BERLIN. (hpd/hls) Freitodgedanken und Autonomie – ein Thema, bei dem sich die Positionen unversöhnlich gegenüber stehen. Die christlichen Kirchen sind nicht Gegner des Autonomiegedankens, sie betonen jedoch das Fürsorge-Prinzip, die Verantwortung des Einzelnen gegenüber seinem Umfeld und gegenüber Gott. Die humanistische Sicht stellt die Selbstbestimmung in den Vordergrund.
HLS-Redakteurin Dr. Simone Scheps traf den Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats der DGHS, Prof. Dr. Dieter Birnbacher, und Prof. Dr. Knut Berner, Professor für Systematische Theologie an der Universität Bochum, zum Gespräch.
HLS: Herr Professor Berner, Sie sprachen im Interview des Deutschlandradios am 29.12.2011 von einer „Glorifizierung“ des Themas „Sterben“. Was meinen Sie damit?
Berner: Es gibt einen Trend, die Macht des Todes zu unterschätzen. Ich bin der Meinung, die Öffentlichkeit verliert den Respekt vor diesem Ereignis, das jederzeit eintreten kann. Um es mit Sartre zu sagen: Der Tod ist das Ende aller Möglichkeiten. Deswegen sollte ihm mit einem gebührenden Ernst begegnet werden.
Birnbacher: Sartre war aber der Letzte, der dem Einzelnen die autonome Entscheidung nehmen wollte. Es bringt Sicherheit, um die Möglichkeit des Suizids zu wissen, und das Bedürfnis nach Sicherheit ist stark. Das ist ja auch die DGHS-Linie: Ihr geht es nur um Menschen, bei denen die Entscheidung, das Leben hinter sich zu lassen, eine sehr gut durchdachte Entscheidung ist, die auf irreparable körperliche und seelische Schmerzen zurückgeht.
Berner: Ich bezweifle, dass der Wunsch nach Autonomie in der letzten Lebensphase das Hauptmotiv für den Wunsch nach einem Freitod ist.
Birnbacher: Es müssen nicht akute Schmerzzustände sein. Auch Selbstekel oder absolutes Angewiesen-Sein auf andere können dazu gehören.
Berner: Das ist der zentrale Punkt: Es darf nicht unwürdig sein, abhängig zu sein.
Birnbacher: Ich denke, man muss das dem Einzelnen überlassen. In Japan z. B. wird die Verwandtschaft am Lebensende sehr stark einbezogen.
Berner: Dort gibt es sehr hohe Suizidraten.
Birnbacher: Das hängt mit kulturell aufgeladenen Mustern zusammen.
HLS: Wie kommt es denn, dass das Thema Suizid und Autonomie stärker in den Fokus der öffentlichen Meinung gerückt ist?
Birnbacher: Das hängt mit gesellschaftlichen Veränderungen zusammen. Das Leben in Großstädten, verstärkte Säkularisierung, Abbau sozialer Netzwerke – all das trägt zur Individualisierung bei. Ich kritisierte das christliche Leidenspathos. Viele Ältere und Alleinstehende kämpfen mit einem Sinnverlust im Leben. Es geht für sie nicht darum, eine schnelle Lösung durch einen Freitod zu erreichen, sondern darum, dass sie autonom handeln wollen. Das christliche Leidensethos verherrlicht das Leiden auf Kosten der individuellen Freiheit.
Berner: Ich sehe das anders. Man kann beim Thema Freitod nicht nur für die Autonomie argumentieren. Ich finde, die Betroffenen sollten die Möglichkeit bekommen, ihre Ängste zu benennen. Suizid schafft auch Leiden für Andere, z. B. Angehörige.
HLS: Die Witwe des kürzlich mit EXIT in den Freitod gegangenen Ex-Fußballers Toni Konietzka hat die letzten Stunden mit ihrem Mann als friedlich und schön beschrieben.
Berner: Nun gut, aber wenn wir an Walter Jens (Anm. d. Red.: ehemaliger Rhetorik-Professor und philosophischer Vordenker) denken, der jetzt dement ist, müssen wir unterscheiden. Jens hat Suizid generell als Variante des „menschenwürdigen Sterbens“ empfohlen, heute sagt er „Bitte nicht totmachen“. Das Beispiel Walter Jens zeigt für mich, dass sich jemand für Suizid aussprechen kann, wenn er noch gesund ist, aber dass das in einer konkreten Lebenslage ganz anders aussehen kann. Ich hingegen habe Verständnis für terminal erkrankte Personen, die sich aufgrund ihrer persönlichen Situation eine Freitodbegleitung wünschen.
Birnbacher: Dabei geht es um die Frage der Einwilligungsfähigkeit.
Berner: Und auch um die Frage, ob Angehörige Entscheidungen eines Patienten manipulieren können. Ich habe Verständnis für Menschen, die Suizidwünsche haben, weil das auch eine Möglichkeit ist, um die zu wissen beruhigend sein kann. Aber die generelle Befürchtung des Suizids und die Planbarkeit lassen leicht vergessen, dass sich Menschen dann in konkreten Lebenssituationen doch oft anders orientieren.
Birnbacher: Die Gefahr besteht. Schwerkranke Patienten entscheiden sich auch häufig gegen den ursprünglich gewünschten Freitod, weil sie Schuldgefühle gegenüber ihren Angehörigen haben. Das darf nicht sein.
Berner: Eigentlich müssten hier die Ärzte eingreifen. Einerseits wird ihnen zu viel Macht gegeben, was z. B. die Beurteilung von Suizidwünschen angeht. Andererseits meine ich, dass der assistierte Suizid vom Arzt des Vertrauens begleitet werden soll, nicht von ungeschulten Ehrenamtlichen. Leider wird die Mediziner-Ausbildung nicht besser. Die Ärzte müssten stärker in ihrem Reflexions- und Kommunikationspotential geschult werden. Wie Nietzsche schon sagte: Wir können uns nur begrenzt verstehen. Das gilt für schwer kranke Patienten umso mehr.
Birnbacher: Ja, wir reagieren manchmal anders, als wir meinen oder wünschen.
HLS: Herr Professor Berner: Sie sagten in einem Interview des Deutschlandradios am 29.12.2011, dass in der Diskussion heute nur noch Sterben das Problem sei, nicht aber der Tod. Was meinen Sie damit?
Berner: Sartre sagte einmal: Tot sein bedeutet, eine Beute der Lebenden zu sein. Ich meine, der Verantwortungsanspruch der Lebenden auf den Tod wird immer stärker. Ich glaube, dass wir bei schwierigen ethischen Fragen nie auf sicheres Terrain kommen werden und daher – aus theologischer Sicht – nur Gott unsere Lebensvollzüge beurteilen kann. Das heißt aber nicht, dass man nicht handeln muss, es nimmt nur den Anschein der Gewissheit.
Birnbacher: Dies sollte dem Einzelnen überlassen bleiben. Ich selbst würde mein Leben nicht gerne in fremde Hände legen.
Berner: Letztendlich kommt man in dieser Diskussion nur weiter, wenn man im Gespräch bleibt.
HLS: Vielen Dank für das Gespräch.
(Eine gekürzte Fassung dieses Interviews erschien in der Zeitschrift HLS 2012-4)