„Häresie des Ungehorsams“

Ging die Theorie denn tatsächlich in Gewalt über?

Die neue Lehre wurde schon bald in bewaffneten Aktionen umgesetzt. Gegen Könige und Kaiser wurde ab 1075 gekämpft, auch gegen Geistliche, etwa den Gegenpapst, den der Kaiser gegen Gregor VII. hatte einsetzen lassen. In den Schlachten, in Sachsen und Italien, ist viel Blut geflossen – alles unter dem Prinzip „Selig sind, die Verfolgung ausüben“. Weitere Folgen der Gewalttheorie waren dann die Kreuzzüge, Ketzerkriege, Inquisition und Verfolgung von Häretikern. Papst Urban II. (1085-1099) bezog sich mit Psalm 79 auf den zornigen Gott des Alten Testaments, als er 1095 zum ersten Kreuzzug aufrief. Auch mit anderen Bibelstellen motivierten die Päpste christliche Krieger zum Waffeneinsatz. Bischöfe und Kleriker begleiteten das Heer mit Psalmengesängen ins Feld. Es gibt viele Belege, dass Kleriker bis in die Schlacht hinein die Führung behielten.

Die Kreuzzüge sind bereits gut erforscht.

Die Forschung hat den Blick lange auf die Kreuzzüge und Ketzerkriege verengt. Die grundsätzliche Hinwendung der Kirche zur Gewalt jedoch und ihre theoretische Begründung durch eine neuartige Auslegung der heiligen Schriften hat sie übersehen. Die Kirchengeschichte zeigt hier blinde Flecken. Die Konflikte Papst Gregors VII. und seiner Nachfolger mit den salischen und staufischen Königen und Kaisern sind zwar weithin bekannt. Unbemerkt blieb dagegen, wie die Reformpäpste ihre Geltungsansprüche und ihre gewaltsame Umsetzung in unzähligen Schriften begründeten. Man hat sich immer gefragt: Wie konnte das Papsttum ab dem 11. Jahrhundert seinen Einfluss so steigern? Und verwies etwa auf die Persönlichkeiten der Handelnden. Erst jetzt wird klar, dass das Gedankengebäude zur Gewaltrechtfertigung viele Menschen fasziniert haben muss. Weitere Untersuchungen sind daher notwendig, auch zur Wirkung der gregorianischen Gewalttheorie in späteren Jahrhunderten. Inzwischen ist die Kirche seit langem in der Gewaltfrage von den gregorianischen Vorstellungen abgewichen. Der Wandel ist allerdings stillschweigend geschehen. Und die päpstlichen Geltungsansprüche auf Gehorsam und Suprematie hat er nicht erfasst.

Wirkt sich das bis heute aus?

Das Reformpapsttum hat den römischen Zentralismus, die päpstliche Unfehlbarkeit und Jurisdiktionsgewalt sowie die Verschärfung des Zölibats grundgelegt, die bis heute innerhalb und außerhalb der Kirche Gegenstand kontroverser Debatten sind. Im 19. Jahrhundert verdichtete das Erste Vatikanische Konzil dies dogmatisch. Man bezog sich ausdrücklich auf die Päpste des Hochmittelalters. Dass die Geltungsansprüche damals mit einer Gewalttheorie begründet wurden, war in Vergessen geraten. Das Zweite Vatikanum (1962-1965) schwächte manches ab.

Doch im Kern besteht der römische Zentralismus weiter, und er sorgt für Diskussionen. Die neuen Einsichten enthüllen, in welchem Ausmaß er auf exegetischen Ergebnissen beruhte, die heute wohl niemand mehr teilt. Daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen, steht also zur Aufgabe.

Interview: Viola van Melis