Die Brutalität des Regimes, Tod, Angst und der Mut der Revolutionäre
Razan Zaituoneh beschreibt dann die Wochen und Monate nach dem beginnenden Wandel in Tunesien und Ägypten, die sich entfaltenden Demonstrationen in Syrien und die brutale Reaktion des Regimes, so dass bereits nach kurzer Zeit klar war, „dass Syrien tatsächlich nicht wie Tunesien oder Ägypten war. Das syrische Regime hatte keine Hemmungen auf junge Männer, Frauen und Kinder das Feuer zu eröffnen, nur weil sie auf die Straße gingen und Parolen riefen, in denen sie ein Leben in Würde und Reformen forderten.“
Die Preisträgerin musste bereits im März 2011 in den Untergrund gehen, um ihr Leben nicht zu gefährden und hat dort dann mitbegonnen, Koordinationskomitees für die Revolution aufzubauen.
Razan Zaitouneh spricht nachdenklich und auch kritisch über die gegenwärtige Situation in Syrien, über die Angst und die bedrückenden Sorgen, aber auch über den unbedingten Willen, nicht mehr so weiterleben zu wollen, wie bisher und sich deshalb für die Revolution zu engagieren.
Sie sagt: „In einer Revolution gibt es viele Möglichkeiten, heiße Tränen zu vergießen. Nicht immer hat es mit dem Tod zu tun. Du kannst weinen, wenn dich die Nachrichten aus Basra al Sham die Zerstörung ihrer historischen Monumente erreichen, oder wenn die Explosion von einer Granate im „Bett der Emira“ in Bosra hörst, oder wenn du siehst, wie die historischen Märkte von Aleppo durch eine Bombe in Trümmer und Asche verwandelt werden.“
An die Zukunft zu denken, bedeute für sie, sich auch den Problemen der Vertriebenen, der Obdachlosgewordenen, nachdem ihre Häuser und Besitztümer in Schutt und Asche verwandelt worden waren, zu widmen. Sie hat Grund zum Optimismus und sie zeigt sich optimistisch: „Erstaunlicherweise haben die Syrer inmitten all des Tötens und Zerstörung nie aufgehört, ihre Fähigkeiten zusammen aufzubauen und weiter zu entwickeln.“ Die Entscheidung derjenigen, die sich entschlossen haben in Syrien zu bleiben und zu kämpfen, habe überhaupt nichts mit Mut zu tun: „Es hat in erster Linie mit der Position zu tun, die für sich in dieser Revolution wählt, weil man an diese Ansicht und an die Revolution glaubt: Aus dem einfachen Wunsch heraus, den Menschen zu helfen, weiterzumachen; den Willen zum Widerstand zu verbreiten; aus dem einfachen Wunsch heraus, dass wir es denjenigen, die ihr Leben verloren haben, zu verdanken haben, bis dahin gekommen zu sein, wo wir heute sind, und es andere denjenigen, die noch ihr Leben verlieren werden, zu verdanken haben werden, dass sie dahinkommen, wo sie morgen sein werden. Wir glauben an die Revolution.“
Keine Unterstützung durch die wortmächtigen Verkünder allgemeiner Menschenrechte
Beklagt wird in der Rede — unter Verweis auf die politische Entwicklung —, dass die Welt Syrien im Stich gelassen haben und immer wieder neue Vorwände genannt würden, um die Unterstützung der Revolution zu verhindern, mal würden als Vorwand Israel, mal al-Qaida, mal die Dschihadisten genannt, auch der Schutz der Minderheiten, mal werde auch die Schwäche und Zersplitterung der politischen Opposition vorgeschoben: „Das Recht des gesamten Volkes auf Selbstbestimmung, seine Früher selbst zu wählen, galt für niemanden als Priorität. Es galt auch nicht als erste Priorität, die Erniedrigungen und Verbrechen der letzten vier Jahrzehnte zu beenden! Die Welt, im Osten und Westen, hat die Syrer nicht nur im Stich gelassen, sondern die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Solidarität unterlassen“. Und Razan Zaituoneh beklagt, dass außerhalb Syriens für die dortigen Ereignisse meist die Bezeichnung „Bürgerkrieg“ verwendet wird, sei es aus juristischen, sei es aus politischen Gründen: „Mich macht das wütend, die Welt gönnt unserer Revolution — aus der Komplexität der Beziehungen und Interessen —, nicht einmal ihren Namen!“. Unvergessen, so sagt die Preisträgerin, bleibe aber der Beistand von Millionen einfachen Menschen in Ost und West, die sich mit bescheidenen Möglichkeiten mit der Revolution des syrischen Volkes solidarisiert hätten.
Ein Gefühl der Dankbarkeit
Razan Zaituoneh hat am Ende ihrer Rede bei der Verleihung des Ibn Rushd-Preises für Freies Denken ihr Gefühl nach dem Bekanntwerden der Preisverleihung an sie so beschrieben: „Ich erinnere mich, als die Verleihung des Ibn Rushd Preises an mich bekannt gegeben wurde, dass meine Mutter, eine einfache syrische Frau, mich fragte, ob das derselbe Ibn Rushd sei, den wir einmal in einem Film gesehen hatten, der unterdrückt wurde und dessen Bücher verbrannt wurden. Als ich dies bejahte, lächelte sie zufrieden und blickte träumerisch. Da empfand ich ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit.“
Walter Otte
Hintergrund: Ibn Rushd (Avorroes), spanisch-arabischer Arzt und Philosoph, geb. 1126 Cordoba, gest. 1198 in Marrakesch, der wegen seiner Ansichten, der Mensch solle seine Vernunft gebrauchen, mit der islamischen Geistlichkeit in Konflikt geriet; seine Werke wurden verboten.
Sämtliche bei der Preisverleihung gehaltenen Reden im vollständigen Wortlaut.