Die Vielen und das Meer

Pecunia non olet

Zum Glück haben über 99 Prozent der Menschen an Bord der Costa Concordia die Havarie vom 13. Januar 2012 überlebt. Eine Erfolgsquote, die im Falle von kenternden Flüchtlingsbooten im Mittelmeer wohl noch nie erreicht wurde. Und die Überlebenden wären nicht die eingangs erwähnten vernunftbegabten Wesen, würden sie nicht umgehend darangehen, daraus das Beste zu machen. Man hat überlebt, vielleicht sogar nur knapp, der erste Schreck und Schock ist überwunden. Kaum die Kleider getrocknet und wieder zu Hause ergibt sich eine weitere dringende Aufgabe. Wie viel kriege ich? Für den ausgehaltenen Schrecken, die verlorenen Wertgegenstände, die nicht nutzbaren Urlaubstage, die nicht entschädigte Vorfreude? Außerdem ist es wichtig fürs Illustrierten lesende Volk, dass die Schuldigen überall genannt und mit dem moralischen Zeigefinder auf sie gedeutet wird. Zuerst der Kapitän, vielleicht unter Drogen, vielleicht überhaupt kriminell, womöglich nicht katholisch oder wie? Dann die übrigen Verantwortlichen an Bord, die diensthabenden Offiziere, das übrige Bordpersonal, vielleicht selber betrunken, nachlässig und verantwortungslos. Die konnten ja nicht einmal deutsch. Und schließlich die „Costa Crociere“ überhaupt, ein kapitalistischer Konzern, inzwischen in Besitz eines noch größeren kapitalistischen Konzerns. Wie alle Konzerne Gewinner von Ausbeutung des Personals und der Umwelt, geldgierig sowieso und überhaupt rücksichtslos und unmoralisch.

Nur die Passagiere, die haben die Moral auf ihrer Seite. Es ist nicht moralisch verwerflich, kreuz zu fahren, für wenig Geld viel Leistung in Anspruch zu nehmen, für die man in den Urlaubsgebieten von Östereich, Südtirol und der Schweiz bei vergleichbarer Leistung mindestens das Doppelte zahlen würde. Es ist nicht moralisch verwerflich, als Kreuzfahrtpassagier Nutznießer zu sein, dass das allzeit bereite Personal an Bord eines solchen Schiffs aufgrund seiner außertariflich niedrigen Entlohnung den Grundstein für die preiswerten Reisepreise legt. Jede/r der Crew muss sich für mindestens sechs Monate verpflichten, arbeitet in dieser Zeit ausschließlich in Sieben-Tage-Wochen, und das mit in der Regel zwei Schichten, also weit von einem hiesigen Acht-Stunden-Tag. Noch dazu wird ihre Freundlichkeit durch die Gäste allzeit bewertet, und es ist selbstverständlich, dass sie kein direktes Trinkgeld von den Leuten bekommen, weil 15% Trinkgeld in den Getränke-Konsumationen an Bord immer mit bezahlt werden müssen (die Angestellten aber sicher nicht bekommen). Es ist nicht verwerflich, indirekt Förderer von hierzulande nicht hinnehmbaren Arbeitsbedingungen zu sein. Wer selber seinen gepflegten Acht-Stunden-Tag für so wenig Geld hinter sich lassen kann, mag sich doch keinen Kopf drüber machen, dass die Crew eines solchen Luxusliners sich ausschließlich aus Menschen zusammensetzt, die aus den Armenhäusern dieser Welt kommen und froh sein müssen, überhaupt einen Arbeitsplatz als Bedienung gesättigter Mitteleuropäer bekommen zu haben. Schließlich ist Urlaub! Grund zum Nachdenken?

Und dann geht der Luxus, wenn auch langsam, doch sicher, einfach unter. Natürlich haben die Passagiere Anspruch auf Entschädigung. Den Reisepreis haben alle Gelisteten schon bekommen. Und kurz drauf war zu hören und zu lesen, dass alle überlebenden Passagiere 11.000 pro Kopf als pauschale Entschädigung erhalten werden. Nun, klingt jetzt nicht wirklich nach wenig Geld. Aber vernunftbegabte Passagiere, in voller Dankbarkeit der Überlebenden und sowieso moralisch unbelastet, freuen sich nicht uneingeschränkt. Die erste Überlegung gilt natürlich der Tatsache, ob man/frau nicht einfach Anspruch auf mehr Geld hat. Wenn die Reederei als erstes 5000 Euro angeboten hätte, hätte man sich überlegen müssen, ob man nicht wenigstens 8000 bekommen kann, oder so. Jetzt bekommt man ungefragt 11000, also lautet die Frage, wie viel mehr könnte es denn geben. Und welche Beobachtungen, Mängel, Unkenntnis des Bordpersonals kann als die Reederei belastendes Argument mit ins Feld um mehr Geld geführt werden? Die Passagiere der Costa Concordia, die ich selbst erlebt hatte, haben sich kaum für Rettungsübungen, Notfallausstattungen und Anzahl der Rettungsboote interessiert. Jetzt aber wissen sie teilweise ganz genau, dass der ganze Luxusliner, dessen Einrichtung und Mannschaft sie für gerade mal 699 Euro im Schnitt im Regelfall ihr Leben anvertraut hatten, in vieler Hinsicht mangelhaft war.

Ja, und dann… das Personal des Schiffes. Um den Kapitän muss man sich ja aktuell keine Sorgen machen, der ist im Zweifelsfall im Gefängnis untergekommen. Bislang war jedoch von niemandem zu hören oder zu lesen, dass das übrige Personal des untergehenden Schiffes auch entschädigt wird. Bekommen die weiter ihren Lohn gezahlt, wo doch ihr Arbeitsplatz vernichtet wurde? Wo ganze Familien in Indien, auf den Philippinen, in Costa Rica oder sonstwo auf dieses Geld dringend angewiesen sind. Gibt es Anwälte, die sich für arme Kreuzfahrt-Bedienstete ins juristische Zeug schmeißen und für sie Entschädigungsgelder in vergleichbarer Höhe wie denen der Passagiere erstreiten werden? Daran darf wohl gezweifelt werden. Vielleicht ergeben sich ganz neue Wege bei der Schadensbearbeitung. Man stellt einem Großteil der Passagiere das Bordpersonal der Costa Concordia als Entschädigung für deren bord-übliches (sicher bezahlbares) Gehalt zur Verfügung für Arbeiten zu Hause. Für wenig Geld gibt’s dann ultra all inclusive in den eigenen vier Wänden in Bottrop, Magdeburg oder Passau. Das Personal hat weiterhin Arbeit, die Kinder in Indien damit was zu essen und man genießt noch eine Weile die entgangene Rundum-Versorgung wie auf dem Schiff. Es ist zwar daheim ohne Meer, aber man kann in der Regel auch nicht untergehen. Grund zum Nachdenken?

Und noch wer ist gar nicht weiter gefragt worden, das Meer. Der Untergang eines Schiffes wie der Costa Concordia ist sogar unabhängig des Gelingens des Abpumpens des Schweröls eine Umweltkatastrophe unglaublichen Ausmaßes. Mit unvorhersehbaren Folgen für das Meer, das Land, die Menschen. Und wohl auch für die Moral aller. Aber wer mag – bei so viel guten Gründen – darüber denn auch noch nachdenken?

Assunta Tammelleo