(hpd) Unter mystischen Erfahrungen werden Erfahrungen von göttlichen und anderen himmlischen Wesen oder die einer universellen Einheit verstanden. Mystische Erfahrungen sind ein transkulturelles Phänomen und vielen Menschen gelten sie als Gottesbeweise, zumindest aber als Beweise für die Existenz einer spirituellen Welt. Der Sachbuchautor Alfred Binder erörtert an konkreten Beispielen die grundlegenden Formen mystischer Erfahrungen. Er geht der Frage nach, wie sie zu erklären sind und ob auch “Ungläubigen” solche Erfahrungen zuteilwerden können.
Christliche mystische Erfahrungen
“‘Des Nachts auf meinem Bette, da rief ich nach meinem Geliebten, den meine Seele liebt, und er antwortete mir nicht. Ich suchte ihn, und ich fand ihn nicht (Hld.3,1) Da stand ich auf und ging durch die Stadt, ging durch die Wege und Straßen und suchte den, den meine Seele liebt. Ich suchte ihn, aber ich fand ihn nicht (Hld.3,2).’
Des Nachts auf meinem Bette, das heißt, als ich allein auf meinem Bette lag. Des Nachts, das bedeutet die Finsternis dieser Welt, in der man in den fleischlichen Begierden gefangen liegt. Da hoffte und wünschte ich, daß ich es vermöchte, vertrauten und liebevollen Umgang mit Gott zu haben; aber ich vermochte es nicht. Ich versuchte es mit Fasten, mit Wachen, mit Almosen-Geben und mancherlei weltlichen guten Taten, wodurch man sich Gott nähern und womit man die Sünde austilgen kann. Doch wird Gott auf diese Weise nicht wirklich und wahrhaft gefunden noch so von irgendjemandem wahrhaft und innig geliebt. Geschieht dies aber – und das ist wunderbar – weil er gut und gütig und ein Wohltäter ist, dann begehrt der Mensch einzig nur Gott allein und ist ihm treu; und das ist allezeit das Beste. (…)
Ich beschwöre euch, ihr Jungfrauen zu Jerusalem, falls ihr meinen Gemahl indessen findet, daß ihr ihm kündet, daß ich in seiner Liebe dahinsieche, daß ich vor Liebe krank bin. Dies darf niemandem unbillig dünken, wenn jemand vor Jammer, vor Liebesleid siech wird. Was der Jammer, das Siechtum ist und bedeutet, den die Seele nach Gott hat, das sollen wir wissen: Das Siechtum und die Krankheit des Leibes, die erkennt man sehr wohl. Es geschieht, wenn eines Menschen Jammer beginnt in diesem Elend und er sich heraus sehnt, daß dieser Mensch von Herzen zu weinen anfängt und daß er das stetig und sehr heftig tut. Dann wird der Leib voller Sehnsucht und das Herz voller Güte, es wird traurig und sehr, sehr wund: wenn es nämlich sein Liebstes wohl in der Hoffnung, in Gedanken hat, aber nicht bei sich, ganz in seiner Nähe. Deshalb siecht des Menschen Leib dahin, und der Mensch trauert."[1]
Das war ein Ausschnitt aus dem ersten mystischen Text der in deutscher Sprache vorliegt. Er trägt den Titel St. Trudperter Hohes Lied und wurde um 1150 niedergeschrieben. Die Autorin ist unbekannt, wahrscheinlich war es eine Nonne des Klosters St. Trudpert. Das Trudperter Lied beginnt mit einem wesentlich älteren Lied, ist eine Interpretation dieses Liedes. Die Eingangszeilen, des Nachts auf meinem Bette, da rief ich nach meinem Geliebten usw., stammen aus dem sogenannten Hohen Lied, einer Liedsammlung die sich im AT findet und über 1500 Jahre älter ist als der Kommentar der Trudperter Nonne. Das Hohe Lied des AT ist der wichtigste Referenztext der Mystik des MA, sowohl der Mystikerinnen, wie der Mystiker.
Die zitierten Zeilen aus dem Trudperter Hohen Lied schildern kein mystisches Erlebnis, enthalten aber schon ein zentrales Element der mittelalterlichen Mystik: die jammervolle Notlage der Mystikerin, die brennende Sehnsucht nach dem Geliebten, nach dem Bräutigam. Die Mystikerin, aber auch der Mystiker, versteht sich als Braut Christi und der Bräutigam ist dementsprechend Christus.
Die Mystiker sprechen oft von sich als der Seele, womit sie den Teil ihrer Person meinen, der nicht ihr Leib ist.
Der nächste kurze Text ist um die gleiche Zeit entstanden und schildert einen typischen Beginn einer mystischen Schau: “Es geschah in der Nacht zum ersten Sonntag nach dem Fest des heiligen Jakobus [25.Juli]; ich war am ganzen Körper ermattet, mein Puls schlug schwach, und es begann zuerst mit starkem Zittern meiner Hände und Füße. Darauf ergriff es meinen ganzen Körper, aus allen Gliedern brach mir der Schweiß. Darauf war es mir, als würde mein Herz mit einem Schwert in zwei Teile zerschnitten. Und siehe, am Himmel erglänzte plötzlich ein gewaltiges Flammenrad, das sich fortwährend nach allen Seiten ausbreitete und dessen Anblick mir große Ängste einjagte. Danach tat sich am gleichen Ort eine Art Pforte auf, und ich habe durch diese hindurch geschaut: da erblickte ich ein Licht, unendlich viel heller und strahlender als alle Lichter, die ich zu sehen gewohnt war, und in diesem Licht sah ich viele Tausende der Heiligen. Sie standen in einem großen Kreis um die göttliche Majestät, geordnet gemäß dem Rang eines jeden.”[2] Das schrieb die Benediktinerin Elisabeth von Schönau, sie lebte von 1129–1164.
Der nächste Textausschnitt entstand ungefähr 100 Jahre später und stammt von der Begine und späteren Nonne Mechthild von Magdeburg. Er schildert ein Zwiegespräch zwischen ihr und dem Herrn und Bräutigam:
Gegrüßest seist du, lebendiger Gott!
Du bist mein vor allen Dingen. …
Wenn meine Feinde mich jagen,
Dann fliehe ich in deinen Arm.
Da kann ich mein Leid klagen, …
Du weißt wohl, wie du die Saiten meiner Seele anrühren kannst.
Eya, damit beginne alsogleich,
So müssest du jederzeit selig sein.
Ich bin eine unedle Braut, Du jedoch bist mein edler Bräutigam.
Darüber will ich mich immer und allezeit freuen. Gedenke, wie du die reine Seele in deinem Schoß lieben kannst.
Und, Herr, vollbringe dies an mir immer wieder.
Ich allein sei deine einzige Gefährtin. …
(Darauf antwortet der Herr und Bräutigam:)
Mein Gegengruß ist eine so große Himmelsflut, daß
Würde ich mich in dich nach meiner Macht geben,
Du dein menschliches Leben nicht behieltest.
Du siehst wohl, ich muß meine Macht zurückhalten
Und meine Klarheit überdecken,
Damit ich dich desto länger für mich
In der irdischen Betrübnis behalte.
Bis dann aufblüht all deine Süßigkeit
In der Höhe der ewigen Herrlichkeit,
Und mein Saitenspiel dir süß erklingen wird
Gemäß dem treuen Geschenk deiner langen Liebe.
Jedoch will ich schon vorher beginnen
Und in deiner Seele meine himmlischen Saiten bewegen, Damit du desto länger zu warten vermagst.
Aus der Antwort der Seele:
Und wenn du es selbst nicht wüßtest, Herr, dann könnten alle Sandkörner, alle Wassertropfen, alles Gras und alles Laub, Stein und Holz, alle toten und alle lebenden Kreaturen, alle Fische und Vögel, alle vierfüßigen Tiere und alle Würmer, alles fliegende und alles kriechende Getier, alle Teufel, Heiden, Juden und alle deine Feinde, und mehr noch, alle deine Freunde, Menschen, Engel und Heilige, nun eben alle Personen, die sprechen können, selbst wenn sie ohne Unterlaß riefen bis zum Jüngsten Tag – wahrlich Herr, das weißt du wohl -, sie könnten dir nicht die Hälfte künden von der Liebe meines Verlangens und der Not meiner Qualen und dem Jammern meines Herzens und dem Aufschwingen meiner Seele hin zu dem Geruch deiner Salben und dem unzertrennlichen, unaufhörlichen Anhängen an dich.
Wie der Alltag der Mystikerin aussieht, fasst Mechthild von Magdeburg (1202/07–1281/82) so zusammen: Fasten, Disziplin, Beichten, Seufzen, Weinen, Beten, Furcht vor Sünde, hartes Niederringen der Sinne und des Leibes in Gott und um Gottes willen, süße Hoffnung und liebevolles Verlangen ohne Unterlaß und in allen Werken ein unablässig betendes Herz.[3]
Das waren die christlichen mystischen Erfahrungen, die ich vorstellen wollte und die ich später erörtern möchte. Die Fragen lauten: Können wir diese und viele ähnliche Erfahrungen auf eine plausible natürliche Weise erklären oder sind sie ein Indiz, vielleicht sogar ein starkes, für die Existenz eines Gottes, zumindest für die eines transzendenten, jenseitigen?
In der nächsten Folge werden zenbuddhistische mystische Erfahrungen vorgestellt.
Alfred Binder
-
Lanczkowski, Johanna: Mystische Texte des Mittelalters. Stuttgart 1999, S. 40 und 43. ↩
-
Elisabeth von Schönau in Lanczkowski, Johanna: Mystische Texte des Mittelalters. Stuttgart 1999, S. 80. ↩
-
Mechthild von Magdeburg in Lanczkowski, Johanna: Mystische Texte des Mittelalters. Stuttgart 1999, S. 100, 102, 108–109. ↩