Menschenwürde. Der Unionsgesetzgeber habe jede Möglichkeit der Patentierung ausschließen wollen, „sobald die der Menschenwürde geschuldete Achtung durch die Patentierung beeinträchtigt werden könnte“ (Randnummer 34).

Welchen Status für bestimmte Formen menschlichen Lebens?

Das Urteil ist sowohl in juristischer wie in moralischer Hinsicht Bedenken ausgesetzt und kann deshalb nicht überzeugen. Was ein „Embryo“ ist, darüber streiten Juristen, Ethiker, Mediziner und Theologen in ganz Europa. Genau genommen geht es nicht um eine terminologische Frage, sondern darum, welchen moralischen und rechtlichen Status bestimmte Formen menschlichen Lebens haben sollen. Dass nicht jede Form menschlichen Lebens besonders zu schützen ist, ist offensichtlich – lebende menschliche Hautzellen sind zweifellos menschliches Leben, genießen aber keinen Grundrechtsschutz. Wie ist ein Embryo rechtlich zu schützen? Ist er gar Träger von Menschenwürde und damit rechtlich in der stärksten nur denkbaren Weise gegen Zugriffe von außen geschützt?

In der Praxis sind diese Fragen schon längst entschieden worden. In allen europäischen Staaten ist ein Schwangerschaftsabbruch, also eine Abtötung des Embryos, im Grundsatz erlaubt, auch wenn die Voraussetzungen unterschiedlich geregelt sind. Kein Staat spricht dem Embryo denselben Rechtsstatus zu wie der Mutter. Treffen ihre Interessen aufeinander, etwa bei einer medizinischen oder sozialen Notlage, so müssen die Interessen des Embryos zurücktreten. Kürzlich hat der Deutsche Bundestag auch die Präimplantationsdiagnostik, die regelmäßig mit der Abtötung mindestens eines Embryos einhergeht, zugelassen. Dies ist zulässig, weil Embryonen nicht Träger von Menschenwürde sind. Es wäre Ausdruck eines kruden Biologismus und moralisch bedenklich, Embryonen nur wegen ihres Potentials, zu Menschen heranzuwachsen, mit Menschen gleichzusetzen – der Mensch ist mehr als nur sein Genom! Dem entspricht, dass auch die überwiegende Meinung der Verfassungsrechtler in Deutschland und den meisten anderen europäischen Ländern den Embryo nicht als Träger von Menschenwürde oder anderer Rechte ansieht.

Patente auf Handfeuerwaffen, nicht auf Heilverfahren?

Der Gerichtshof der Europäischen Union setzt sich zumindest dem ersten Anschein nach über diese Diskussion hinweg. Ein so weites Verständnis des Embryonenbegriffs, wie es das Gericht vertritt, ist allenfalls dann vertretbar, wenn die frühen Embryonen nicht als Träger von Menschenwürde anzusehen wären. In der Tat spricht der Gerichtshof dies auch nicht aus, deutet diese Position aber an, indem er davon spricht, dass bei einer Patentierung von möglicherweise Embryonen schädigenden Verfahren die „der Menschenwürde geschuldete Achtung beeinträchtigt werden könnte“. Hier liegt es nahe, die Erwähnung der „Menschenwürde“ auf die Embryonen zu beziehen und sie als Inhaber dieser Würde anzusehen. Besser wäre es gewesen, nicht von Menschenwürde, sondern von einem bestimmten Menschenbild zu sprechen, zu dem man auch die Nicht-Kommerzialisierbarkeit menschlichen Lebens rechnen könnte.

Es mutet seltsam an, dass es in Zukunft Patente auf Handfeuerwaffen geben wird, nicht aber auf Heilverfahren, in deren Rahmen befruchtete menschliche Eizellen zerstört werden. Nichts als Heuchelei wäre es, solche Patente in Europa zu verbieten, entsprechende Heilverfahren aber zu nutzen und Heilmittel aus dem außereuropäischen Ausland einzuführen. Dass die Formulierungen des Gerichts dazu führen werden, die Praxis des Schwangerschaftsabbruchs in Europa ernsthaft in Frage zu stellen, ist eher unwahrscheinlich. Das Urteil bedeutet aber für die Stammzellforschung eine schwere Belastung, weil ohne Patentschutz zwar weiterhin geforscht werden darf, die Forschungsergebnisse aber nicht patentiert werden können und darüber hinaus die Stammzellforscher unter dem Damokleschwert eines angeblichen „Menschenwürdeverstoßes“ zu arbeiten gezwungen werden.

Andererseits ist zu beachten, dass ein großer Teil der Stammzellforschung in Europa ohnehin öffentlich finanziert wird, so dass der Patentschutz, der gelegentlich Forschung ja durchaus auch behindern kann, nicht von so großer Bedeutung ist wie bei Forschungen in Privatunternehmen. Wichtig ist es jedenfalls, in Zukunft noch stärker als bisher auf die moralische Pflicht zur Entwicklung von wirksamen Heilverfahren hinzuweisen, den (moralischen wie rechtlichen) Unterschied zwischen Menschen und menschlichen Zellen zu betonen und jeder Form eines im Gewande einer Sondermoral auftretenden Biologismus entschieden entgegenzutreten.
 

Eric Hilgendorf

 

Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf ist Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtstheorie, Informationsrecht und Rechtsinformatik an der Universität Würzburg, u.a. mit den Schwerpunkten Medizin- und Biostrafrecht sowie Bioethik