Fünf Thesen über den Humanismus

Humanismus aktuell

In der letzten Ausgabe der Zeitschrift "Materialien und Informationen zur Zeit" (MIZ) erschien ein Beitrag von Horst Groschopp. Der ehemalige Präsident des HVD beklagt darin die "grundsätzliche Distanz derjenigen, die sich als Atheisten organisieren", gegenüber dem Humanismus. Im Atheismus sieht der Autor des Buches "Pro Humanismus" keine Weltanschauung, doch für die politischen Herausforderungen unserer Zeit hält er eine "ordentliche Weltanschauung" für die beste Grundlage, diese erfolgreich zu bestehen.

2016 erschienen zwei wichtige Bücher, das von Hubert Cancik, Horst Groschopp und Frieder Otto Wolf herausgegebene Handbuch "Humanismus: Grundbegriffe" (Berlin/Boston) und die Studie von Horst Groschopp "Pro Humanismus" (Aschaffenburg). Das Handbuch stellt wissenschaftliche Befunde zu den Grundkategorien des Humanismus zusammen. "Humanismus" wird umfassend bestimmt, als eine kulturelle Bewegung, ein Bildungsprogramm, eine Epoche (Renaissance), eine Tradition ("klassisches Erbe"), eine Weltanschauung, eine Form von praktischer Philosophie, eine politische Grundhaltung, welche für die Durchsetzung der Menschenrechte, und als ein Konzept von Barmherzigkeit, das für humanitäre Praxis eintritt.

Relevanz für Akteure in der "Szene" gewinnt der Band dadurch, dass Grundkonzepte rund um den Humanismusbegriff für religionsfrei erklärt und damit die im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs häufig als selbstverständlich angenommen "Erbansprüche" sowohl religiöser wie nichtreligiöser Akteure auf diese Konzepte massiv in Frage gestellt werden. Über die Folgen ist unbedingt zu diskutieren, etwa, dass "Humanismus" zu seiner Begründung der Säkularisierungsthese nicht bedarf.

Groschopp behandelt in seinem Buch die Frage, wie der Humanismus in Deutschland zu den Freidenkern (in einem weiten Sinne) kam und was daraus wurde, wie etwa der Humanistische Verband damit umging. Die Monographie ist die erste umfängliche Kulturstudie zum Humanismus in der "säkularen Szene" überhaupt. Mit zum Teil provokanten Positionen werden die Diskussionen des letzten Vierteljahrhunderts am Beispiel einiger Streitfragen wie Säkularisierung, Weltanschauung, Bekenntnis, Freidenkertradition, Ethik, "Konfessionalität", Demokratie, Pazifismus und Verbandspolitik vorgestellt. Der Band enthält zudem eine umfängliche Dokumentation.

Wir baten Anfang 2017 Horst Groschopp um fünf Thesen zur "Lage".

1. Inzwischen beziehen sich alle "säkularen Verbände" irgendwie auf Humanismus. Das war in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch ganz anders. Da standen der HVD und die HU ziemlich allein da. Es gibt derzeit aber leider keine richtige Debatte darüber, was das nun bedeutet. Einige nehmen an, das mit dem Humanismus sei doch identisch mit der Aufklärung und das habe man schon immer vertreten. Eine große Gruppe bringt Humanismus in direkte Verbindungen mit der Evolution. Dabei ist genau diese Schnittstelle zwischen den naturwissenschaftlichen und den kulturwissenschaftlichen Erklärungen der Welt die weitgehend unerforschteste. Man kann auch sagen, hier haben Spekulationen den meisten Raum. Wohl deshalb tummeln sich hier transhumanistische Ausdenkungen.

Daraus die These 1: Es ist innerhalb wie besonders außerhalb der "Szene" nicht nachvollziehbar, wer hier warum für welchen Humanismus eintritt und wie sich dieser eigene Humanismus zu dem in der Gesellschaft verhält.

2. Noch problematischer wird die Beschäftigung mit Humanismus, wenn wir das Feld der Gesellschaftspolitik betreten. Da denken viele in der Szene noch immer, sie seien wie Kevin, nämlich allein zu Hause. Die Welt ist aber anders.

Ein besonders deutliches Signal dafür war die Erklärung, die die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel aus Anlass der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten abgab. Die in der DDR sozialisierte evangelische Pfarrerstochter und gläubige Christin sandte eine durch und durch humanistische Botschaft: Deutschland und die USA seien durch gemeinsame Werte verbunden. Sie nannte Demokratie, Freiheit, den Respekt vor dem Recht und der Würde des Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung oder politischer Einstellung.

Wer die Theologiegeschichte und die Historie der beiden ehemaligen "Volkskirchen" der letzten hundert Jahre verfolgt, kann ermessen, was es bedeutet, dass eine führende Repräsentantin Deutschlands sich so dezidiert zu den Menschenrechten bekennt. Ohne dass der Begriff "Humanismus" im öffentlichen oder gar wissenschaftlichen Leben eine große Rolle spielt, hat er sich – vor allem im Verständnis von "Humanität" – kulturell etabliert und "wirkt".

Daraus die These 2: Die Akteure in der "Szene" brauchen dringend ein realistisches Bild vom Humanismus in der Gesellschaft, vom "Volks-" bis zum "Elitenhumanismus", gerade weil das Wort unüblich, aber sein Inhalt geläufig ist.

3. Diese Abschottung ist selbstgemacht und zum großen Teil ein Relikt der uralten, stereotypen Forderung, endlich die Staat-Kirche-Trennung zu vollziehen. Letztlich geht es bei "säkular" immer irgendwie darum, etwas aus dem Besitz der Kirchen zu nehmen. Wohin aber wird es gegeben?

Jede laizistische Mini-Regung an irgendeinem Rand in irgendeiner Partei, jede Kirchenschließung, jeder Austritt verleitet zu Euphorie, seit über hundert Jahren. Dabei wird nicht einmal begründet, warum dies für welchen Humanismus gut sein soll. Neue Mitglieder bringt das auch nicht die Masse. Wir sind in Etwa genau so viele wie wir 1914 waren. Das stimmt doch aber nur, wenn wir unsere eigenen Mitglieder zählen.

Das ganze Missverständnis, mit dem wir es hier zu tun haben, fängt schon bei der Bezeichnung "säkulares Spektrum" an. Was ist für unsereins nicht säkular? Die Kirchen sind es doch auch. Göttliche Weihen sind kulturelle Zuschreibungen. Ich beschreibe in meinem Buch, wann und warum dieser seltsame Name (nach meinem Archiv vom Unitarier Helmut Kramer 2000) erfunden und eingeführt wurde. Seitdem geistert er um uns herum.

Es werden Plätze für "Säkulare" in diesen oder jenen Gremien gefordert, als ob Gewerkschaften, Parteien usw. nicht "säkular" wären. "Säkulare" (manchmal in der 1920er Form "weltliche") Dienste sollen Trauerfeiern ausrichten, Krankenhäuser und Kindereinrichtungen betreiben usw. Ich kann hier vor Ort als Kunde nicht grundsätzliche Unterschiede in der Humanität zwischen "Diakonie" und "Volkssolidarität" erkennen.

Daraus die These 3: Selbst, wenn alles "säkular" gemacht worden wäre, täte sich doch weiterhin das wirkliche Problem auf, die Frage nach den Inhalten. Dann wird freilich die Sache mit den Religionen und Weltanschauungen relevant, nämlich, woraus die praktische Humanität begründet wird und was daraus jeweils konkret folgt. Eine säkulare Kita ist doch nicht per se humanistisch.

4. Atheismus ist keine Weltanschauung, sondern eine philosophische Position gegen Theismen und ihre Theologien. Auf dieser Basis der Verneinung einer Überperson oder eines Über-Prinzips sind mehrere Weltanschauungen möglich mit diversen politischen und praktischen Folgerungen zwischen ultralinks bis ganz rechts. Es ergibt sich hier ein ähnliches Problem wie bei "säkular". Es gibt konservative, kommunistische, völkische und viele andre Atheismen.

In einer vergangenen Zeit, als Thron und Altar noch engstens verbunden waren und Staatspolitik eine göttliche Begründung hatte, war jeder Atheismus zugleich ein radikaler Angriff auf die konkrete Herrschaftsform; und als es noch üblich war, Religion und Wissenschaft gegenüberzustellen (bis sie sich in den letzten hundert Jahren endgültig trennten und sich nicht mehr viel zu sagen haben), war Atheismus Teil jeder wissenschaftlichen Wahrheit. Noch gibt es einige Überbleibsel, aber im Großen und Ganzen ist die historische Rolle des Atheismus – sagen wir es freundlich – arg zurückgegangen, zumindest hierzulande (aber hier lebe ich).

Terrorismus (z.B.) kann zwar theistisch begründet, aber nicht atheistisch erklärt werden. Solche Sachen sind viel zu komplex.

Damit zur These 4: Es gibt eine fortwirkende, zu überwindende, aufzuklärende, intellektuelle Abstinenz und grundsätzliche Distanz derjenigen, die sich als Atheisten organisieren, gegenüber dem Humanismus, dem organisierten besonders. Solcherart Urteile stehen in direkter Kontinuität zu Fritz Mauthner, dem wir die großartige vierbändige Geschichte des Atheismus im Abendland verdanken. Von seinem Urteil sollte man sich trennen, wonach die Humanisten "einen sehr schlechten Ruf" haben. Sie "galten für eitel, eigensinnig, bestechlich, unordentlich, unzüchtig, ketzerisch", "aller Schimpf und aller Klatsch wurde gegen sie verwertet".

5. "Postfaktisch" ist das Wort des Jahres 2016 und "Volksverräter" das Unwort. Beide hängen unmittelbar zusammen und sind ebenso Ausdruck des Zeitgeistes wie die "gefühlte Wahrheit", für deren Berechtigung gestritten wird. Es ist leicht, aber wenig ergiebig, sich intellektuell über die angeblichen Realitätsverächter zu erheben. Denn was ist die Realität? Sie ist Gegenstand unserer Interpretation.

Tatsache ist jedenfalls, Trumps Wahlsieg ist dafür ein direkter Beleg, eine neue Zeit der Weltanschauungen bricht an. Bringt dies auch eine neue Zeit für Freidenker, deren unmittelbare Erfindung das Denken in Weltanschauungen im 19. Jahrhundert war? Mauthner meinte zu seiner Zeit, es wäre der ein armer Tropf, der nicht seine eigene Weltanschauung habe. Adorno ergänzte später, das Problem von Weltanschauungen sei die zum System erhobene Meinung, die das Versprechen kolportiere, "die geistige Welt und schließlich auch die reale eben doch aus dem Bewußtsein einzurichten".

Gegen "Poetenphilosophien" (ein schöner Begriff des Freidenkers Kalthoff) helfen keine philosophischen Traktate. Wer liest schon so etwas im "Volk", wenn er oder sie Angst hat vor dem oder jenem, vor allem vor dem möglichen sozialen Abstieg, vor Überschichtung und gefakten Twitterbotschaften. Wenn der Satz von Max Weber gilt, dass "‘Weltanschauungen‘ niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren" – dann hat nur eine ordentliche Weltanschauung möglicherweise Erfolg. Da stehen nicht so viele zur Verfügung. Antikirchlicher oder gegenreligiöser Affront hilft hier wenig. Das bindet nicht in Zeiten der Konfessionsfreiheit und trennt von den Gleichgesinnten, etwa den Antivölkischen oder den Sozialreformern im religiösen Lager.

Damit zur These 5: Wie wäre es denn mit Humanismus? Die Wahrheit auszusprechen bedeutet, sich zu bekennen. Und Barmherzigkeit ist das erste und oberste humanistische Gebot. Sie bedeutet Anteilnahme, Gnade, Milde, Mitgefühl, Nachsicht und Wohltätigkeit. Erst humanitäres Handeln übersetzt Sorge in konkrete Leistungen, in denen sich Solidarität beweist und Humanitarismus ausdrückt. Ohne praktizierte Humanität ist Humanismus nicht möglich, reduzieren sich seine Ziele hinsichtlich der Menschenrechte, der Menschenwürde, der Menschengleichheit, von Gerechtigkeit, Liebe, Freundschaft und Glück auf bloße Behauptungen.