Was verbindet die Ölbilder mit Daumiers Grafiken? Beim Quijote-Motiv kann man einen Zusammenhang konstruieren. Quijote steht für den Träumer und Künstler, vielleicht später auch für die Verlierer der 48er-Revolution, für die Unangepassten, während Sancho Pansa den Mitläufer meint, dann auch wieder das Volk, das Daumier geliebt haben muss. Der wackere Eselreiter gehört derselben Schicht an wie die Eisenbahnfahrer dritter Klasse, die Treidler und Bauarbeiter, von denen Daumier einen im Gegensatz zu seinen sonst eher kleinformatigen Bildern auf einer riesigen Leinwand an einem Seil kletternd abkonterfeit. Hangelt er sich hinauf oder hinab? – Wenn es sich denn um einen Bauarbeiter handelt und nicht um einen Mann, der aus dem Gefängnis flieht oder vor einer wütenden Menschenmenge. Wieder bleibt die Bilddeutung offen.
Honoré Daumier: Mann am Seil
Auf dem dramatischen Ecce-Homo-Bild, das Jesus zeigt, wie er dem Volk vorgeführt wird, mag es vor allem um den Gegensatz zwischen rasender, spöttischer Masse und Einzelnem gehen. Wie bei den Gauklern, Sängern und Künstlern, die Daumier so oft gemalt hat. Hinter dieser Konstellation verbirgt sich viel autobiographische Erfahrung des Künstlers, der sich im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Courbet nie selbst gemalt hat.
Die Clowns und Artisten, Sänger und Tänzer sind gezwungen sich zu exponieren und leben die fragile Variante eines Daseins für die und auf der Bühne, die ihr Pendant in den bürgerlichen Advokaten hat, über die zu spotten Daumier nie müde wurde und die doch ebenfalls etwas von einem alter ego des Künstlers an sich haben.
Daumier war Sohn eines gescheiterten Schriftstellers, der mit seiner Familie immer wieder in finanziellen Nöten auf der Straße stand. Die Gaukler aber hatten bis in die Jugendzeit Daumiers hinein eine gesellschaftliche Funktion, indem sie, nicht anders als später Daumier selbst, das politische Geschehen ihrer Zeit kommentierten.
Auch die großen ikonografischen Bildentwürfe Daumiers, so allegorisch sie scheinen, erweisen ihn immer als Zeitgenossen. Wie seine plastischen Skizzen. Die Berliner Kunstakademie besitzt über ein Dutzend kleiner Portraitbüsten der Parlamentarier des Juli-Parlaments, die zu den ungewöhnlichsten Portraits der Kunstgeschichte zählen. Es sind Individuen und Typen zugleich. Ihre kantigen Gesichter über den Frack-Krägen grotesk, überspitzt und allgemeingültig trotz ihrer flackernden Bewegtheit. Sie dienten Daumier als Vorlagen für seine Grafiken.
In seinen Plastiken zeigt sich Daumier am zukunftsweisendsten, modernsten. Seine breite Relieftafel der „Flüchtenden“ scheint wie flüchtig modelliert, die Oberflächen schrundig. Licht und Schatten arbeiten mit an dem, was der Betrachter wahrnimmt. Sie zerreißen die Körper, fassen sie andererseits zu einer Menschenmasse zusammen.
Die plastischen Arbeiten hat Daumiers nicht für ein Publikum oder eine kaufende Klientel geschaffen hat, sondern allein als Studien für sich selbst. Da konnte er am freiesten, am rigorosesten sein. Und möglicherweise hat er da doch einmal sich selbst abgebildet, in der großen Portraitbüste, die von manchen ihm selbst zugeschrieben wird. Wieder sind die Oberflächen aufgerissen, durchfurcht vom Minenspiel eines selbstbewussten Zweiflers mit erhobenem Kopf, eines aufmerksamen Beobachters und Advokaten gegen die Ungerechtigkeit.
Simone Guski
Stiftung Brandenburger Tor, Max-Liebermann-Haus: „Daumier ist ungeheuer!“, Pariser Platz 7, 10117 Berlin, bis 2. Juni Mo, Mi, Do , Fr 10 – 18 Uhr, Sa, So 11 – 18 Uhr, Eintritt 8 Euro, ermäßigt 6 Euro, Sozialticket 1 Euro
Katalog: „Daumier ist ungeheurer! Gemälde, Zeichnungen, Graphik, Bronzen von Honoré Daumier“, Redaktion Claude Keisch und Janet Alvarado, Nicolai-Verlag, in der Ausstellung 28 Euro, im Buchhandel 39,95 Euro.