Ecos Scheitern an „dunkler Geschichte“

(hpd) Umberto Eco schildert in seinem neuesten literarischen Werk die angebliche Entstehungsgeschichte der „Protokolle der Weisen von Zion“. Eine ehrenwerte Absicht, die jedoch in der vordergründig bleibenden Psychologisierung der Protagonisten stecken bleibt und nicht zu überzeugen vermag.


Die “Protokolle der Weisen von Zion” gelten als die bedeutendste und wirkungsreichste antisemitische Publikation. Inhaltlich erwecken sie den Eindruck, sie enthielten Aufzeichnungen über die Planung und Strategie einer jüdischen Verschwörung zur Beherrschung der Welt. Tatsächlich handelt es sich aber um eine Fälschung, die direkt oder indirekt aus anderen Texten zu diesem Zweck konstruiert wurde. Dazu gehörte auch ein Kapitel aus einem heute nahezu vergessenen Kolportageroman des 19. Jahrhunderts: Es schildert ein fiktives Treffen der Sprecher jüdischer Stämme auf dem Judenfriedhof in Prag, wobei ein konspiratives Vorgehen zur Erlangung von Einfluss und Macht erörtert wird. Der angesehene italienische Semiotiker Umberto Eco, der aber als Autor historischer Romane wie „Der Name der Rose“ (1980) oder „Das Foucaultsche Pendel“ (1988) bekannter ist, schildert nun die angebliche Entstehungsgeschichte der „Protokolle der Weisen von Zion“ in seinem neuesten literarischen Werk mit dem Titel „Der Friedhof von Prag“.

Dies geschieht hauptsächlich durch die Tagebuchaufzeichnungen eines gewissen Simone Simonini, der laut einer Anmerkung des Autors im Anhang die „einzige erfundene Person in dieser Geschichte“ (S. 513) sei. Simonini wird als Enkel eines Hauptmanns Giovan Battista Simonini vorgestellt, welcher den freimaurerfeindlichen Verschwörungsideologen Abbè Augustin Barruel darauf aufmerksam gemacht habe, dass die Französische Revolution auch auf die konspirativen Machenschaften der Juden zurückzuführen sei. Der fiktive Simone Simonini schreibt 1897 ein Tagebuch, worin der Siebenundsechzigjährige sein Leben von der Kindheit bis in seine Gegenwart Revue passieren lässt. Eco stellt seine Hauptfigur bereits auf den ersten Seiten als fanatischen Antisemiten vor. Auch darüber hinaus wirkt der angeblich 1830 in Turin geborene Simonini als Person überaus unsympathisch, arbeitete er doch als Betrüger, Fälscher und Verleumder für unterschiedliche Geheimdienste und weist eine von Doppelmoral, Hass und Schizophrenie geprägte Charakterstruktur auf.

Die über 500 Seiten des Romans „Der Friedhof von Prag“ bestehen meist aus den fiktiven Aufzeichnungen von Simonini, worin er seine Gedanken über persönliche und politische Gegebenheiten ebenso wie sein Wirken vor der Entstehung der „Protokolle“ schildert. Eco lässt darüber hinaus seinen Protagonisten direkt oder indirekt an vielen Ereignissen der französischen und italienischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts teilnehmen, was mitunter eine gute Kenntnis dieser Zeit voraussetzt. Dieses potentielle Problem für die Leser scheint Eco durchaus klar gewesen zu sein, heißt es doch im Anhang: „Der Erzähler ist sich bewusst, dass der Leser in der reichlich chaotischen Handlung der hier reproduzierten Tagebücher (mit vielen Vor- und Rückblenden, wie man sie aus dem Kino kennt) den Überblick über die lineare Entwicklung der Fakten von Simoninis Geburt bis zu seinem letzten Eintrag verlieren könnte“ (S. 513). Das liege aber an der unvermeidlichen Differenz zwischen plot und story. Ein guter Leser könnte trotzdem die Geschichte goutieren.

Eco erschwert Lektüre und Verständnis aber noch dadurch, dass er neben dieser literarischen Hauptfigur einen Abbé Dalla Piccola schreibend auftreten lässt, der zunächst als eine Art klerikaler Doppelgänger von Simoninis erscheint, dann aber von ihm umgebracht wird. Und schließlich gibt es noch einen Erzähler, der den inhaltlichen Stoff besser nachvollziehbar machen und strukturell ordnen will. Dies alles in Kombination mit den allgemeinpolitischen Handlungssträngen und der Vorgeschichte der „Protokolle“ ist allerdings offen gestanden auch für aufmerksame und interessierte Leser zu viel. Ecos „Der Friedhof in Prag“ darf daher sowohl als literarischer Roman wie als aufklärerisches Werk als gescheitert gelten: Dem Buch fehlt trotz der faszinierenden Thematik die inhaltliche Spannung, die Handlung schleppt sich nach den ersten hundert Seiten über die Runden, inhaltliche und personelle Kontexte gehen durch die Überfülle an Deutungen, Ereignissen und Personen verloren, und schließlich verzettelt sich die ganze Darstellung auch in der Komplexität des Geschilderten.

Obwohl Eco das Leben und Wirken seiner „Simonini“-Figur in den historisch-politischen Kontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einbettet, psychologisiert er letztendlich die Entstehung der „Protokolle der Weisen von Zion“. Sie erscheint als Ausfluss und Folge eines kranken Geistes, der von Geldgier und Hass zu seinen Machenschaften getrieben wird. Mitunter hat man gar den Eindruck, Eco habe seine literarische Figur entsprechend mancher individualpsychologischer Antisemitismus-Deutungen konstruiert. Bereits sein Tagebuch lässt er „auf Anraten – eines deutschen Juden“ (S. 11) schreiben. Die Frage „Wer bin ich?“ beantwortet Simonini mit „Wen hasse ich? Die Juden, möchte ich sagen ...“ (S. 11). Er meint aber auch: „Von den Juden habe ich Nacht für Nacht geträumt, jahrelang. Zum Glück bin ich niemals einem begegnet ...“ (S. 12). Über andere Hassobjekte neben Kommunisten und Sozialisten heißt es: „Freimaurer und Jesuiten. Die Jesuiten sind Freimaurer in Frauenkleidern. Ich hasse die Frauen, nach dem wenigen, was ich von ihnen weiß“ (S. 21).

Derartige Aussagen, die ein bezeichnendes Licht auf die Charakterstruktur von Simonini als Idealtyp eines krankhaften Antisemiten mit Verschwörungswahn werfen, ziehen sich durch die ganze Romanhandlung. Gleichzeitig begegnet die Hauptfigur, die gegen Ende des Romans als der eigentliche Erfinder bzw. Fälscher der „Protokolle der Weisen von Zion“ beschrieben wird, allen entscheidenden Personen der Vorgeschichte des antisemitischen Machwerks. Hierzu gehört etwa Hermann Goedsche, der das erwähnte Kapitel „Der Judenfriedhof in Prag“ in seinen „Biarritz“-Roman aufnahm, ebenso wie Maurice Joly, der in seinem Buch über den fiktiven Streit zwischen Machiavelli und Montesquieu in der „Unterwelt“ unbewusst die Textgrundlage für die „Protokolle“ lieferte. Die Schilderung dieser Begegnungen ist aber nur für den Kenner der Entstehungsgeschichte der antisemitischen Fälschung interessant und nachvollziehbar. Entgegen Ecos Anmerkung im Anhang mangelt es allerdings dafür an historischen Belegen, kann vieles doch nur durch Indizienschlüsse rekonstruiert werden.

Weitaus kritikwürdiger wäre, dass Eco mit seiner Fixierung auf die Person „Simonini“ und dessen Präsenz bei historischen Ereignissen die gesellschaftliche und politische Ebene aus den Augen verliert. Hier mag man einwenden, dass es sich doch um eine literarische Arbeit und nicht um ein wissenschaftliches Werk handelt. Doch wenn man einen Roman in aufklärerischer Absicht schreibt – und dies bekundete Eco schon im Kontext von früheren Werken – dann gehört diese Dimension für den Glauben an und die Instrumentalisierung von Verschwörungsvorstellungen mit dazu. Zumindest spricht Eco die spätere verhängnisvolle Wirkung der „Protokolle“ an, lautet doch der Titel des vorletzten Kapitels „Die Endlösung“ und dort findet sich folgender Kommentar von Simonini: „O Gott, ein ganzes Volk auszurotten, zum Glück musste ich es nicht selber tun, aber meinen bescheidenen Beitrag leistete ich gerade dazu“ (S. 497). Die Konsequenzen der von Hass und Unterstellungen geprägten Verschwörungsvorstellungen benannte Eco demnach sehr wohl.

Armin Pfahl-Traughber

 

Umberto Eco, Der Friedhof in Prag. Roman. Deutsch von Burkhart Kroeber, München 2011 (Carl Hanser Verlag), 524 S., 26 €