Junge Muslime: Umdeutung einer Studie

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Moschee in Berlin, Foto: Nour el houda

BERLIN. (hpd) Seit einigen Tagen ist die öffentliche Integrationsdebatte vor dem Hintergrund eines aktuellen Forschungsprojektes des Innenministeriums neu entfacht worden. Die BILD-Zeitung hatte die Untersuchung als „Schock-Studie“ bezeichnet, einen Teilaspekt herausgegriffen, umgedeutet und zur populistischen Hetze gegen Muslime in Deutschland missbraucht.

Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit dem Forschungsprojekt selber und seiner zentralen Fragestellung, mit der medialen Berichterstattung, den Statements konservativer Politiker und den Versuchen der Autoren, dem Missbrauch der Ergebnisse entgegenzuwirken.

Die Studie

Im Jahr 2009 hat das Bundesministerium des Innern, damals noch unter Innenminister Thomas de Maizière, ein mehrjähriges Forschungsprojekt in Auftrag gegeben. Hieran waren Psychologen, Soziologen und Kommunikationswissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der Jacobs University Bremen, der Johannes Kepler Universität Linz und der „aproxima Gesellschaft für Markt- und Sozialforschung Weimar mbH“ beteiligt.

Unter dem Titel „Lebenswelten junger Muslime in Deutschland“ veröffentlichte das Ministerium am vergangenen Donnerstag (1. März) den insgesamt 764 Seiten umfassenden Abschlussbericht des Projektes. (Der originale Bericht kann hier vollständig heruntergeladen werden.)

Die zentrale Fragestellung des Forschungsprojektes lautete: “Welche Kriterien lassen sich empirisch begründen, um junge Muslime in Deutschland auf der Grundlage ihrer Einstellungen und Verhaltensweisen als integriert beziehungsweise radikalisiert und unter Umständen extrem islamistisch beurteilen zu können?”

Es war nicht Gegenstand des Forschungsprojektes zu ermitteln, wie viele junge Muslime in Deutschland als integriert, radikalisiert oder extrem islamistisch beurteilt werden können. Die Fragestellung war qualitativ und nicht quantitativ und dementsprechend fiel auch das Forschungsdesign aus.

Die beteiligten Wissenschaftler absolvierten den Forschungsauftrag in insgesamt vier Schritten. Den ersten Schritt bildete eine Mehrgenerationenfallstudie, in deren Rahmen ausgedehnte Interviews mit sechs Familien geführt wurden. Diese Fallstudie diente vorrangig dem Zweck, qualitative Erkenntnisse zur Vorbereitung einer quantitativen Befragung zu gewinnen, die sich im zweiten Schritt anschloss.
Hierzu wurden, im Rahmen standardisierter Telefoninterviews, Muslime und Nichtmuslime im Alter zwischen 14 und 32 Jahren befragt. Die Befragung vollzog sich in zwei Phasen. In der ersten Phase wurden insgesamt 923 Teilnehmer interviewt. Hierbei handelte es sich um 206 deutsche Nichtmuslime, 200 deutsche Muslime und 517 nichtdeutsche Muslime. In der zweiten Phase wurden 439 Teilnehmer einbezogen, hierunter 100 deutsche Nichtmuslime, 89 deutsche Muslime und 250 nichtdeutsche Muslime.

In diesem zweiten Schritt ging es den Wissenschaftlern vor allem darum, Zusammenhänge zwischen Integrationsbefürwortung, Demokratiedistanz, Radikalisierung oder Akzeptanz ideologisch fundierter Gruppengewalt auf der einen und autoritärer Einstellung, Werteorientierung oder persönlicher und gruppenbezogener Diskriminierung auf der anderen Seite herzustellen.

Ergänzt wurde das Forschungsprojekt durch zwei weitere Schritte: Zum einen eine Betrachtung muslimischer Internetforen und die Durchführung von Diskussionen innerhalb von Fokusgruppen mit jungen Muslimen und zum anderen eine Analyse der öffentlichen Medienberichterstattung in Bezug auf den Umgang mit dem Islam.
An mehreren Stellen innerhalb des Abschlussberichtes betonen die Autoren, dass es sich um eine qualitative Untersuchung handelt, in deren Vordergrund inhaltliche Aspekte stehen: „Wichtig ist an dieser Stelle, noch einmal darauf hinzuweisen, dass diese und die folgenden Prozentangaben keinesfalls weder auf alle in Deutschland lebenden Muslime im Allgemeinen noch auf alle in Deutschland lebenden jungen Muslime im Alter von 14 bis 32 Jahren hochgerechnet werden können und dürfen.“

Die Medien

Am vergangenen Mittwoch (29. Februar) veröffentlichte die BILD-Zeitung in ihrer Online-Ausgabe um 14.26 Uhr einen Artikel unter dem Titel: „Nach Schock-Studie: Innenminister warnt radikale Muslime – Junge Muslime verweigern Integration“.

In dem Beitrag bezog sich das Blatt auf die Studie, die ihr nach eigenen Angaben vorab und exklusiv vorlag. Die Veröffentlichung fand einen Tag vor der offiziellen Publikation des Abschlussberichtes durch das Bundesinnenministerium statt und damit auch bevor die Studie einem der verantwortlichen deutschen Verbände, der zuständigen Politiker oder der inhaltlich verknüpften Organisationen vorgelegt wurde.
Die Verfasser des Abschlussberichtes waren über die Vorab-Veröffentlichung in der BILD-Zeitung nicht informiert worden. Und obwohl Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich behauptet, er wüsste nicht, woher das Blatt die entsprechenden Informationen hatte, kommentierte er am selben Tag gegenüber der BILD-Zeitung das vermeintliche Ergebnis des Forschungsprojektes.

Der Artikel in der BILD-Zeitung behauptet, dass gut 20 Prozent aller Muslime in Deutschland eine Integration ablehnen und dass junge Muslime ohne deutschen Pass besonders radikal sind. Darüber hinaus heißt es, dass jeder vierte nichtdeutsche Muslim tendenziell gewaltbereit ist und westliche Werte in Frage stellt.

Diese populistisch präsentierten Zahlenwerte sind eine Karikatur der tatsächlichen Untersuchungsergebnisse. Im quantitativen Teil des Abschlussberichtes wird zwischen Muslimen mit deutschem Pass und nichtdeutschen Muslimen unterschieden. Deutsche Muslime befürworten hiernach zu 78 Prozent die Integration mehr oder weniger. 22 Prozent nehmen eine eher zurückhaltende, die eigene Herkunftskultur betonende Haltung ein. 15,4 Prozent lassen sich als „streng religiös mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenz“ bezeichnen, 6,8 Prozent zählen zu der Gruppe der „religiösen Kritiker des Westens ohne Integrationsneigung“ und bei 2,5 Prozent handelt es sich um „radikale Fundamentalisten und Rechtfertiger ideologisch fundierter Gewalt ohne Integrationsneigung“.

Aus diesem Zahlenmaterial leitet die BILD-Zeitung ab, dass „gut 20 Prozent aller Muslime in Deutschland eine Integration ablehnen“. In Wirklichkeit liegt allerdings der Anteil der, „radikalen Fundamentalisten und Rechtfertiger ideologisch fundierter Gewalt ohne Integrationsneigung“ bei 2,5 Prozent und damit bei insgesamt vier (!) Personen unter allen befragten deutschen Muslimen.

Unter den in Deutschland lebenden Muslimen ohne deutschen Pass befürworten 55 Prozent die Integration mehr oder weniger. 22,3 Prozent werden als „Kritiker des Westens mit stärkerer Integrationstendenz“ eingestuft. 23,8 Prozent lassen sich als „streng religiös mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenz“ bezeichnen und 2,6 Prozent werden im Abschlussbericht als „radikale Fundamentalisten und Rechtfertiger ideologisch fundierter Gewalt ohne Integrationsneigung“ betrachtet.

Hieraus leitet die BILD-Zeitung ab, dass „jeder vierte nichtdeutsche Muslim Integration ablehnt, tendenziell gewaltbereit ist und westliche Werte in Frage stellt“. In Wirklichkeit liegt der Anteil der „radikalen Fundamentalisten und Rechtfertiger ideologisch fundierter Gewalt ohne Integrationsneigung“ auch in dieser Gruppe bei lediglich 2,6 Prozent. Dies sind gerade einmal 12 (!) Personen unter allen befragten nichtdeutschen Muslimen.

Um die Ergebnisse zutreffend einschätzen zu können, ist es unabdingbar, die exakten Definitionen der Wissenschaftler zu den jeweils erhobenen Einstellungen und Auffassungen zu kennen. Radikalität bezeichnet innerhalb der Studie beispielsweise eine distanzierte und eher kritische Einstellung gegenüber westlichen Systemen, während die „tendenzielle Gewaltakzeptanz“ nichts mit einer persönlichen Neigung zu Gewalttätigkeit zu tun hat sondern lediglich ermittelt, wie der Befragte darüber denkt, wenn Muslime als Gruppe sich mit Gewalt gegen eine Bedrohung der islamischen Welt durch den Westen verteidigen.

Aus einer Zustimmung hierzu leitet die BILD-Zeitung eine „tendenzielle Gewaltbereitschaft“ ab, die sie einem Viertel der nichtdeutschen Muslime unterstellt.
Besonders bedenklich in diesem Zusammenhang: Innerhalb weniger Stunden nach der Veröffentlichung der BILD-Zeitung und ohne den Abschlussbericht der Studie überhaupt gelesen zu haben, übernehmen die Nachrichtenagenturen in Deutschland die Auffassung des Blattes.

Bei der dpa heißt es „Jeder vierte nichtdeutsche Muslim lehnt Integration ab“, die dapd schreibt „Studie: Ein Viertel aller junger Muslime nicht integrationswillig“ und bei der AFP kann man nachlesen: „Ein Viertel aller jungen Muslime ohne deutsche Staatsbürgerschaft ist einer Studie im Regierungsauftrag zufolge latent gewaltbereit und nicht an Integration in Deutschland interessiert.“