„Das ist für uns nicht hinnehmbar“

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Rolf Stöckel.

BERLIN. (hpd) Am Freitag wird das Bundesministerium der Justiz eine Anhörung zur gesetzlichen Regelung der Beschneidung von einwilligungsunfähigen Jungen durchführen. Rolf Stöckel, Vorstandssprecher der Deutschen Kinderhilfe, sprach im Interview mit dem hpd über die vorgestern vom Ministerium vorgestellten Eckpunkte und Regelungstexte zur Beschneidung.

Ende Juni hatte sich die Deutsche Kinderhilfe als erste Kinderrechtsorganisation in Deutschland zu den Reaktionen von Vertretern der Religionsgemeinschaften auf das sogenannte Beschneidungsurteil des Landgerichts Köln zu Wort gemeldet und die Verharmlosung der Jungenbeschneidung kritisiert.

 

hpd: Am Dienstag sind den an der Kontroverse beteiligten Organisationen die Eckpunkte für einen Gesetzesentwurf zugestellt worden, der die Beschneidung von einwilligungsunfähigen Jungen straffrei stellen soll.  Wie beurteilt die Kinderhilfe die vorgelegten Eckpunkte und den Regelungstext?

Rolf Stöckel: Die Deutsche Kinderhilfe hat den Vorschlag des Justizministeriums zur Straffreiheit von Beschneidungen gestern scharf kritisiert. Das wäre gesetzlich legitimierte Kindermisshandlung durch Laien. Der Vorschlag widerspricht der UN-Kinderrechtskonvention und dem deutschen Grundgesetz. Das ist genau der „Schnellschuss“, den wir erwartet haben.

Auch der Hinweis auf die Regeln der ärztlichen Kunst und eine wirkungsvolle Schmerzbehandlung, bestätigt unsere Sicht, dass es sich nämlich keineswegs um einen harmlosen sondern um einen schmerzhaften, risikobehafteten und nachhaltigen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit von Kindern handelt. Dies würde immerhin die geläufige Praxis orthodoxer Traditionen  der Jungenbeschneidung ohne Betäubung und medizinische Standards verbieten und unter Strafe stellen.

Der Grundwiderspruch dieser juristischen Konstruktion wird hier aber besonders deutlich. Dieser Entwurf schafft nur scheinbar mehr Rechtssicherheit für Ärzte und Eltern und klärt nicht, warum die Genitalverstümmelung von Mädchen verboten und von Jungen erlaubt sein soll. Dieses „Sondergesetz“  würde  im Kindschaftsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuches neben dem Recht auf eine gewaltfreie Erziehung stehen, das besonderen Wert auf die Aufklärung der Eltern über die schädlichen Auswirkungen und  die Ächtung körperlicher und seelischer Gewalt gegen Kinder legt. Ein Rückschritt und Widerspruch, der uns in den Bemühungen um ein zeitgemäßes Kindschaftsrecht und eine kinderfreundlichere Gesellschaft um Jahrzehnte zurückwirft. Die Verpflichtung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Kinderrechtekonvention wird mit diesem Vorschlag ad absurdum geführt, während die Parteien gleichzeitig über die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz diskutieren. Das ist für uns nicht hinnehmbar.

 

Die Deutsche Kinderhilfe hatte unter anderem eine Petition an den Bundestag initiiert, die ein zweijähriges Moratorium für die gesetzliche Regelung und die Einrichtung eines Runden Tisches fordert. Haben Sie angesichts der derzeitigen Pläne in der Politik den Eindruck, dass die Rufe nach Achtung der Rechte betroffener Kinder im Bundesjustizministerium erhört wurden?

Stöckel: Unsere Kritik wurde immerhin gehört, denn wir sind mit einigen weiteren Kinderrechtsorganisationen zu der Expertenanhörung über die Eckpunkte am 28. September eingeladen. Das Bundesjustizministerium handelt ja so überstürzt und offensichtlich selbst wenig davon überzeugt, weil es der  Mehrheitsbeschluss im Bundestag vom 19. Juli so vorgibt. Ein Gesetzentwurf der Regierung ist das aber noch nicht, weil das Familienministerium bereits auch mit kinderrechtlichen Argumenten die Eckpunkte des BMJ kritisiert hat. Ebenfalls lehnen die Kinderbeauftragten im Bundestag, Rupprecht (SPD), Doerner (Bündnis90/die Grünen) und Golze (Die Linke) die Eckpunkte ab.

Um den Druck auf Regierung und Parlament zu verstärken, brauchen wir bis zum 11. Oktober  unbedingt mehr Unterstützer, Werbung und Mitzeichner für unsere Petition sollte von allen Verbänden, die dabei sind breit gestreut werden damit wir das Quorum von 50.000 Mitzeichnern noch erreichen.

 

Im vom Ministerium vorgestellten Regelungskomplex wird interessanterweise nicht auf eine religiöse Motivation abgestellt. Es scheint, dass das Bundesjustizministerium tatsächlich plant, die Jungenbeschneidung in den ersten sechs Monaten generell frei zu stellen.

Stöckel: Immerhin bestätigt der Verzicht auf die Begründung einer rechtskonformen Körperverletzung von nichteinwilligungsfähigen Kindern  mit  der Religionsfreiheit  bzw. dem Elternrecht auf religiöse Erziehung unsere Auffassung, dass die Praxis aller Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften nach dem Grundgesetz rechtstaatlichen Regeln unterliegt.  Dass es in Deutschland, würde der Entwurf geltendes Recht, ein Sondergesetz  für  Jungen bis zum Alter von sechs Monate geben soll, an denen diese Körperverletzung straffrei von speziell nur zu diesem Zweck von einer Religionsgemeinschaft ausgebildeten Beschneidern vorgenommen werden dürften – bei den Jüngsten und Schwächsten  sollen die Regeln der ärztlichen Kunst also nicht gelten – ist mit unserer Rechtsordnung nicht vereinbar.

 

Meinen Sie, dass eine zügige gesetzliche Regelung der Jungenbeschneidung dazu geeignet ist, die gesellschaftliche Debatte zu entschärfen, wie es immer wieder heißt?

Stöckel: Nein, die Art und Weise, wie das jetzt durchgezogen werden soll, provoziert geradezu Grundsatzdebatten und gesellschaftliche Auseinandersetzungen über die subjektive Rechtsstellung von Kindern, Elternrecht, Medizinrecht, den Lehren aus der deutschen Geschichte und die Konflikte zwischen Rechtsstaat und Religionsausübung. Die Rechtssicherheit, die hier scheinbar schnell hergestellt werden soll, schafft in Wirklichkeit mehr Unsicherheit und Konflikte, wenn wir etwa an vergleichbare Formen der weiblichen Genitalverstümmelung denken. Darauf weist ja insbesondere die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes hin, die unsere gemeinsame Petition auch unterstützen. Aus meiner politischen Erfahrung gewinne ich hier den Eindruck, dass sich die Politik schnell ein unangenehmes Thema, das vor dem Urteil tabuisiert war, wieder vom Hals schaffen will aber damit viele neue Probleme verursacht.

 

Sie hatten sich von Anfang an gegen eine übereilte gesetzliche Regelung ausgesprochen. Wird es eventuell trotzdem einen eigenen Regelungsvorschlag der Deutschen Kinderhilfe geben?

Stöckel: Nein, denn aus unserer Sicht ist der geltende Rechtszustand so, dass die Jungenbeschneidung verboten ist.  Das hatte bis zum Kölner Urteil nur noch kein Gericht festgestellt. Wir folgen hier, wie der Berufsverband der deutschen Kinder- und Jugendärzte der Rechtsauffassung des Kölner Landgerichts. Gewalt in der Erziehung ist nach § 1631 BGB verboten und ein medizinischer Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist immer strafbare Körperverletzung, es sei denn, es liegt sowohl das Einverständnis des Patienten bzw. der gesetzlichen Vertreter, bei Eltern nichteinwilligungsfähiger Kinder im Sinne des Kindeswohls und eine medizinische Indikation vor.  Beides ist notwendig. Ärzte in Deutschland dürfen nur heilen, nicht schaden. Das ist eine ganz wichtige Lehre aus der deutschen Unrechtsgeschichte und der Verbrechen von  Ärzten  gegen die Menschlichkeit und medizinische Ethik.

 

Halten Sie es für denkbar, dass das vom Bundesjustizministerium geplante Gesetz nach Erlass noch auf gerichtlichem Wege angegriffen werden kann?

Stöckel: Wie jedes Gesetz, dass der Deutsche Bundestag beschließt, an dem der Bundesrat beteiligt werden muss, dass der Bundespräsident prüfen und nach Klage das Bundesverfassungsgericht urteilt, ob es mit unserer Verfassung vereinbar ist. Wie der Weg sein wird, ist jetzt noch nicht klar, aber wir werden uns gegebenenfalls an einer Klage beteiligen.

 

In der Debatte um die Jungenbeschneidung ist auch immer wieder von der Kindertaufe die Rede. Was meinen Sie zu den Stimmen, die davor warnen, dass nach der Jungenbeschneidung auch solche Rituale auf den gerichtlichen Prüfstand kommen werden?

 

Stöckel: Die Deutsche Kinderhilfe sieht das Recht der Eltern auf eine religiöse bzw. ethische Erziehung und damit auch die Kindstaufe  nicht als kindeswohlgefährdend oder als Verstoß gegen die Kinderrechte an.  Wir halten es auch für sachlich falsch und politisch unklug, eine Debatte über die religiös motivierte Körperverletzung an Kindern mit Kritik an der Kindstaufe zu verbinden, weil Vertreter verschiedener Religionsgemeinschaften und Politiker diese Vorlage gerne aufnehmen, um Beschneidungsgegner pauschal in den antireligiösen Topf zu mischen. Sie müssen sich dann nicht mehr mit den rationalen Argumenten der Grundrechte von Kindern und der Regeln des Medizinrechts in Deutschland auseinandersetzen.

 

Gibt es neben der Aussetzung eines Gesetzgebungsverfahrens und der Einrichtung eines runden Tisches noch Vorschläge, wie die Kontroverse in überzeugender Weise gelöst werden könnte? Was wären denn außer der Einrichtung von Expertengremien noch vernünftige Maßnahmen, um den existierenden Problemkomplex in einer nachhaltigen Weise anzugehen?

Stöckel: An erster Stelle die sachgemäße und umfassende Aufklärung der Eltern und Bevölkerung über das Thema, das ja bisher weitgehend tabuisiert war und bis heute noch verharmlost wird. Es gibt die Kritik und Debatte auch international und natürlich auch unter Muslimen und Juden.  Auch in deren Reihen werden ja Vorschläge zur Zivilisierung und zum Ersatz der archaischen Tradition durch Symbolisierung des Ritus gemacht.

Diese Entwicklung müssten die Religionsgemeinschaften intern anschieben, wobei es  natürlich von Orthodoxen und Fundamentalisten enormen Widerstand gibt. Deshalb brauchen sie den Druck von außen.

Von der heftigen Polemik und dem Bundestagsbeschluss gegen das Kölner Urteil sind einige Kinderrechtsverbände, wie UNICEF, der Kinderschutzbund, das Deutsche Kinderhilfswerk und die National Coalition zur Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention offensichtlich so beeindruckt, dass sie gar keine oder nur wachsweiche Kritik an dem Gesetzesvorhaben üben.

Wir vermissen hier die klare Linie und das konsequente Eintreten für Kinderrechte. Das muss sich ändern, gerade wenn es ernst und schwierig wird muss die Kinderlobby in diesem Land zusammenstehen. Kinder müssen an dieser Debatte beteiligt werden und eine Stimme bekommen.

Die Fragen stellte Arik Platzek.

Weiterführende Informationen:

Bundestagspetition "Zwei Jahre keine gesetzlichen Schritte zur Legitimation der Beschneidung"