Berlin. (hpd) Honoré Daumier wollte vor allem eines sein: Zeitgenosse. Bissig karikierte er das politische Geschehen in Frankreich während der Revolutionen von 1830 und der von 1848, der Zeiten des Juli-Parlaments, der Zweiten Republik und Napoleon III. Ohne Hemmungen nahm er die bedeutendste technische Neuerungen seiner Zeit in seine Bildwerke mit auf: die Eisenbahn.
In Wartesälen und Waggons erhalten nun genauso ihrer Privilegien beraubte Bürger wie Männer und Frauen aus dem einfachen Volk eine neue Monumentalität, die auch in der Masse nicht untergeht.
Damals waren die Tageszeitungen noch dünn. Nur vier Seiten zählte der in Paris erscheinende „Le Charivari“. Die letzte Seite blieb stets einer ganzseitigen Lithografie vorbehalten. Diese Technik war gerade eben erfunden worden und erlaubte erstmals, Druckgrafik in hohen Auflagen zu verbreiten. Über 4000 Lithografien hat Daumier innerhalb von mehreren Jahrzehnten produziert. Jede Woche ein bis zwei. Zu seinen Kollegen gehörte unter anderem auch Grandville. Während dieser den Nachfolgenden als Vorläufer des Surrealismus galt, schätzten spätere Kunsttheoretiker wie Walter Benjamin an Honoré Daumiers Grafiken besonders deren soziologische und physiognomische Genauigkeit.
Doch die Pressefreiheit war immer wieder in Gefahr, und es gab Jahre, in denen Honoré Daumier als freier Künstler sein Auskommen suchen musste. In diesen Zeiten malte Daumier und verkaufte auch aquarellierte Zeichnungen. Seine Gemälde sind weit weniger bekannt als seine Druckgrafiken, mit Ausnahme vielleicht der Werke mit dem Thema Don Quijote und Sancho Pansa.
Honoré Daumier: Die Nesträuber
In der ersten umfassenden Daumier-Ausstellung seit 80 Jahren in Deutschland, “Daumier ist ungeheuer!“ der Stiftung Brandenburger Tor in Berlin, stehen nun diese Bilder im Mittelpunkt. Sie ist im Max-Liebermann-Haus zu sehen. Das ist kein Zufall. Der deutsche Impressionist war ein begeisterter Sammler Daumiers. Über 3000 Litografien besaß er von ihm, 13 Handzeichnungen und ein Ölbild, „Der Maler vor seiner Staffelei“. Der Titel der Ausstellung ist einem Ausspruch des Berliner Malerfürsten selbst entlehnt.
Daumier war kein gelernter Maler, er begann eine Ausbildung im „Charivari“ als Karikaturist. Einige Zeichenklassen in der Kunstakademie hat er später besucht, doch es bleibt unklar, wie lange. Und dennoch oder gerade deshalb sind seine Bilder, von denen für die Ausstellung viele hierzulande weitgehend unbekannte vor allem aus Übersee zusammengetragen wurden, nicht nur revolutionär, was den Inhalt anbetrifft. Sie sind es vor allem in der Technik. Und in ihrem Mut für das Unfertige. So beißend grotesk seine Karikaturen von Bürgern und des Monarchen Louis-Philippe sind, was Daumier auch einen Gefängnisaufenthalt von sechs Monaten eingebracht hat, und so genau auf das tagespolitische Geschehen zugeschnitten, so allgemeingültig sind seine Bildfindungen, wenn er malt. Es sind reale Allegorien, um einen Ausdruck Courbets zu gebrauchen.
Wäscherinnen, Mütter mit Kindern, Schulkinder, die im stürmischen Übermut das Klassenzimmer verlassen, ein Vater, der seinen Sohn zum ersten Mal im Fluß badet. Hier sind die Hintergründe hell türkis. Viel Weiß kommt vor, wie in der alten spanischen Barockmalerei. Eine großzügige Umrisslinie fasst die Figuren, eine Technik, wie sie später auch Gauguin und Munch anwenden werden. Die Gestalten erscheinen im Gegenlicht, was den Volumina ihre Plastizität nimmt, sie aber umso monumentaler wirken lässt. Dunkel schattig, fast schwarz bisweilen, auch dies sehr spanisch, wenn man in dem Weiß und Schwarz nicht einen Vorgriff auf die Impressionisten sehen will. Dramatisch in ein kühnes und symbolistisches Rosa-Orange changiert der Hintergrund bisweilen in den Quijote-Bildern, auf denen der Ritter von der traurigen Gestalt durch eine trostlos ockerfarbene Wüstenlandschaft zieht. Im Vordergrund meist der stämmige Sancho Pansa auf seinem kleinen Esel. Ja, diese Werke sind durchaus auch pathetisch.
Honoré Daumier: Don Quijote und Sacho Pansa
Was verbindet die Ölbilder mit Daumiers Grafiken? Beim Quijote-Motiv kann man einen Zusammenhang konstruieren. Quijote steht für den Träumer und Künstler, vielleicht später auch für die Verlierer der 48er-Revolution, für die Unangepassten, während Sancho Pansa den Mitläufer meint, dann auch wieder das Volk, das Daumier geliebt haben muss. Der wackere Eselreiter gehört derselben Schicht an wie die Eisenbahnfahrer dritter Klasse, die Treidler und Bauarbeiter, von denen Daumier einen im Gegensatz zu seinen sonst eher kleinformatigen Bildern auf einer riesigen Leinwand an einem Seil kletternd abkonterfeit. Hangelt er sich hinauf oder hinab? – Wenn es sich denn um einen Bauarbeiter handelt und nicht um einen Mann, der aus dem Gefängnis flieht oder vor einer wütenden Menschenmenge. Wieder bleibt die Bilddeutung offen.
Honoré Daumier: Mann am Seil
Auf dem dramatischen Ecce-Homo-Bild, das Jesus zeigt, wie er dem Volk vorgeführt wird, mag es vor allem um den Gegensatz zwischen rasender, spöttischer Masse und Einzelnem gehen. Wie bei den Gauklern, Sängern und Künstlern, die Daumier so oft gemalt hat. Hinter dieser Konstellation verbirgt sich viel autobiographische Erfahrung des Künstlers, der sich im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Courbet nie selbst gemalt hat.
Die Clowns und Artisten, Sänger und Tänzer sind gezwungen sich zu exponieren und leben die fragile Variante eines Daseins für die und auf der Bühne, die ihr Pendant in den bürgerlichen Advokaten hat, über die zu spotten Daumier nie müde wurde und die doch ebenfalls etwas von einem alter ego des Künstlers an sich haben.
Daumier war Sohn eines gescheiterten Schriftstellers, der mit seiner Familie immer wieder in finanziellen Nöten auf der Straße stand. Die Gaukler aber hatten bis in die Jugendzeit Daumiers hinein eine gesellschaftliche Funktion, indem sie, nicht anders als später Daumier selbst, das politische Geschehen ihrer Zeit kommentierten.
Auch die großen ikonografischen Bildentwürfe Daumiers, so allegorisch sie scheinen, erweisen ihn immer als Zeitgenossen. Wie seine plastischen Skizzen. Die Berliner Kunstakademie besitzt über ein Dutzend kleiner Portraitbüsten der Parlamentarier des Juli-Parlaments, die zu den ungewöhnlichsten Portraits der Kunstgeschichte zählen. Es sind Individuen und Typen zugleich. Ihre kantigen Gesichter über den Frack-Krägen grotesk, überspitzt und allgemeingültig trotz ihrer flackernden Bewegtheit. Sie dienten Daumier als Vorlagen für seine Grafiken.
In seinen Plastiken zeigt sich Daumier am zukunftsweisendsten, modernsten. Seine breite Relieftafel der „Flüchtenden“ scheint wie flüchtig modelliert, die Oberflächen schrundig. Licht und Schatten arbeiten mit an dem, was der Betrachter wahrnimmt. Sie zerreißen die Körper, fassen sie andererseits zu einer Menschenmasse zusammen.
Die plastischen Arbeiten hat Daumiers nicht für ein Publikum oder eine kaufende Klientel geschaffen hat, sondern allein als Studien für sich selbst. Da konnte er am freiesten, am rigorosesten sein. Und möglicherweise hat er da doch einmal sich selbst abgebildet, in der großen Portraitbüste, die von manchen ihm selbst zugeschrieben wird. Wieder sind die Oberflächen aufgerissen, durchfurcht vom Minenspiel eines selbstbewussten Zweiflers mit erhobenem Kopf, eines aufmerksamen Beobachters und Advokaten gegen die Ungerechtigkeit.
Simone Guski
Stiftung Brandenburger Tor, Max-Liebermann-Haus: „Daumier ist ungeheuer!“, Pariser Platz 7, 10117 Berlin, bis 2. Juni Mo, Mi, Do , Fr 10 – 18 Uhr, Sa, So 11 – 18 Uhr, Eintritt 8 Euro, ermäßigt 6 Euro, Sozialticket 1 Euro
Katalog: „Daumier ist ungeheurer! Gemälde, Zeichnungen, Graphik, Bronzen von Honoré Daumier“, Redaktion Claude Keisch und Janet Alvarado, Nicolai-Verlag, in der Ausstellung 28 Euro, im Buchhandel 39,95 Euro.