„Über das Mittelalter senkte sich die Finsternis“

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Rolf Bergmeier/ Foto @ Evelin  Frerk
Als alternative Erklärung bieten Sie den Aufstieg des Christentums zur vorherrschenden Ideologie an. Welche Prozesse laufen da genau ab, die zum Untergang der antiken Kultur führen?

Rolf Bergmeier: Im Jahre 380 wird die christlich-trinitarische Konfession, eine Fraktion aus einem Bündel zerstrittener christlicher Konfessionen auf der Suche nach dem „wahren“ Gott, durch den spanischen Kaiser Theodosius zur Staatskirche erhoben. Mit dem Erlass cunctos populos und weiteren 60 Gesetzen wird der bisherige tolerante, zwischen Mono- und Polytheismus schwankende Staatskult aufgehoben und durch den dogmatischen, unduldsamen, jüdisch-christlichen Monotheismus ersetzt.

Parallel zu dieser staatspolitischen Entscheidung mit paradigmatischer Auswirkung, die das Mittelalter weit mehr von der Antike trennt als die bisher in den Geschichtswissenschaften gehandelten Ereignisse, entwirft der „heilige“ Augustinus die bis heute weithin gültige, hochspekulative Sünden-, Sitten- und Verdammnislehre, die das Diesseits als Durchgangsstation für eine andere Welt abwertet. Verworfen sei der Mensch, meint Augustinus, böse die Sexualität. Am besten ziehe man sich in die Wüste zurück, um für seine Sünden zu büßen. Augustinus radikalisiert also die seit Paulus entwickelte Jenseitslehre, die das Bemühen um irdische Bildung als sinnlose Eitelkeit und den Besuch eines Theaters als verwerfliche Ablenkung interpretiert. Diese hinter die göttlichen Kulissen blickende, die Unendlichkeit Gottes aufhebende, streng genommen atheistische Theorie, eine Provokation der menschlichen Vernunft, wird zur Leitlinie des mittelalterlichen Lebens und hat essentielle Folgen für die wissenschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Landschaft des Mittelalters. Das sezierende, teils amüsant zu lesende „Augustinus“-Kapitel des Buches ist ein Schlüsselkapitel zum Verständnis, warum was im Mittelalter geschieht.

Nun gibt es aber auch Stimmen, die darauf verweisen, dass gerade in den christlichen Klöstern Bildung und Kultur gepflegt worden seien und Vieles auf diesem Weg überhaupt auf uns gelangt ist.

Rolf Bergmeier: Es bedarf keines ungewöhnlichen Scharfsinnes, um zu erkennen, dass eine Institution, die die antike Metamorphose aus Pantheon und Kultur strikt ablehnt, die im Konflikt zwischen Vernunft und Dogma energisch dem letzterem den Vorzug gibt, die nicht eine öffentliche Schule gründet, die die Olympiade und Philosophen-Akademien ruiniert, das Diesseits als belanglose Tändelei disqualifiziert und Freudlosigkeit stolz als Markenzeichen trägt, dass diese Einrichtung kaum Wesentliches zum Erhalt der antiken carpe diem-Kultur beitragen konnte. Anhänger dieser auch in Historikerkreisen kolportierten „Kloster-Rettungs“-Theorie dokumentieren einen bemerkenswerten Mangel an Einsichten in die Tiefe und Breite der antiken Kultur und in die Bedeutung islamisch-arabischen Wissentransfers für die „europäische“ Kultur.

Nur weniges, gemessen am Bücherverlust etwa ein Promille, übermittelt die frühmittelalterliche Kirche Europa. Denn alles wissenschaftliche und kulturelle Schaffen wird auf rein kirchliche Themen kanalisiert. Freiheit, auch Denkfreiheit, ist nur noch nach Maßgabe der Staatskirche möglich. Aus dem Riesenbestand heidnischer Bücher wird nur das übernommen, was kirchlichen Zwecken dient. Die berühmten Klosterbibliotheken des 9. Jahrhunderts können sich mit 100 bis 400 Büchern auch nicht annähernd mit den wissenschaftlich orientierten Bibliotheken des vierten „heidnischen“ Jahrhunderts mit bis zu 500.000 Büchern pro Bibliothek messen. Das Studium der Mathematik und der Wissenschaften sei entbehrlich, so die Meinung des damaligen Klerus, da in der Bibel und in den Schriften der Kirchenväter alles stehe. Folglich bedarf es auch keinerlei Mittel, um die öffentlichen Schulen, Bibliotheken und Akademien zu erhalten. Damit geht ein ungeheurer Verlust an wissenschaftlichem know how und künstlerischer Fertigkeit einher. „Bildung“ findet nur noch im Rahmen dogmatischer Vorgaben, kanalisiert und selektiert, innerhalb des Klerus statt, während gleichzeitig das Volk außerhalb der Klostermauern in einen archaischen Bildungsstatus zurückfällt.

Wie kommt es überhaupt dazu, dass sich im weltzugewandten Rom ausgerechnet das so jenseitsorientierte Christentum durchsetzt?

Rolf Bergmeier: Das Christentum hat sich nicht durchgesetzt, wie der Theologe und ehemalige Präsident der Humboldt-Universität Berlin, Christoph Markschies, meint, sondern wurde durchgesetzt. Kaiser sind es, die Ordnung schaffen. Theodosius, Justinian und Karl der Große setzen das neue Christentum, das nur noch wenig mit der Bergpredigt zu tun hat, mit Gewalt durch. Beide Institute, Kirche und Staat, jeder in seiner Art Vertreter des Absolutismus, ergänzten sich prächtig mit ihrem Anspruch auf Macht.