Kommentar

Wurde Jesus missbraucht?

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Kurt Tucholsky schrieb 1922 in einem Brief an Herbert Ihering: "In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, für viel gefährlicher als derjenige, der den Schmutz macht." Daran hat sich ein Jahrhundert später noch immer nicht viel geändert.

Beim Kölner Straßenkarneval führte schon vor dem Rosenmontag ein Mottowagen zum Missbrauchsskandal der katholischen Kirche zu heftiger Kritik von CDU und dem Kölner Erzbistum. Ach, wenn doch nur die Gleichen in der selben Lautstärke den Missbrauch in der katholischen Kirche im Besonderen und dem Erzbistum Köln im Einzelnen angeprangert hätten!

Den Spruch "Lasset die Kinder zu mir kommen" (Mt 19,14) hatte der eine oder andere Pfarrer neu interpretiert und daraus ein "Lasset mich durch die Kinder kommen" gemacht. Und manch einer hielt es vielleicht für den Ausfluss des Heiligen Geistes, was da milchig den Körper verließ. Doch wer auf diese unsägliche Praxis in den Kirchen hinweist, wird angegriffen und es wird ihm sogar Blasphemie vorgeworfen. Das Unsägliche soll unsagbar gemacht werden.

t-online schrieb bereits vergangenen Dienstag über den Wagen: "Der umstrittene Wagen zeigt einen Beichtstuhl mit der Aufschrift 'Jesus liebt dich', aus dem ein Priesterarm herausragt und mit gekrümmtem Zeigefinger einen Messdiener zu sich lockt." Und schon kommen die schreiend um die Ecke gerannt, die bei der Aufdeckung der Missbrauchsfälle sich in tiefen Kellern versteckten, die Hände vor Augen, Ohren und Münder gepresst.

"Kölns ehemaliger Oberbürgermeister Fritz Schramma (CDU) und weitere CDU-Politiker haben in einem Protestbrief (…) die Darstellung als 'abstoßend und zugleich erheblich verletzend' bezeichnet." Für diese Pappnasen war der Missbrauch von Kindern offenbar weniger abstoßend und verletzend als ein Karnelvalswagen, der, wie es Wolfgang Rothe, Mitglied im Betroffenenbeirat bei der Deutschen Bischofskonferenz, sagt, den "Finger trefflich in die Wunde" legt. Und aus dem Umfeld des Kardinal Woelki kam ein Offener Brief, in dem die Rede "von einer 'unentschuldbaren Grenzüberschreitung'" ist, "da Jesus direkt mit dem Missbrauch in Verbindung gebracht werde." Man möchte angesichts dieser Krokodilstränen glatt eine Packung Papiertaschentücher in den Beichtstuhl werfen. Wenn denn noch welche da wären und nicht bereits für andere Zwecke verbraucht.

Nebenbei bemerkt haben übrigens Täter selbst Jesus mit ihren Verbrechen in Verbindung gebracht: Karl Haucke, ehemaliger Sprecher des "Beirats von Betroffenen sexualisierter Gewalt beim Erzbistum Köln", schrieb gestern im Kölner Stadtanzeiger: "Die Vergewaltigungen, denen ich mich unterwerfen musste, waren immer begleitet von geistlichen Worten: 'Der liebe Gott will, dass wir uns lieben.' – 'Wenn es weh tut, so ist das Gottes Wille.' – 'Der Schmerz reinigt dich von deinen Sünden.'"

Marc Michelske, seines Zeichens Zugleiter des Rosenmontagszugs, ließ sich nicht beirren und sagte deutlich: "Nicht die Darstellung des Missbrauchs ist geschmacklos und peinlich, sondern vielmehr der Missbrauch selbst und der Umgang damit." Der Wagen fährt wie geplant im Zug mit.

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