Junge Muslime: Umdeutung einer Studie

Die Politik

Unmittelbar nach der Berichterstattung durch die BILD-Zeitung haben sich verschiedene Politiker zu Wort gemeldet und die vermeintlichen Ergebnisse des Forschungsprojektes kommentiert.

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) sagte hierzu gegenüber der BILD-Zeitung: „Wir akzeptieren nicht den Import autoritärer, antidemokratischer und religiös-fanatischer Ansichten.“

Der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl sprach davon, dass die hohe Zahl nicht integrierter und auch nicht integrationswilliger Muslime „erschreckend“ sei und führte aus: „Diese Integrationsverweigerung muss nicht, aber kann den Nährboden für religiösen Fanatismus und Terrorismus darstellen.“

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte gegenüber BILD, es sei erschreckend, dass mehr als ein Fünftel der jüngeren deutschen Muslime eine Integration in Deutschland eher ablehne und warnte: „Parallelgesellschaften dürfen wir bei uns nicht dulden. Jeder, der auf Dauer in Deutschland leben will, muss sich klar zu unserer Gesellschafts- und Werteordnung bekennen. Wer bei uns bleibt, muss mit uns leben wollen.“

Sein niedersächsischer Amtskollege Uwe Schünemann (CDU) forderte mehr Maßnahmen gegen Radikalisierung und sagte gegenüber der BILD-Zeitung:
„Integrationsverweigerung – ob bei Muslimen oder Nicht-Muslimen – spaltet unsere Gesellschaft. Das dürfen wir keinesfalls hinnehmen! Staat, Gesellschaft und die Zuwanderer selbst stehen hier in der Pflicht.“

Thilo Sarrazin, Autor des Buches „Deutschland schafft sich ab“, kommentierte den Abschlussbericht des Forschungsprojektes gegenüber der Morgenpost Online: „Ich empfehle Sigmar Gabriel diese Studie als Fortbildungslektüre. Sie bestätigt glänzend die Analysen meines Buches und ist eine Aufforderung an die großen Parteien, die Wirklichkeit der muslimischen Einwanderung mit mehr Realismus und weniger Wunschdenken zu sehen.“

Interessant in diesem Zusammenhang: Ein ergänzender Teil des Forschungsprojektes beschäftigte sich mit der Frage, wie sich die Integration in Deutschland, vor und nach dem Erscheinen von Sarrazins Buch, vergleichend entwickelt hat. Im Abschlussbericht heißt es hierzu unter anderem: „Muslime, die nach dem Erscheinen seines Buches interviewt wurden, legten viel mehr Vorurteile und eine größere Ablehnung gegenüber Deutschland und dem Westen an den Tag als jene, die wir zuvor befragt hatten.“

Insgesamt zeigen sich die Autoren der Studie mehr als unzufrieden mit der medialen Berichterstattung und den Reaktionen aus der Politik.

Die Autoren

Professor Wolfgang Frindte von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena sagte in Bezug auf die Medienberichte über das Forschungsprojekt unter anderem: „Manche Journalisten suchen sich bei komplexen Dingen das heraus, was spannend ist und in die Philosophie des Mediums passt. In unserem Team hat es nach der Veröffentlichung in einer Boulevardzeitung große Entrüstung gegeben, sogar Verzweiflung. Da wurde ein Detail der Studie auf eine Weise in die Öffentlichkeit getragen, dass sich die von uns befragten Muslime missbraucht fühlen könnten – das ist traurig.“

Frindte verwies darauf, dass die geringe Bereitschaft eines Teils der jungen Muslime sich mit der deutschen Kultur zu identifizieren auch damit zusammenhängt, dass sie sich als Gruppe diskriminiert fühlen und führte hierzu Studien an, die zeigen, dass 20 bis 25 Prozent der Deutschen dem Islam oder Muslimen ablehnend oder feindlich gegenüberstehen.

In Bezug auf die angebliche Gewaltbereitschaft junger Muslime sagte er darüber hinaus: „Nein. Es geht nicht um die persönliche Gewaltbereitschaft. Die betroffenen Muslime sind der Meinung: Wenn es so weit kommt, dass die westliche Welt sie unterdrückt, dann würden sie unter Umständen auch Gruppengewalt als legitimes Mittel betrachten, um sich zu verteidigen. Und es ist noch eine ganz andere Frage, wie sie diese Einstellung im realen Verhalten umsetzen würden.“

Der Bremer Sozialwissenschaftler Klaus Boehnke beklagt eine „völlige Verfälschung der Ergebnisse“ durch Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich. Die Mitarbeiter der beteiligten Institute seien aufgrund der öffentlichen Darstellung der Ergebnisse durch den CSU-Politiker niedergeschlagen gewesen und hätten schlaflose Nächte hinter sich.

Der Psychologe Peter Holt kommentierte die Gruppendiskussionen mit 56 Teilnehmerinnen und Teilnehmern: „Besonders bewegt hat mich die Reaktion eines älteren Vertreters der “Gastarbeitergeneration”, der mich gefragt hat, warum wir nicht 20 oder 30 Jahre früher gekommen sind. Er war fast zu Tränen gerührt, dass sich nun endlich jemand für seine Geschichte, seine Gefühle, seine Sicht der Dinge interessiert.

Ein jüngerer Diskussionsteilnehmer sagte darauf: “Egal was Ihr wollt und egal was Ihr macht, letztendlich heißt es doch wieder so und so viele Muslime sind radikal und wollen sich nicht integrieren.” Spätestens ab diesem Zeitpunkt wurde es für mich auch zum Ziel, diesen Menschen, über die in Deutschland so viel geredet wird und mit denen so wenig geredet wird, durch meine Arbeit eine Stimme zu geben.“
Er stellt sich angesichts der öffentlichen Reaktionen auf die Studie vor die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, gar nichts zu tun und gar nichts zu sagen. Seine Antwort: „Vielleicht. Wenigstens hätte ein Thilo Sarrazin dann nicht Beifall geklatscht!“

Die am Forschungsprojekt beteiligten Wissenschaftler waren sich der Risiken bewusst, die grundsätzlich mit der empirischen Beschäftigung mit dem Islam und der Integration von Muslimen in Deutschland verbunden sind. Um einer einseitigen Interpretation durch Medien und Politik entgegenzuwirken, stellten sie den einzelnen Kapiteln des Abschlussberichtes Zitate von Goethe voran, in denen sich der Dichter mit dem Umgang mit Fremden und mit Toleranz beschäftigt. So heißt es zu Beginn des dritten Kapitels, in dem die Ergebnisse der standardisierten Telefonbefragung vorgestellt werden: „Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein; sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen“

Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit

Das Forschungsprojekt hat sich differenziert und umfassend mit der Frage beschäftigt, unter welchen Kriterien sich junge Muslime in Deutschland, auf der Grundlage ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen, als integriert, radikalisiert oder extrem islamistisch beurteilen lassen.

Im Ergebnis hat sich gezeigt, dass vor allem die gruppenbezogene Diskriminierung Ursache von Demokratiedistanz, Vorurteilen gegenüber dem Westen, Geringschätzung der demokratischen Verfassung oder grundsätzlicher Akzeptanz von Gewalt sein kann. Mit einer Konsequenz, die es schwer macht, nicht an eine geplante Kampagne zu glauben, haben die BILD-Zeitung, die deutschen Presseagenturen und Medien und die konservativen Kreise der Politik die Studie missbraucht, um mit ihren angeblichen Ergebnissen genau diese Form der gruppenbezogenen Diskriminierung zu bedienen.

Kaum jemand wird sich die Mühe machen, die 764 Seiten der Studie aufmerksam zu lesen und so zu einer differenzierten Betrachtung zu gelangen. In der Öffentlichkeit bleibt hauptsächlich der BILD-Schlachtruf von der „Schock-Studie“ hängen, der suggeriert, dass es sich bei einem Viertel der ohne deutschen Pass in Deutschland lebenden Muslime um Menschen handelt, die radikal, integrationsunwillig und gewaltbereit sind.

Ich möchte abschließend auf einige Ergebnisse des Forschungsprojektes „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ aufmerksam machen. Im Rahmen des Projektes werden jährlich 3.000 Personen in Deutschland über menschenfeindliche Einstellungen befragt.

Im Jahr 2007 vertraten 12,6 Prozent der Befragten die Auffassung, dass die Weißen zu Recht führend in der Welt seien. 54,7 Prozent sprachen sich dafür aus, dass zu viele Ausländer in Deutschland leben würden. 15,6 Prozent waren der Meinung, dass die Juden in Deutschland zu viel Einfluss hätten. 31,3 Prozent empfanden Ekel, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen. 15,3 Prozent betrachteten Homosexualität als unmoralisch und 35,4 Prozent sprachen sich gegen die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Ehen aus.

38,8 Prozent gaben an, dass ihnen Obdachlose in Städten unangenehm seien. 32,9 Prozent waren der Auffassung, Obdachlose seien arbeitsscheu und 34 Prozent waren der Meinung, man solle Obdachlose aus den Fußgängerzonen entfernen. 7,7 Prozent waren der Auffassung, viele Forderungen von Behinderten seien überzogen. 12,7 Prozent fanden, dass in Deutschland zu viel Aufwand für Behinderte betrieben werde. 49,3 Prozent sagten, dass die meisten Arbeitslosen nicht wirklich daran interessiert seien, einen Job zu finden. 60,8 Prozent fänden es empörend, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Gesellschaft ein bequemes Leben machten.
Nach einer repräsentativen Umfrage von Infratest Dimap aus dem Jahr 2010 stimmten 37 Prozent der Befragten der Aussage: „Ein Deutschland ohne Islam wäre besser“ zu. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus demselben Jahr kommt zu dem Ergebnis, dass mehr als 58 Prozent der Befragten die Auffassung vertreten, dass das Grundrecht auf freie Religionsausübung für Muslime „erheblich eingeschränkt“ werden sollte.

Entnimmt man der Studie über die „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ nur das Teilergebnis, dass die Integrationsbereitschaft in einem direktem Zusammenhang mit gruppenbezogener Diskriminierung steht und führt man sich anhand der Untersuchung zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ das hohe Maß an Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in unserer Gesellschaft vor Augen, dann kann man nur zu einer Einsicht gelangen: Die 2,5 Prozent (deutsche Muslime), bzw. 2,6 Prozent (nichtdeutsche Muslime), die zur Gruppe „radikaler Fundamentalisten und Rechtfertiger ideologisch fundierter Gewalt ohne Integrationsneigung“ gezählt werden können, fallen erstaunlich und erfreulich niedrig aus.

Jacob Jung