(hpd) Rüdiger Nehberg, in den 70er-Jahren als würmerfressender Bäcker aus Hamburg bekannt geworden, ist längst nicht mehr nur Deutschlands Survival-Papst, sondern seit über 30 Jahren Menschenrechtsaktivist. Im Interview erzählt Nehberg von seinem Rezept für ein erfülltes Leben und von seiner Arbeit mit dem Islam gegen Genitalverstümmelung. Er zeigt auch, dass – mit dem entsprechenden Respekt und auf Augenhöhe – der Islam durchaus dialogfähig ist.
Zuerst setzte sich Nehberg 18 Jahre lang für die Yanomami-Indianer in Brasilien ein und machte durch spektakuläre Atlantiküberquerungen und erschütternde Filmdokumente auf ihre Bedrohung durch Goldsucher aufmerksam – so lange bis sich Brasilien dem dadurch ausgelösten internationalen Druck nicht mehr verschließen konnte und die Yanomami einen akzeptablen Frieden erhielten.
Danach hat sich Rüdiger Nehberg dem Brauch weiblicher Genitalverstümmelung (FGM = Female gender mutilation) zugewandt und kämpft seit über zehn Jahren mit seiner eigenen Menschenrechtsorganisation TARGET für ein Verbot dieses Brauches. Er beschreitet hierbei einen Weg, den keiner für erfolgversprechend hielt, weil der Islam „nicht dialogfähig“ sei. Rüdiger Nehberg vertraut der Kraft des Islam und ersucht die islamischen Geistlichen um ihre Unterstützung, weil 90 % der Verstümmelten Musliminnen sind und der Brauch fast immer – fälschlicherweise – mit dem Koran begründet wird.
Sein Erfolg gibt ihm Recht. Durch sein Engagement konnte TARGET bereits in drei Ländern Wüstenkonferenzen mit den religiösen und politischen Stammesführern abhalten, in deren Verlauf die Tradition der sogenannten Beschneidung von Frauen und Mädchen zur Sünde erklärt wurde.
TARGETs bisher größter Erfolg war eine internationale Konferenz mit hochrangigen islamischen Gelehrten an der Al-Azhar in Kairo. Die Azhar ist Moschee und Universität sowie geistliches Zentrum des sunnitischen Islam – vergleichbar dem Petersdom in Rom für die Christen. Auf dieser Konferenz erklärten die Geistlichen den Brauch der weiblichen Genitalverstümmelung zur Sünde und schrieben dies in der „Fatwa von Kairo“, einem verbindlichen religiösen Rechtsgutachten, fest.
Jetzt muss die Kunde davon noch alle betroffenen Menschen erreichen – auch die, die völlig abgeschieden leben. Daran arbeitet Rüdiger Nehberg mit der ihm eigenen Energie und Ideenfülle.
Im Interview erzählt Nehberg von seiner Arbeit als Menschenrechtsaktivist und den Erfahrungen, die er als Mensch mit einem erfüllten Leben anderen mitgeben möchte.
hpd: Sie haben Beeindruckendes geleistet in Ihrem Leben, nicht nur viele Abenteuer erlebt, sich als „Sir Vival“ einen Namen gemacht, sondern auch seit 30 Jahren als Menschenrechtsaktivist viel bewegt. Wir würden gerne Ihr „Rezept“ für das Leben ein bisschen beleuchten. Und wir fangen an, mit den Leuten, die 1000 Ideen haben, aber den Anfang schwer oder manchmal vielleicht auch gar nicht finden. Was würden Sie ihnen als Tipp geben? Haben Sie so eine Art Trainingsprogramm?
Nehberg: Ja. Zunächst würde ich sagen, sie müssen die eigenen Fähigkeiten richtig einschätzen. Wer sich überschätzt und denkt, er könne die ganze Welt verbessern, wird Schiffbruch erleiden. Am besten ist es, klein anzufangen, sich zu beschränken und auf dem möglichen ersten Erfolg aufzubauen. So habe ich mich in Brasilien nur um die Yanomami-Indianer gekümmert und nicht auch noch um die 220 anderen Völker. Die politischen und kulturellen Unterschiede zwischen allen waren so gravierend, dass ich mich verzettelt hätte.
hpd: Wie finden Sie denn Ihr Thema und wie wissen Sie, dass es nicht noch etwas Anderes gibt, was vielleicht interessanter wäre?
Nehberg: Etwas Interessanteres gibt es natürlich immer. Man muss Prioritäten setzen und sich entscheiden. Bei mir war es das Drama um den drohenden Völkermord an den Yanomami. Brasilien behauptete, sie seien geschützt, brasilianische Menschenrechtler behaupteten, sie seien durch eine Armee von Goldsuchern bedroht. Da bin ich hingegangen, um mir einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Meine Motive waren zunächst Neugier und Abenteuerlust. Als ich dann Augenzeuge ihrer Vernichtung wurde, begann mein Engagement. Dass es 20 Jahre währen würde, dass ich meine Konditorei verkaufen würde, das ahnte ich nicht. Das entwickelte sich.
Zunächst schrieb ich ein Buch. Naiv wie ich manchmal bin, dachte ich, wenn Herr oder Frau UNO das lesen, setzt die Hilfe von selbst ein. Da hatte ich mich getäuscht, das Buch bewirkte nichts. Daraufhin nutzte ich mein Wissen um Survival und begann mit spektakulären Aktionen, die für die Medien interessant wurden. Über sie erfuhr ich millionenfache Verbreitung, und ganz allmählich wuchs eine Lobby heran. Mein Abenteuer hatte einen Sinn erhalten.
Geradezu Erfüllung erfuhr es, als ich mich des Themas Weibliche Genitalverstümmelung annahm. Als ich hörte, dass es falsch mit dem Koran begründet wurde, täglich weltweit 8000 Mädchen verstümmelt wurden und 90% der Opfer Muslimas waren, da stand der Plan fest. Ich wollte die Ethik und Kraft des Islam nutzen, um den Brauch zu einem Verbrechen erklären zu lassen. Obwohl auch Christen und andere Glaubensrichtungen ihren Mädchen diese Schande antun, habe ich mich beschränkt auf die Kooperation mit den höchsten Glaubensführern des Islam. Als deutsche Menschenrechtsorganisationen die Idee als aberwitzig abtaten („Der Islam ist gar nicht dialogfähig!“) und eine Zusammenarbeit unmöglich war, habe ich auf Anraten von Amnesty International und Greenpeace meine eigene Organisation gegründet, um von Bedenkenträgern, Pseudo-Kompetenten und Feiglingen unabhängig zu sein und meine karge Restlebenszeit nicht mit solchen Menschen zu vertrödeln.
Schnell waren wir sieben Eingeschworene, und der Verein TARGET war gegründet. Zu ihnen zählten vor allem meine Frau Annette und mein alter Weggefährte Klaus Denart, Gründer von Globetrotter-Ausrüstung Hamburg. Aber noch hatten wir keinen Moslem gefragt, ob er die Idee überhaupt gut fände. Ich vertraute auf meine Erfahrungen in früheren Jahren. Ich war viel in islamischen Ländern. Mit dem Fahrrad und mit eigenen Karawanen. Zweimal retteten mir meine Nomadenbegleiter bei Überfällen das Leben. Mit ihren Körpern als lebende Schilde! Eine vergleichbare Gastfreundschaft habe ich nirgends in der Welt gefunden. Das verpflichtet. Ich schulde dem Islam Dank. Unser erster Befürworter war Dr. Nadeem Elyas, Vorsitzender des Zentralrates der Muslime in Deutschland. Es war schwer, einen Termin bei ihm zu bekommen. „In vier Monaten“, schlug er vor. „Wir brauchen nur 15 Minuten“, bat ich, „wir können überall hinkommen.“ „Dann können Sie Donnerstag kommen in die Lounge des Kölner Hauptbahnhofs. Dort muss ich auf den Anschlusszug warten.“ Wir trugen ihm unsere Idee vor. Die Antwort: „Das ist genial, machen Sie das!“ Dauer des Gesprächs: zehn Minuten. Und so ging es weiter. Wohin wir kamen: Offenheit, Gesprächsbereitschaft, Kooperation, Umdenken.