MÜNCHEN. (hpd) Nun haben sich allmählich die Medienwogen wieder geglättet. Die Suche nach weiteren Leichnamen der vermutlich 32 Toten im Wrack der Costa Concordia wurde eingestellt. Es ist jedoch kein Grund, sich zurückzulehnen, gibt es doch ganz andere Schiffskatastrophen, an die wir uns anscheinend schon gewöhnt haben.
Ein Kommentar von Assunta Tammelleo
„4/2012 Stern 33“ steht rechts unten auf der Illustriertenseite, sichtbar herausgerissen aus einer neueren Ausgabe eines berühmten deutschen Wochenmagazins, das sich den gesellschaftlichen Themen mindestens genauso verpflichtet fühlt wie den politischen. Die Seiten liegen, bereits gelesen und wohl nicht mehr benötigt, achtlos neben dem Altpapierbehälter in einer Arztpraxis.
Auf dem Foto über zwei Illustriertenseiten ist es erkennbar dunkel, also Abend oder Nacht. Das Riesenschiff, das drauf abgebildet ist, hängt deutlich schief und ist doch immer erkennbar groß, mächtig und irgendwie schön. Aber eben deutlich geneigt, in Richtung Betrachter…Die Costa Concordia, das 300 Millionen teure Aushängeschild der italienischen „Costa Crociere“, war gerade mal sieben Jahre alt. Fast eine Kleinstadt zu Wasser, mit Theater, Discos, Bars, Cafés… mit Swimmingpools, Restaurants, Fitnesscenter, Schönheitssalon.. und natürlich mit eigener Druckerei, Elektrowerkstatt und Hospital. Komfortable Unterkünfte verkaufte sie an 3780 Passagiere gleichzeitig und bot – vermutlich etwas weniger komfortable – den 1100 Mitgliedern der Crew. Eines der größten, neuesten und modernsten Kreuzfahrtschiffe der Welt. Vom Prospekt her so beschrieben, bei der persönlichen Inaugenscheinnahme so empfunden… unsinkbar. Auf dem Foto in der großen deutschen Wochenillustrierten allerdings gerade dabei, langsam, ziemlich sicher und irgendwie unaufhaltsam doch immer weiter unterzugehen…
Dieser Untergang – knapp hundert Jahre nach dem Untergang des immer noch berühmtesten Kreuzfahrtschiffs der Welt, der Titanic – hat sich seit Wochen einen festen Platz in den Schlagzeilen erobert. Vermutlich sind tragischerweise 30 Menschen bei dem Unglück gestorben. Ein furchtbares Unglück, eine Bankrotterklärung für die Traditionsreederei, eine sich anbahnende unglaubliche Umweltkatastrophe außerdem. Grund zum Nachdenken?
Gerade mal fünf Wochen war es zum Zeitpunkt des Unglücks her, da bestieg ich mit den Eltern meines Lebensgefährten, sozusagen als deren eingeladene Altenbetreuerin, in Savona die Costa Concordia. Eine Woche durchs Mittelmeer, von Savona nach Marseille, Barcelona, Palma di Mallorca, Cagliari (Sardinien), Palermo, Civitavecchia (der Hafen vor Rom) und wieder zurück nach Savona, bekanntermaßen zwischen der toskanischen Küste und Giglio durch. Mit demselben Schiff fuhren wir die genau gleiche Route unter dem genau gleichen Kapitän. Eine rüstige 85-jährige, ein gar nicht mehr rüstiger knapp 91-jähriger im zusammenklappbaren Rollstuhl und ich, die 50-Jährige. Vollkommen freiwillig begaben wir uns auf diesen Koloss von Schiff mit gut 3700 weiteren Passagieren. Für gerade mal Euro 699/Kabinenplatz eine Woche in Vier-Sterne-all-inclusiv-rund-um-die-Uhr-Betreuung auf dem Mittelmeer und vor den schönen Städten drum herum.
Zumindest der alte Herr hätte es im Falle einer Havarie wohl kaum aus eigener Kraft von Deck geschafft, da er ohne Aufzug zu Fuß durchs Treppenhaus im Wettbewerb um einen Platz im Boot vermutlich gegenüber jüngeren, dynamischeren und kräftigeren Menschen nicht konkurrenzfähig genug gewesen wäre. Und man kann ja nur spekulieren, wie viele echte Humanisten sich bei diesem Reisevergnügen gefunden hätten, die den alten Herrn ohne Rücksicht auf eigene Nachteile mal eben geschwind die Treppen hoch oder runter getragen und ins nächste verfügbare Rettungsboot gesetzt hätten… Doch der Zufall hat uns geschont, wir sind gesund und wohlbehalten zurück gekehrt und betrachten Theater, Restaurant und unsere Kabinen 7366 und 7425 (bzw. das, was von ihnen übrig ist) im Fernsehen, Zeitungen und Illustrierten. Glück gehabt…
Nicht nur die gut 30 Verunglückten hatten dieses Glück nicht. Das Mittelmeer ist sowieso – neben allem – durchaus ein Massengrab. Ein Schiffsunglück mit Toten ist eine menschliche Katastrophe, egal wo und wann; und egal auch, woher die Opfer kommen. Die Havarie der "Costa Concordia" vor Italien bringt nun einer breiten Öffentlichkeit nahe, wie lebensgefährlich ein Unglück im Mittelmeer sein kann, sogar nur wenige Meter von einer rettenden Küste entfernt. Dazu schreibt Dominic Johnson am 17.01. als Kommentar in der taz:
„ (…) Was die Kreuzfahrttouristen jetzt erlebt haben, ist ansatzweise Alltag von unzähligen Reisenden im Mittelmeer. Zehntausende von Menschen stechen jedes Jahr an der Mittelmeerküste in See, in überfüllte Fischerboote gedrängt, in seeuntauglichen Schlauchbooten unterwegs, ohne adäquate Ausbildung und Technik, ohne ausreichende Navigation und Verpflegung.
Sie unternehmen unter unvorstellbar prekären Bedingungen eine Fahrt, für die man in Deutschland Urlaub nimmt, und zahlen dafür teils mindestens genauso viel Geld. Es sind Bürgerkriegs- und Hungerflüchtlinge, Migranten und Abenteurer aus den Ländern südlich des Mittelmeers. Sie kommen aus halb Afrika, aus Teilen der arabischen Welt. Sie verschulden sich hoch in der Hoffnung, in Europa ein Auskommen zu finden, das ihren Familien in der Heimat aus dem Elend hilft. Sie wissen nicht, ob sie jemals an ihr Ziel kommen und was ihnen bei der Ankunft als Illegale blüht.
Hunderte, wenn nicht Tausende von ihnen enden als namenlose Leichen auf hoher See oder auf verlassenen felsigen Stränden. Tausende, wenn nicht Zehntausende von ihnen enden in der Unterwelt eines krisengeschüttelten Europas, das für sie weder Platz noch Menschlichkeit übrig hat.(…)“
Und viele von ihnen schaffen es kaum ein Mal, manche gar nicht, in die Schlagzeilen der westlichen Medien. Und ihr Schicksal – in vielfach hundertfacher Höhe der Tragödie vor Giglio - erreicht die Herzen der meisten Mitteleuropäer kaum. Grund zum Nachdenken?
Ultra all inclusive
Im modernen westlichen Leben lauert für die, die schon immer auf dieser Sonnenseite des Lebens waren, zurzeit kaum ernste Gefahr. Fernab von Kriegsgebieten, wenig belästigt durch Naturkatastrophen und in der Regel nicht am Hungertuch nagend können sich die Menschen hierzulande ganz anderen existenziellen Fragen gründlich widmen als in den meisten übrigen Teilen unserer blauen Kugel. Für den Großteil erschwinglich locken unzählige, preislich kaum schlagbare Angebote das Volk in Freizeit-Aktivitäten und Urlaub. Kaum zeichnen sich gerade mal ein oder zwei freie Tage im Kalender ab, geraten viele in Stress, wie sie doch diese sich abzeichnende Erlebnislücke im Alltag mit einem Wellness-, Selbsterfahrungs- oder Kurzreisetrip überbrücken können. Der Bedarf ist groß und die Angebote auch. Oder wars umgekehrt? Zahlreiche bunt bebilderte Prospekte, die jedem sogar ungebeten ins Haus flattern, bieten ganze Wochenenden in besten Häusern bei hervorragender Rundum-Verpflegung in wunderschönen Regionen zu solchen Spottpreisen an, dass man bisweilen nicht umhin kommt, sich auszurechnen, die eigene Wohnung aus Kostengründen aufzugeben und nur noch den Schnäppchen-Angeboten folgend von Workshop zu Workshop, von Hotel zu Hotel und von Kreuzfahrtschiff zu Kreuzfahrtschiff zu ziehen. Für alle, die nicht täglich an einem bestimmten analogen Arbeitsplatz sein müssen, eine echte kaufmännische Überlegung!
Nun sind wir zwar so vernunftbegabte Wesen, dass wir Glühbirnen entwickelt, Kreuzfahrtschiffe gebaut und den Mond persönlich bestiegen haben. Aber beim Buchen einer Kabine auf einem Schiff wie der Costa Concordia buchen wir das persönliche Recht auf Unversehrtheit – wie die übrigen 3779 Passagiere – natürlich mit, schnäppchenmäßig. Nie kämen wir auf die Idee uns zu überlegen, wohin im Falle eines großen Problems die gesamten über 4800 Leute an Bord eines solchen Kreuzfahrtriesen innerhalb kürzester Zeit erst mal hinlaufen sollen. Je billiger desto sicherer? Und obwohl fast alle wissen, dass beim Untergang der Titanic die zu wenigen Rettungsboote mit verantwortlich für die vielen Tote waren, macht sich kein Mensch die Mühe, die Zahl der – im übrigen auf der Concordia gut sichtbaren – Rettungsboote mal im Hinblick auf die tatsächliche Passagier-Anzahl grob zu prüfen.
Aber das ist noch nicht alles. Als wir an diesem schattigen 5. Dezember in Savona die Concordia bestiegen, wurde uns neben der Passagierkarte auch eine rote „emergency card“ ausgehändigt. Die war bei der unmittelbar nach dem Einstieg für die Zugestiegenen organisierten Rettungs- bzw. Notfallübung wieder abzugeben. Das war neu. Die Verantwortlichen der Reederei hatten erkannt, dass die Kreuzfahrtpassagiere im Vertrauen auf den Besitz ewigen Lebens zunehmend an den Übungen gar nicht erst teilnahmen. So vernunftbegabt waren sie wohl nicht, dass sie sich beim Besteigen eines solchen Riesen fragen hätten können, wie denn über 4800 Leute auf einen Schlag von einer eventuell sinkenden Concordia kommen sollten. Also hat die Reederei diese roten Karten erfunden, die man bei Erscheinen vor Ort an dem pro Kabinen-Reihe ausgewiesenen Platz im Falle von Seenot der Crew aushändigen musste. Anhand der Karten wurde geprüft, wer nicht gekommen war; es wurde dann versucht, die Abwesenden zu finden und zur Übung zu bringen. Zwingen kann man sie schließlich nicht. Und nicht wenige zogen den Besuch einer der zahlreichen Bars auf dem Schiff der Rettungsübung vor. Und die meisten nahmen – entgegen der eindeutigen Anweisungen in den Bordzeitungen – die mündlichen und schriftlichen deutlichen Hinweise auf die Notwendigkeit, sich die jeweiligen Sammelpunkte und Rettungswege wirklich zu merken, auch gar nicht ernst. Was sollte schon passieren, man war ja nicht auf einem Flüchtlingsboot unterwegs. Und haben wir nicht – sagen zumindest die Christen – sogar auch einen freien Willen? Grund zum Nachdenken?