Kommentar

Cannabisdebatte: Seit wann ist der Bundesrat ein Xitter-Thread?

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Hanfparade Berlin 2019
Hanfparade Berlin 2019

Wie viele Vermittlungsausschüsse braucht man, um ein Cannabisgesetz zu stoppen? Glaubt man Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, lautet die Antwort: einen. Zu diesem obszönen Missbrauch des parlamentarischen Konsensfindungsprozesses kam es glücklicherweise schlussendlich nicht, eine Sternstunde vernunftorientierter Politik war die am vergangenen Freitag im Bundesrat geführte Debatte zum Cannabisgesetz allerdings auch nicht.

Es gibt Aspekte des Cannabisgesetzes (CannG), die man kritisch beäugen kann. Sind die für Aufklärung und Prävention veranschlagten Gelder einerseits ausreichend, andererseits aber effektiv allokatierbar? Nach welchen Leitlinien sind die Angestellten der Cannabisclubs zu schulen und welche empirische Evidenz liegt diesen Leitlinien zugrunde? Fragen, die man vernünftig diskutieren kann und sollte. Das allerdings ist nicht, was vergangene Woche passierte. Was wir stattdessen erlebten, war eine wilde Kakophonie irrwitziger "Argumente" in Sozialen Netzwerken, die in einer geladenen Bundesratsdebatte mündeten.

Die Tatsache, dass das CannG überhaupt kommt, statt im sogenannten Vermittlungsausschuss (VA) totgekocht zu werden, dürften wir zum größten Teil Sachsens Ministerpräsident Kretschmer zu verdanken haben. Aus bestimmten Bubbles schallte es bereits seit Monaten, dass die Union überhaupt kein Interesse an "Vermittlung" irgendeiner Art habe und den VA lediglich dazu missbrauchen wolle, das Gesetz bis in alle Ewigkeit auf Eis zu legen. Diese zugegebenermaßen nicht gänzlich unkonspirative Position allerdings drang entweder nicht bis zu SPD und Grünen durch oder stieß auf taube Ohren. Unvorstellbar, dass jemand den parlamentarischen Dialog derart missbrauchen wolle!

Doch zum Glück gibt es das Internet. Ein Teil unserer Abgeordneten hat offensichtlich nicht verstanden, dass Soziale Netzwerke öffentliche Räume sind, in denen sich Informationen in Echtzeit verbreiten. So twitterte – x-te? – Michael Kretschmer nur wenige Tage vor der entscheidenden Debatte, dass es selbstverständlich um Obstruktion und eine vollständige Verhinderung des CannG gehe, nicht um vernünftige Kompromisse. Gesundheitsminister Karl Lauterbach konterte kurze Zeit später mit einem flammenden Appell an die jeweiligen Landesverbände der Ampelkoalition. Ohne diesen unfassbaren strategischen Lapsus Kretschmers stünden die Chancen nicht schlecht, dass die inoffiziellen Ostermontagspläne des Deutschen Hanfverbands in Rauch aufgegangen wären.

Warum differenzieren wir zwischen Alkohol- und Drogentoten?

Als wäre das nicht ernüchternd genug, bewegte sich die Bundesratsdebatte ebenfalls in der Nähe des Niveaus einer Twitterdiskussion. So eröffnete Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Rainer Haseloff die Debatte mit der Warnung, es werde "mehr Todesfälle als bisher geben, die mittelbar (Hervorhebung durch die Redaktion) mit dem riskanten Cannabiskonsum zusammenhängen" und verwies auf die Zahl von 54 Drogentoten, die der Freistaat Sachsen-Anhalt im Jahr 2023 zu beklagen hatte. Verstehen Sie mich nicht falsch, das sind 54 Drogentote zu viel. Ich frage mich nur, ob Dr. Haseloff mal einen Blick in den aktuellen Alkoholatlas geworfen hat.

Neben Mecklenburg-Vorpommern hat nämlich Sachsen-Anhalt die mit Abstand meisten Todesfälle, die – so würde Haseloff vermutlich sagen – "unmittelbar mit dem riskanten Alkoholkonsum zusammenhängen": 59,8 von 100.000 Männern und 15,2 von 100.000 Frauen in Sachsen-Anhalt sterben jährlich aufgrund ausschließlich durch Alkohol verursachter Erkrankungen.

Basierend auf der Bevölkerungsstatistik des Jahres 2022 und unter der unzulässig vereinfachten Annahme, dass wir die Bevölkerung Sachsen-Anhalts 50-50 in männlich und weiblich einteilen könnten, errechne ich bereits 820 jährliche Todesfälle, die unmittelbar durch Alkoholkonsum verursacht werden. Wenn eine einzige, wohlgemerkt legale Droge unmittelbar 15 mal so viele Tote produziert wie alle anderen Drogen zusammen, dann sollte sich dieser Fakt auch in der Drogenpolitik widerspiegeln.

Denk doch mal einer an die Kind...äh, Kosten!

Judith Gerlach, bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Prävention, verwies auf die angeblich astronomischen Kosten, die das Gesetz für den Freistaat Bayern mit sich bringe: 20 Planstellen für die Zentrale Kontrolleinheit für die Cannabisclubs sollen es sein, außerdem Sachkosten von jährlich einer Million Euro sowie fünf Millionen Euro initialer Sachkosten.

Nun zwingt allerdings niemand den Freistaat Bayern dazu, das Gesetz auf die restriktivst mögliche Weise auszulegen. Bereits jetzt verschlingt die Strafverfolgung von Kleinkonsument*innen immense Summen, nicht umsonst werden vom Gesundheits- und Justizministerium Einsparungen bei den Gerichten von deutschlandweit jährlich über 200 Millionen Euro prognostiziert. Ebenfalls relevant ist die Tatsache, dass die aktuelle Cannabisprohibition Menschen aufgrund ihres Eigenkonsums aus dem Berufs- und Familienleben reißt und sie mit empfindlichen Geldstrafen, Fahrverboten und gegebenenfalls sogar Haftstrafen belegt, die den Fiskus über den Umweg niedrigerer Steuereinnahmen belasten.

Wenn eine einzige, wohlgemerkt legale Droge unmittelbar 15 mal so viele Tote produziert wie alle anderen Drogen zusammen, dann sollte sich dieser Fakt auch in der Drogenpolitik widerspiegeln.

Das Argument, die Teillegalisierung würde zusätzliche Kosten verursachen, stimmt in dieser Form nicht, sie verursacht allenfalls eine Verschiebung bestehender Kosten. Selbst wenn dem so wäre: Seit wann, bitte, ist "Das ist zu teuer" ein für rechtsstaatliche Erwägungen relevantes Argument? Ein Rechtsstaat hat nicht profitabel oder kostengünstig zu sein, sondern evidenzbasiert, menschenrechtsorientiert und gerecht. Wir sind hier nicht in einem Roman von Ayn Rand, Atlas hat die Welt nicht von seinen Schultern geworfen und der Staat war, ist und wird nie eine "schwäbische Hausfrau".

Der Gipfel allerdings war das von mehreren Abgeordneten vorgebrachte Argument, die Justiz müsse nun, um den Amnestieregelungen Rechnung zu tragen, händisch – händisch, man stelle sich das vor! – alte Akten sichten und die entsprechenden Fälle identifizieren. Selbstverständlich ist das eine unmögliche Forderung, ein an Wahnsinn grenzendes Unterfangen, alle Maschinen stoppen, das Cannabisgesetz muss sofort beerdigt werden! Wie konnten wir nur vergessen, dass der administrative Staat erst seit Erfindung der Suchfunktion existiert?!

Im Ernst: Ich kann mich nur darüber amüsieren, wenn eine CSU, die – und da ist sich die Paläontologie einig – Bayern bereits regierte, da streiften noch Dinosaurier über diese Welt, sich über analogen Arbeitsaufwand beschwert. Wer hätte denn die bayerische Verwaltung in den letzten zwei Dekaden digitalisieren können? Wer hätte denn ein dezidiertes Digitalministerium etablieren können? Torpedieren wir künftig jede Strafrechtsreform mit dem Argument, dass Archive sichten zu viel Arbeit ist, was übersetzt nichts anderes heißt, als dass die Politik gepennt hat, nun plötzlich aus ihrem seligen Schlummer gerissen wird und grummelt, man möge sie doch bitte noch fünf Jahre schlafen lassen?

Ich bin überaus erfreut, dass Gesundheitsminister Lauterbach diesen und einige andere der Punkte, die ich hier iteriert habe, am Ende der Debatte noch einmal deutlich gemacht hat. Die Tatsache, dass ein Minister seine Haltung aufgrund wissenschaftlicher Evidenz ändern und daraus mit der Europäischen Union abgestimmte Gesetze ableiten kann, stimmt mich nach sechzehn Jahren unionsgeführter Regierung doch hoffnungsvoll für den politischen Prozess in diesem Land.

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