BERLIN. (hpd) Mindestens 166 Adjektive zum Begriff Humanismus gibt es im deutschsprachigen Raum. Das geht aus einer neuen Veröffentlichung der Online-Fachschrift der Humanistischen Akademie hervor. Horst Groschopp, Direktor der Akademie und Autor des Beitrags, sprach im Interview über die Bedeutung dieser Vielfalt und Kennzeichen dieser Beiwörter.
Die vor kurzem veröffentlichte Sammlung der Fachschrift „humanismus aktuell“ wurde als Vorstudie zu einem Handbuch „Humanismus: Grundbegriffe“ erstellt, das 2013 im Akademie Verlag Berlin erscheinen soll. Groschopps Vorstudie ist ein alphabetisch geordnetes und kommentiertes Verzeichnis zum Wortgebrauch des Begriffs „Humanismus“ in deutschsprachigen Texten. Horst Groschopp stellte im Vorwort zum Verzeichnis fest: „Ein Blick in die Liste mit den 166 Adjektiven zeigt: Humanismus ist ein offenes System.“
Das spiegelte sich auch in den mitunter sehr widersprüchlich anmutenden Adjektiven wieder. Es finden sich Belege für Spezialisierungen zu einem militärischen, liebevollen oder auch konservativen Humanismus in der Liste. Ein weiterer Befund von Groschopp lautet schließlich, dass der Geschlechteraspekt bei künftigen Untersuchungen stärker beachtet würden müsse. „Weiblicher Humanismus“ komme zu kurz, so Groschopp.
Im Interview mit dem hpd sagt er, es sei verblüffend, „wo überall von Humanismus die Rede ist, ohne dass dies kommuniziert wird oder ein Zusammenhang besteht.“ Außerdem erinnert er daran, dass nicht jede Aneignung der Antike eine humanistische ist und meint: „Wer denkt, dass der ‚abendländische Humanismus‘ erledigt ist, irrt“.
hpd: Wie ist diese bemerkenswerte Sammlung eigentlich entstanden?
Dr. Horst Groschopp: Es gab schon immer eine lose Liste. Die hat dann so zugenommen, dass ich Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden und vor allem Verwendungsbelege wollte. Dann war eigentlich kein Adjektiv irgendwie unwichtig, weil hinter jeder Wortverbindung eine Geschichte, ein Beitrag zum Streit um Humanismus steht. Schließlich habe ich eine Anregung der losen Berliner Arbeitsgruppe Humanismusforschung aufgegriffen und im Zusammenhang mit einem Handbuch „Humanismus: Grundbegriffe“ die Arbeit abgeschlossen und auf „humanismus aktuell“ öffentlich gemacht, weil sich die Liste sicher leicht auf 200 erhöhen lässt, wenn man mag, und weil zur Debatte angeregt werden soll.
hpd: Gab es auch eine bemerkenswerte Feststellung im Zuge der Erarbeitung der 166 Adjektive zum Humanismus, außer der bloßen Menge?
Groschopp: Die Menge ist nicht das Problem. Aber wie relevant bestimmte Begriffe waren, welche nur historisch vorkamen und wo sie herkommen, war schon wichtiger. Dabei habe ich dort intensiver gesucht, wo etwas mit jetzigen Forschungsinteressen korrelierte, etwa welchen historisch sich voreinander abgrenzenden Bezug der von Klaus Mann 1935 auf dem Volksfront-Schriftstellerkongress in Paris vorgestellte Begriff des „sozialistischen Humanismus“ hatte zu dem katholischen „integralen Humanismus“ (Maritain), der wiederum eine gewisse Wirkung zeigte auf den „theonomen Humanismus“ im Umfeld des Widerstandes im „Kreisauer Kreis“ gegen Hitler, wo einiges 1945 die CDU erbte.
hpd: Lässt sich denn abschätzen, wie groß der Anteil an Humanismen ist, die sich auch in heutigen Humanismus-Diskursen wiederfinden? Falls ja, wie umfassend ist der Anteil und welche wären da besonders zu nennen?
Groschopp: Ich weiß nicht, ob der Begriff „Humanismen“ hier richtig ist. Es ist ja nur eine vorsichtig kommentierende und mit einer Einleitung versehene Sammlung von Adjektiven von „abendländisch“ bis „zweiter“. Um auf die Frage zu antworten, wäre eine Sammlung nötig, in denen „humanistisch“ als Adjektiv erfasst wird, sozusagen von „humanistische Arbeit“ bis „humanistischer Zweifel“. Oder auch Humanistische Union, Humanistischer Verband usw., und dann gibt es ja auch noch Zusammensetzungen wie „Humanismusperspektiven“ oder „Volkshumanismus“. Das alles zeigt, dass Humanismus kein totes Wort ist, sondern sich Menschen darüber verständigen, alltäglich wie wissenschaftlich.
hpd: Das war aber auch in der Vergangenheit der Fall. Michael Schmidt-Salomon mutmaßte trotzdem kürzlich, Julian Huxley etwa wäre heute trotz vieler Fortschritte auf technologischem Gebiet „zweifellos über das Ausmaß der ökologischen, ökonomischen und sozialen Probleme weltweit“ erschüttert. Es scheint, die Verständigung über Humanismus bzw. die Entwicklung von Adjektiven verbessere nicht unbedingt die Wirkung zentraler Ideen.
Groschopp: Ich habe gerade heute Huxleys Rede im Juni 1935 gelesen. Kein Wort über Humanismus, obwohl in Paris fast alle darüber reden. Ich weiß über ihn zu wenig, um mich auf das Zitat zu beziehen. Aber was findet sich denn heute wieder? Wer denkt, dass der „abendländische Humanismus“ erledigt ist, irrt, wie die gesamten Debatten in der Bundesrepublik mit ihren Folgen bis heute zeigen. Im Kalten Krieg gelang es den Konservativen, den „dritten Humanismus“ fortzusetzen, auch weil die Linken und die spätere DDR den Humanismus „besetzt“ hatten. Auf den Schultern eines antikommunistischen Zeitgeistes der westdeutschen bürgerlichen Eliten wurde so weiter gemacht wie bisher – nur ohne die Nationalsozialisten. Stichworte lauten hier Ernesto Grassi und Martin Heidegger.
Übrigens war auch der „christliche Humanismus“ in der DDR ein anderer als der in Westdeutschland, weshalb ich persönlich mit einem „säkularen Humanismus“, der nur westdeutsch intendiert ist, nicht viel anfangen kann.
hpd: Wie könnte man eigentlich zwischen humanistischen und unhumanistischen Verständnissen des Begriffs Humanismus unterscheiden?
Groschopp: Ich würde hier antihumanistisch sagen. Nicht jede Aneignung der Antike zum Beispiel ist eine humanistische, wie man das bei Nietzsche finden kann. Als allgemeine Merkmale der Unterscheidung würde ich nur drei nennen: erstens mangelnde Offenheit, also Tendenz zur Dogmatik; zweitens Fremdbestimmung des Menschseins, sei es durch Offenbarungen oder Prinzipien; und drittens Verwischung der Tier-Mensch-Grenzen. Hierüber gibt es sicher Streit, aber ein „advokatorischer Humanismus“ ist wohl keiner, weil Selbstvertretung des Menschen eine Art Grundsatz ist. Der Begriff „nichtmenschliche Tiere“ etwa öffnet in meinen Augen Schleusen zum Menschenverständnis zwischen „Untier“ bis „Untermensch“ – und zwar unabhängig von den möglichen humanistischen Intentionen der Benutzer, hier hieße ein Stichwort „Regeln für den Menschenpark“.
hpd: Aufgeführt wurde auch das Adjektiv „transhumanistisch“ und es wurde zugleich als „antihumanistisches“ Verständnis von Humanismus bezeichnet. „Antihumanistisch“ nennen auch katholische Bischöfe einen nichtreligiösen Humanismus, der auf Hypothesen zur Existenz von Göttern verzichtet. Weshalb wäre Transhumanismus nun ebenfalls antihumanistisch?
Groschopp: Der Papst und seine Theologen sind auf dem Weg der Rettung ihres Humanismusbildes. Wenn hier Wertungen übereinstimmen, müssen sie nicht falsch sein, auch wenn sie von anderen Annahmen ausgehen. Dieses Adjektiv ist von mir von „Transhumanismus“ abgeleitet worden, um diesen in meinen Augen Anti-Humanismus in der Liste zu haben. Das ist nicht ganz redlich. Es ist auch das einzige in der Liste, in der es nur eine Entsprechung gibt, die ich kenne und die ich nicht angeführt habe, weil sie mit der Intention nur bedingt etwas zu tun hat. Oliver Müller, ein Philosoph und Literaturwissenschaftler, hat in Freiburg im Juni 2009 einen Vortrag zum Thema mit dem Titel „Das Ende der Horrorshow – Beethovens 9. Symphonie als transhumanistischer Humanismus“ gehalten.
hpd: Was bliebe denn konkret daran auszusetzen?
Groschopp: Transhumanismus ist eine Kulturanschauung wie andere auch, die eine Veränderung der Menschen durch den Einsatz technologischer Verfahren befürworten, so etwa wie Ronald Bailey 2004 diesen „das kühnste, mutigste, visionärste und idealistischste Bestreben der Menschheit“ nannte. In meiner Rezension des Buches von Helmut Fink „Der neue Humanismus“ habe ich mich dazu geäußert. Das reicht mir erst einmal.
hpd: Sie bezeichneten es dort sogar als eine Perversion des Humanismus. Weshalb soll eine – in Ihren Worten – Kulturanschauung, die sich verstärkt der Technologie zur Aufhebung natürlicher und als Mängel empfundener Eigenschaften bei Menschen bedienen will, eine Perversion humanistischer Ideen sein?
Groschopp: Alle „Verbesserungen“ des Menschen gehen von diesem als einem Mängelwesen aus, was Menschen auch sind. Aber wissen zu wollen, nicht nur glauben zu wollen, was den Menschen „neu“ und „besser“ machen könnte, geht davon aus, dass jemand zu wissen vorgibt, wie es mir besser gehen könnte, z.B. dass ein Chip in meinem Gehirn mich mehr und schneller und länger denken lässt. Warum soll ich das wollen? Wohin führt das? Ich habe als Kind den sowjetischen Film der „Amphibienmensch“ gesehen, eine Umsetzung der Thesen von Paul Kammerer. Das galt lange Zeit auch als Wissenschaft – und war doch auch nur Kulturtheorie.
hpd: Die Vielfalt der zusätzlichen Charakterisierung zeigt wohl auch ein Bedürfnis, die möglichen Verständnisse genauer zu konkretisieren. Ist der Reichtum an Adjektiven aus Ihrer Sicht eher eine Lust oder eine Last, eher ein Problem oder eine Chance?
Groschopp: Dieser Reichtum ist eine Tatsache und die Humanistik, die Wissenschaft vom Humanismus, befasst sich mit Realitäten. Das muss man nehmen, wie es ist. Da fangen die Arbeiten erst an, die Deutungen sowieso.
hpd: Und ließ sich erkennen, welche Zusätze sich möglicherweise eher leicht oder eher schwer durchsetzen? Haben es regionalisierende Adjektive wie oberrheinisch oder ostdeutsch schwerer, erfolgreich zu werden als Adjektive, die ein Humanismus-Verständnis philosophisch bzw. religions- oder ideengeschichtlich konkretisieren wollen?
Groschopp: Da hatte immer jemand das Bedürfnis, eine humanistische Spezialität oder eine besondere Sicht als eine solche zu kennzeichnen. Das ist an sich schon der Beachtung wert, weil es um Konkretisierungen, aber auch um Abgrenzungen geht. Auffällig ist, dass hier internationaler gesehen wird und vielleicht ist das künftige Forschungszentrum in China. Dort gibt es ein größeres Interesse als hierzulande. Das hängt übrigens mit den Auswirkungen des „abendländischen Humanismus“ zusammen.
hpd: Inwiefern?
Groschopp: Das hiesige Verständnis ist sehr deutsch geblieben, siehe „Humanistisches Gymnasium“. Wir „wissen“, dass es einen hellenischen und einen römischen Humanismus gab, einen „Neuhumanismus“ usw. – doch woher wissen wir das? Weil Vorfahren von uns das Bedürfnis hatten, das so zu benennen, obwohl der Begriff „Humanismus“ nachweislich erstmals Ende des 18. Jahrhunderts benutzt wird – Martin Vöhler nennt 1798 – und zwar in Deutschland. Wie er dann um die Welt ging, das liegt ebenso im Dunkeln wie der Nachweis des Gegenteils, der eigenständigen Wortbildungen woanders. Für „humanism“ vor 1812 gibt es bislang keine Belege.
Eine wesentliche Frage ist, ob es woanders Begriffe gibt, z.B. in Afrika, die etwas Humanistisches ausdrücken, obwohl der Begriff unbekannt ist oder „verbrannt“ durch die Kolonialpolitik. Damit wird sich am 20. und 21. April 2012 in Berlin eine Tagung der Humanistischen Akademie beschäftigen.
hpd: Sehen Sie in der Liste einen Humanismus, der zukünftig eine deutlich größere Rolle als bisher spielen könnte?
Groschopp: Zunächst einmal verblüfft, wo überall von Humanismus die Rede ist, ohne dass dies kommuniziert wird oder ein Zusammenhang besteht. Ob Forscher einen bestimmten Humanismus favorisieren, wird wenig Einfluss darauf haben, welcher eine künftige Rolle spielen wird. Hier pflege ich zu sagen, da führt das Leben selbst Regie. Ich für meinen Teil würde mich an Thomas Mann halten, gerade in den gegenwärtigen Zeiten abnehmender Demokratie. Er meinte, es sei der über die bürgerliche Demokratie hinausgehende „soziale Humanismus“, um den das große Ringen gehe. Das sagte er Ende Mai 1945 in New York über die Perspektiven in Europa, sehr aktuell.
hpd: Wie soll nun eine weiterführende Aufarbeitung umgesetzt werden?
Groschopp: Die Humanistische Akademie hat bisher drei öffentliche Tagungen gemacht, in denen Fragen eines Handbuch-Projektes ausdrücklich diskutiert und vorgestellt wurden. Die nächste findet, wie oben gesagt, im April statt. In dem von mir herausgegeben Band „Humanistik“ der „Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Deutschland“, der Anfang März im Alibri Verlag erscheint, wird einiges konkretisiert.
hpd: Wo ließe sich an künftigen Diskussionen denn unmittelbar teilhaben?
Groschopp: Parallel zum Handbuch – hier sind Hubert Cancik, Horst Groschopp und Frieder Otto Wolf die Herausgeber – beginnt die Arbeit an einer „Enzyklopädie des Humanismus“, wie bereits 2010 in der Novembertagung der Humanistischen Akademie vorgestellt. Die Herausgeber dieses großen mehrjährigen internationalen Projekts werden wahrscheinlich Sorin Antohi, Hubert Cancik und Jörn Rüsen sein. Im April werden sie alle in Berlin in der Akademie über Humanismus öffentlich reden. Das Programm ist fast fertig und wird auf den Internetseiten der Akademie zu finden sein.
hpd: Herr Dr. Groschopp, vielen Dank für das Interview!
Die Fragen stellte Arik Platzek
Link: „Differenzierungen im Humanismus“