Abschied von der Religionskritik?

Wer ist da die Henne und wer ist das Ei? Muss erst eine religions- bzw. kirchenkritische Grundeinstellung mehrheitsfähig werden, damit bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen anlaufen können, oder muss eine Veränderung der Verhältnisse durchgefochten werden, damit eine distanzierte Haltung den Kirchen gegenüber zur Selbstverständlichkeit werden kann?

MSS: Ich meine, dass man das eine nicht getrennt vom anderen betrachten kann. Schließlich ist unser Denken und Handeln ebenso von den gesellschaftlichen Verhältnissen bestimmt, wie die Verhältnisse von unserem Denken und Handeln bestimmt werden. Und beides ist bekanntlich nicht statisch, sondern unterliegt permanentem Wandel. Besonders dramatisch sind solche Wandlungsprozesse in Momenten der Krise, wenn offenbar wird, dass die Form unseres Zusammenlebens solch schwere Probleme produziert, dass wir sie mit traditionellen Hilfsmitteln nicht mehr lösen können.

In jeder Krise steckt daher eine Chance. Insofern wäre die säkular-humanistische Bewegung gut beraten, wenn sie die Chance der gegenwärtigen Krise nutzen würde. Sie müsste sich mit eigenen Lösungsvorschlägen in die Debatte einbringen, doch diese müssten erst einmal erarbeitet werden. Wie etwa sollte eine humanistische Wirtschaftsordnung aussehen? Wie sollte das Bildungssystem aus humanistischer Sicht reformiert werden? Was sind unsere Vorschläge im Bereich Ökologie? Während die Kirchen zu diesen Themen mehr oder weniger deutlich Stellung beziehen, gibt es hierzu innerhalb der säkularen Szene kaum tragfähige Konzepte. Dies ist ein großes Manko. Auf Dauer nämlich wird es nicht ausreichen, Humanismus als bloßes Gegenkonzept zur Religion zu definieren. Denn die Menschen wollen nicht nur wissen, wogegen Humanisten sind, sondern auch, wofür sie stehen.

Wenn ich das richtig verstanden habe, muss der Mensch also in der Praxis die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Was hast du konkret für die nächsten Jahre auf dem Schirm?

MSS: Ich habe mich in den letzten Monaten sehr intensiv mit ökologischen und ökonomischen Fragestellungen beschäftigt. Es gibt auch schon ein erstes Ergebnis dieser Auseinandersetzung: Vor kurzem habe ich die Arbeit an einer politischen Streitschrift abgeschlossen, die im kommenden Frühjahr unter dem Titel „Keine Macht den Doofen!“ erscheinen wird. Wenn man so will, werden in diesem Buch die Anliegen der religionskritischen Bewegung mit den Anliegen der Ökologiebewegung, der Tierrechtsbewegung oder der Occupy Wall Street-Bewegung zusammengeführt.

Ich meine, dass es eine politisch sinnvolle Strategie wäre, diese verschiedenen Widerstandsbewegungen miteinander zu vernetzen. Grundvoraussetzung dafür aber ist, dass die Irrationalismen der einzelnen Bewegungen kritisch aufgearbeitet werden. So sind viele Ökologiebewegte noch immer von religiösen Missverständnissen bezüglich der Natur geprägt, die sie absurderweise „Schöpfung“ nennen, was sie, wie man am Beispiel „Gentechnik“ zeigen kann, zu Fehlschlüssen im Bereich der Ökologie verleitet. In der Occupy Wall Street-Bewegung wiederum herrschen zum Teil wilde Verschwörungstheorien vor, was die Ausarbeitung vernünftiger ökonomischer Konzepte behindert. Trotz dieser Mängel haben diese Bewegungen großes gesellschaftsveränderndes Potential. Die Giordano-Bruno-Stiftung hat sich deshalb vorgenommen, ihre Vernetzung voranzutreiben. Im Falle des Great-Ape-Project, bei dem wir mit verschiedenen Tierrechtsorganisationen zusammenarbeiten, ist dies bereits gelungen. Und auch die Berliner Anti-Papst-Demo „Keine Macht den Dogmen!“, an der 15.000 Menschen aus den unterschiedlichsten Spektren teilnahmen, war in dieser Hinsicht ein hoffnungsvolles Zeichen.

Als Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung stehst du einem humanistischen „Think Tank“ vor. Ein Weg, Veränderungen hin zu einer „menschlichen Gesellschaft“ anzustoßen, sind Kontakte in den realpolitischen Raum. Bewegt sich da was?

MSS: Ja, es scheint so, dass sich in der politischen Sphäre tatsächlich etwas bewegt. Zwar präsentieren sich viele Spitzenpolitiker noch immer als Spitzengläubige, doch in den Parteien werden zunehmend auch Gegenstimmen laut. Wer hätte denn vor ein paar Monaten gedacht, dass so viele Bundestagsabgeordnete die Rede des Papstes boykottieren und an der Anti-Papst-Demo teilnehmen würden? Ich bin sicher, dass die Trennung von Staat und Kirche in den nächsten Legislaturperioden stärker thematisiert werden wird – nicht nur, weil sich innerhalb der Parteien Konfessionsfreie und Laizisten formieren, sondern auch, weil der Druck der Wähler auf die Politik steigen wird.

Hast du für dich Ziele definiert, von denen du sagen würdest: Wenn das erreicht ist, sind wir wirklich einen Schritt weiter?

MSS: Es gibt viele solcher Schritte. So war es für die Ex-Muslime wichtig, dass die Abkehr vom Islam in Deutschland als Asylgrund gewertet wird. Dieses Ziel haben wir im vergangenen Jahr glücklicherweise erreicht. Für die nähere Zukunft hoffe ich unter anderem darauf, dass der unsägliche Tendenzschutz christlicher Betriebe fallen wird. Es ist doch wirklich nicht hinnehmbar, dass Beschäftigte in katholischen Unternehmen ihre Arbeitsstelle verlieren können, bloß weil sie einen geschiedenen Partner heiraten oder sich dazu bekennen, in einer homosexuellen Beziehung zu leben. Eine solche weltanschauliche Diskriminierung gehört nicht ins 21. Jahrhundert! Betriebe, die so etwas praktizieren, dürften keinen müden Cent von der öffentlichen Hand erhalten! Das sollten auch Politikerinnen und Politiker einsehen.

Und wann können wir darauf anstoßen?

MSS: Ich habe wirklich keine Ahnung. Wie heißt es so schön: Prognosen sind verdammt schwer – vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen…

Die Fragen stellte Martin Bauer.

 

Michael Schmidt-Salomon: Anleitung zum Seligsein. Mit Karikaturen von Jacques Tilly. Alibri, 2011. 211 Seiten, kartoniert, Abbildungen, Euro 16.-, ISBN 978-3-86569-068-5

 

Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.