Ein revolutionäres Umweltprojekt

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Prof. Michael Braungart / Foto © Enith Stenhuys

HAMBURG. (hpd) Der Hamburger Chemiker Prof. Michael Braungart wird auf dem Deutschen Humanistentag das Projekt „Cradle to Cradle“ vorstellen – ein überzeugendes Umweltkonzept für die Zukunft. Thomas Brandenburg bat den visionären Unternehmer schon einmal vorab um eine Einführung.

Sie sind der Erfinder des bestechenden Konzeptes „Cradle to Cradle“. Können Sie dem unvorbereiteten Leser das Projekt erklären?

Traditionell denken die Menschen, dank Umweltschutz wird weniger zerstört. Es heißt: Schützt die Umwelt, fahrt weniger Autos, macht weniger Müll, verbraucht weniger Wasser! Damit schützt man aber gar nicht wirklich, man zerstört nur weniger. Das ist etwa so, als wenn man sein Kind schützt, indem man es nur dreimal statt fünfmal schlägt. Cradle to cradle dagegen heißt: Wir erstellen Systeme, Produkte, Dienstleistungen, die nicht weniger schaden, sondern wirklich nützen, den anderen Lebewesen dienen. Wir versuchen nicht den ökologischen Fußabdruck zu minimieren, sagen nicht, die Menschen wären am besten gar nicht da. Im Gegenteil, wir feiern die menschliche Aktivität. Wir schaffen sogar den größeren ökologischen Fußabdruck, der dann beispielsweise ein Feuchtgebiet wird. Ich sage dem Menschen: Schön, dass du da bist. Statt weniger schädlich zu sein hast du eine Chance für diesen Planeten ganz wichtig zu sein.

Und woher die Bezeichnung „Cradle to cradle“?

Es ist wichtig, nicht wie traditionell von der Wiege zur Bahre zu denken, sondern von der Wiege zur Wiege, englisch: „cradle to cradle“. Das bedeutet, alle Dinge noch einmal neu zu erfinden, so dass sie entweder für biologische Systeme oder für technische Systeme nützlich sind.

Wenn Dinge verschleißen, wie etwa Bezugsstoffe, Schuhsohlen, Bremsbelege oder Autoreifen, werden sie jetzt so produziert, dass sie in biologische Systeme übergehen. Wenn sie wie Waschmaschinen und Fernseher nur als Dienstleistungen genutzt werden, werden sie so hergestellt, dass sie in technische Systeme gehen. Es gibt also keinen Abfall mehr. Alles wird Nährstoff, entweder für die Bio- oder die Technosphäre.

Aber wir haben doch ganz unterschiedliche Materialien, Kunststoffe, die die Meere vergiften, Nahrungsabfälle, die vielfach noch essbar sind. Braucht man da nicht verschiedene Methoden zur Aufbereitung?

Natürlich, wir müssen jedes Produkt noch mal neu erfinden, zum Beispiel Möbelbezugstoffe: Wir haben vor 20 Jahren die ersten essbaren Bezugstoffe vorgestellt für die Industrie, die Sitze etwa in Flugzeugen, Bussen oder Kinos herstellt. Traditionell sind die Zuschnitte für Sitze oder Sofas allein schon wegen der üblichen Flammschutzstoffe so giftig, dass sie am Ende verbrannt werden müssen. Wir suchen alle Zutaten, Farben, Pigmente, Hilfsstoffe, auch die Flammschutzmittel so aus, dass man sie sogar essen könnte. Dadurch entstehen für die Zuschnitte Stoffe, die letztlich auch als Torfersatz in Gärtnereien dienen können. Es entsteht also kein Abfall mehr.

Ess- und kompostierbare Sitz- und Sofabezüge?

Ja, schauen Sie sich einen Kirschbaum im Frühling an: Kein Sparen, kein Verzichten, kein Verschwenden, alles ist nützlich, nicht weniger schädlich. Und so werden alle Verschleißprodukte, die in die Biosphäre gehen, nach unserem Konzept so hergestellt, dass sie auch biologisch verwertbar sind.

Ich habe gerade die Probe eines Badeschuhs vor mir, so genannte Flip Flops. Davon verschwinden jedes Jahr etwa 40 Millionen im Meer, am Strand weggewaschen von der Flut. Aus entsprechendem Stoff produziert eignen sie sich als Fischfutter. Man kann sie also in biologische Systeme bringen und es entsteht nicht nur kein Schaden, sondern sie sind auch noch nützlich. Cradle to Cradle. Entsprechend etwa auch Häuser, die nicht weniger giftig sind, sondern sogar die Luft und das Wasser reinigen. Wir entwerfen Gebäude wie Bäume und Städte wie Wälder.

Das klingt ja bestechend. Wie realistisch ist das?

Das Konzept setzt sich in sehr großem Stil und immer schneller um. Denn wenn man einmal verstanden hat, dass weniger schlecht nicht gut, sondern nur weniger schlecht ist, wird man an wirklich guten Dingen interessiert sein. Alle anderen Lebewesen nützen anderen Lebewesen. Nur wir Menschen denken, es sei schon gut, wenn wir ein bisschen weniger schlecht sind. Aber dafür sind wir einfach zu viele auf der Erde.

Es gibt schon mehr als 1.100 Produkte auf dem Markt, von Baumaterialien bis hin zu Kinderspielzeug. Kein Abfall mehr, alles ist Nährstoff. Wir können jetzt 40 Jahre Weltuntergangsdiskussion in Qualität umsetzen. Dabei entstehen viel schönere Produkte, die nicht mit denen aus Sklavenarbeit etwa in Malaysia konkurrieren, denn sie sind einfach viel besser.

Sie stellen Cradle to Cradle auf dem Deutschen Humanistentag vor. Kann man sagen, das sei ein menschenfreundliches, ein humanistisches Projekt?

Auf jeden Fall. Das ist ja auch der Grund, warum ich gerne zu Ihrer Veranstaltung komme.

Traditionell schauen wir Menschen uns an und sagen uns, es wäre besser, du wärst gar nicht auf der Welt. Kein Mensch, null Abfall, null Emission. Hamburg zum Beispiel möchte bis zum Jahr 2040 klimaneutral sein. Das ist traurig, denn Sie können eigentlich nur klimaneutral sein, wenn sie nicht existieren. Nicht einmal ein Baum ist klimaneutral, zum Glück nicht, aber er ist nützlich für das Klima. So, glauben wir, könnten Menschen auch sein.

Nehmen Sie die Ameisen als Beispiel. Wenn Sie alle Ameisen auf eine Waage packen würden, dann wögen sie viermal so viel wie alle Menschen auf der Welt zusammen. Doch Ameisen schaffen kein Umweltproblem, denn alle ihre Materialien dienen den anderen Lebewesen. Den Ameisen ist der Regenwald zu verdanken. Ameisen leben nur drei oder sechs Monate, arbeiten körperlich viel härter als wir, darum entspricht ihr Kalorienverbrauch etwa dem von 30 Milliarden Menschen. Daran können wir sehen: Wir sind nicht zu viele auf der Erde, sondern wir sind nur zu dumm. Denn wir produzieren zu viel Abfall.

Wenn auch wir Menschen Produkte der Evolutionsgeschichte sind: eine gigantische Fehlentwicklung?

Seien wir ehrlich: Die Natur war nicht gerade nett zu uns. Unsere Urahnen führten ein jämmerliches Leben, ihre Existenz war ständig bedroht. Wir haben die Natur vor allem zerstört, weil sie zu uns nicht freundlich war. Man sollte sie deshalb nicht so romantisieren. Manche Leute rollen bedeutungsvoll die Augen, wenn sie von „Mutter Natur“ reden. Doch aus der stammen auch die giftigsten Stoffe, wie auch die stärksten Stoffe im Krebsregister.

Aber wir können von der Natur lernen. Sie ist unsere Lehrerin, unsere Partnerin, aber nicht unsere Mutter. Nach der romantischen Vorstellung sind wir klein und hässlich. Wir haben die Natur misshandelt, haben jetzt ein schlechtes Gewissen und versuchen nun möglichst wenig schlecht zu sein.

Hört man denn in der Umweltpolitik auf Ihre Vor- und Ratschläge?

Das ist sehr unterschiedlich. In Deutschland romantisiert man die Natur. Man denkt, das Umweltklima sei ein Moralklima. Mir geht es aber nicht um Moral, sondern um Qualität. Ein Produkt, das Menschen krank macht, ist einfach nur ein schlechtes Produkt. Ein Produkt, das mit Kinderarbeit hergestellt wird, hat ein Qualitätsproblem.

Mir geht’s nicht um Moral. Mir geht es nur um Qualität, um Schönheit. Die Politik dagegen versucht die bestehenden Dinge etwas weniger schädlich zu machen. Damit macht sie aber nur das Falsche perfekt. Darum müssen wir alle Dinge noch mal neu erfinden und erst mal feststellen, was richtig ist, sonst optimieren wir die falschen.

Bei uns werden die Gebäude versiegelt und gasdicht gemacht um Energie zu sparen. Das hört sich gut an. Doch zuerst muss man doch fragen, was ist in dem Haus drin? Ich analysiere die Luftqualität und finde - zum Beispiel in Hamburg -, dass im Gebäude die Luft etwa 3- bis 8-mal schlechter ist als die Außenluft. Wenn ich jetzt noch das Gebäude gasdicht mache, bleibt der ganze Dreck noch zusätzlich drin. Asthma ist heute schon die häufigste Kinderkrankheit. Und wir kriegen Schimmel in die Gebäude, weil die Feuchtigkeit aus den Gebäuden nicht heraus kann. Über die Hälfte der Hamburger Gebäude hat ein massives Schimmelproblem. Schimmel wiederum provoziert aber massiv Asthma.