(hpd) Mystische Erfahrungen werden von Gläubigen gerne als Beweis für die Existenz Gottes angeführt. Alfred Binder setzt sich kritisch mit diesem Gedanken auseinander.
Nachdem er in den ersten drei Teilen mystische Erfahrungen aus dem christlichen Kulturkreis und dem Zen-Buddhismus vorgestellt hat, geht es nun um eine weitere Form der Mystik, die er als Präsenz- oder Gewahrseinsmystik bezeichnet.
Präsenz- oder Gewahrseinsmystik
Mit einem präsenzmystischen Erlebnis bezeichne ich ein außergewöhnliches, ein alles durchdringendes Gewahrsein dessen was jetzt ist. Mit “was jetzt ist”, ist die Innen- und Außenwelt eines Individuums in einer als zeitlos erlebten Gegenwart gemeint. Körperliche Empfindungen, alle Gefühle, alle Wahrnehmungen sind in diesem Erleben klar, still, Innen und Außen scheinen vollkommen durchlässig. Der Zen übende Schweizer Dichter Philippe Jaccottet formulierte in seinen Aufzeichnungen diese Erfahrung so: “Das Haften am eigenen Ich macht das Leben undurchsichtiger. Ein Augenblick wahrer Selbstvergessenheit, und alle Trennwände werden eine nach der andern transparent, so daß der Blick in der Klarheit des Raumes vordringt, so weit das Auge reicht; und gleichzeitig gibt es nichts Lastendes mehr. Die Seele verwandelt sich dann wirklich in einen Vogel.”[1] Die Seele verwandelt sich in einen Vogel, weil, nüchtern gesprochen, Innen- und Außen nicht mehr klar voneinander zu trennen sind. Das Nichthaften am Ich, das Zurücktreten von der Egozentrität, wie es Ernst Tugendhat bezeichnet, ist die Voraussetzung eines durchdringenden Gewahrseins, einer großräumigen Präsenz. Das durchdringende Gewahrsein setzt das völlige Schweigen eines inneren Diskurses voraus. Der Philosoph Hans-Willi Weis, ebenfalls ein Zen-Übender, nennt es in seinem Buch “Denken, Schweigen, Übung” ein eminentes Schweigen. Was im Schweigen geschieht beschreibt er so: "Sobald am tiefsten Punkt seines eminenten Schweigens im Übenden alle subjektiven und objektiven Präsenzen ‘zu reden aufgehört haben’ und vollkommene Stille in ihm eingekehrt ist, gewahrt sich das Gewahrsein gewissermaßen selbst.[2] Der Schweigende gewahrt also die Welt und ist sich auch des Gewahrens bewusst, das geschieht ganz ohne Anstrengung, ganz mühelos. Das schweigende durchdringende Gewahrsein ist also ein Bewusstseinsmodus jenseits von Trance oder Ekstase, weil er kein eingeengter und dissoziierter, sondern ein außerordentlich offener, weiter Modus ist.
In ihm wird nichts Großartiges erkannt, schon gar nicht, dass ich alles bin. Es wird nur erkannt, was jetzt ist, Berge die Berge sind, Autos die Autos sind, Lärm der Lärm ist, Stille die Stille ist usw. Selbstverständlich gibt es in diesem Modus auch niemanden der uns seiner Liebe versichert oder uns Geborgenheit schenkt. Aber in diesem Modus brauchen wir keine Erhöhungen, Liebesbeweise oder Geborgenheitsgeschenke. In diesem Modus sind wir jenseits von Erhöhung und Erniedrigung, Liebe und Hass, Erfolg oder Misserfolg.
‘Feuchter Nebel auf dem Berge Lu, und Wellen wild bewegt im Che-Chiang; Bist du noch nicht dort gewesen, wirst du es sehr bereuen; Warst du erst dort und wendest wieder heim den Weg, wie nüchtern sehen dann die Dinge aus! Feuchter Nebel auf dem Berge Lu, und Wellen wild bewegt im Che-Chiang.’[3]
Das heißt: Wenn du den Nebel auf dem Berge Lu und die Wellen im Che-Chiang nicht mit durchdringendem Gewahrsein erlebt hast, wirst du es bereuen, denn du hast dann etwas Wunderbares versäumt. Hast du sie als wunderbar erlebt und kehrst wieder in den gewöhnlichen Wahrnehmungsmodus zurück, der von deinem inneren Diskurs, deinen Ängsten, Sorgen und Hoffnungen dirigiert wird, stellst du fest, dass die Berge und Wellen genau gleich aussehen wie vorher, dass es ‘nichts Besonderes gibt’, weder vor noch nach deiner Ankunft. Es ist die gleiche alte Welt…"[4]
Fazit
Ich denke, es ist klar, dass keine der vorgestellten mystischen Erfahrungen eine transzendente Welt oder gar die Existenz eines Gottes beweist.
Es ist auch klar, dass die Anerkennungsmystik keine erstrebenswerte ist, die Begegnungen mit göttlichen Familienmitgliedern nur halluzinatorische Entschädigungen sind für die in der Kindheit erfahrene Gleichgültigkeit, dem Mangel an menschlicher Wärme und Geborgenheit, der fehlenden Anerkennung. Die mystischen Erlebnisse bedeuteten eine Genugtuung für die erlittenen Demütigungen, wurden sie doch von den Erlebenden, wie von ihrer Umwelt als ein Aufrücken in die Chefetage verstanden, erhöhten also wesentlich den sozialen Status der Mystiker. Aber um diesen zu halten mussten sie den Erwartungen ihrer Umwelt gerecht werden und so gerieten sie unter den Druck immer neue visionäre Berichte zu liefern, sie erhielten also die gesuchte Anerkennung um den Preis der Fortsetzung von Krankheit und Leiden.
Die Erleuchtungserlebnisse, die durch eine lange andauernde und intensive Konzentration auf ein Koan ausgelöst werden, sind außerordentlich beglückend, können Wochen und sogar Monate nachwirken und das ganze zukünftige Leben beeinflussen, ähnlich wie Nahtodeserlebnisse. Und zwar in dem Sinne, dass sie in Notzeiten als die aufmunternde Versicherung dienen können: letztendlich kann mir nichts geschehen, ich weiß ja, ich bin alles.
Eine solche Erfahrung bedeutet aber auf keinen Fall, wie es manche diesbezügliche Literatur suggeriert, dass ab diesem Erlebnis das ganze Dasein Frieden, Freude, Eierkuchen wäre. Es schützt weder vor Leid und Schmerzen, noch macht es aus jemand einen besseren Menschen, gar einen Weisen.
Der erwähnte Yasutani Roshi war der Lehrer Philipp Kapleaus, der das Buch “Die drei Pfeiler des Zen” schrieb. Yasutani war auch der Lehrer der zwei Personen aus deren Erlebnissen ich zitierte, und er war ein Faschist, ein glühender Nationalist und Antisemit. Er war nicht der einzige faschistische Zen-Meister in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alle japanischen Zen-Meister, die sich in dieser Zeit öffentlich äußersten, muss man als Faschisten bezeichnen. Sie billigten die japanischen Überfälle auf Korea und China und unterstützten propagandistisch den imperialistischen Krieg Japans. Sie legitimierten mit der zenbuddhistischen Philosophie millionenfaches Morden. Die Japaner, damals Verbündete Deutschlands, verstanden sich als gelbe Herrenrasse, mit dem Recht über alle südostasiatischen Länder zu herrschen, einschließlich Chinas. Viele der faschistischen Zen-Meister galten als vollerleuchtet. Und wie die meisten Nazis haben sie anschließend ihre Gesinnung und ihre Taten verdrängt, verschwiegen oder verleugnet. Alles keine Attribute weiser Menschen.
Es ist auch logisch: Die Einbildung, ich bin das ganze Universum, gleichgültig wie intensiv ich das erfahren habe, kann keine Weisheit nach sich ziehen, weder im Sinne eines moralischen Wissens und Handelns, noch im Sinne einer Lebenskunst, des Umgangs mit schwierigen äußeren und inneren Situationen. Diese und ähnliche Formen von mystischem Erleben, von Erleuchtung, schützt weder vor moralischer Korruptheit, geistiger Verwirrung, noch sonstiger bodenloser Dummheit. Ich bin überzeugt, dass das keine Einzelerfahrung kann, auch keine durchdringende Präsenzerfahrung. Insofern sind die mystischen Erfahrungen wertlos.
Allerdings ist eine außerordentliche Präsenzerfahrung ein Zeichen dafür, dass wir auf einem guten Weg sind. Präsenz, Gewahrsein, Achtsamkeit sind graduelle Zustände, wir können verschieden stark gewahr, achtsam oder präsent sein. Wichtig sind nicht einzelne, besonders intensive Erfahrungen solcher Zustände, sondern ein Anstieg des alltäglichen Niveaus dieses Erlebensmodus. Einfach deswegen, weil er Leiden mindert. Das leistet das Gewahrsein allein schon deshalb, weil es immer eine Distanzierung von Gefühlen und Bewertungen bedeutet.
Durch Innehalten, Gewahrsein werden wir uns Probleme bewusst und fähiger sie ruhiger und gelassener zu betrachten. Probleme zu lösen erfordert aber auch urteilendes Denken und mit ihm den inneren Diskurs. Er war und ist immer ein für Menschen notwendiges Werkzeug um Dinge in Ordnung zu bringen. Wer dieses Werkzeug vernachlässigt, wie esoterische und religiöse Sekten oft propagieren, wird oder bleibt dumm, gerät in das, was Kant selbstverschuldete Unmündigkeit nannte. Die für eine Erleuchtung völlig deplatzierte Erkenntnis, es gäbe keine Vernunft, ist Ausfluss einer solchen Diskriminierung von urteilendem Denken, dessen “Natur” in den meisten meditativen Schulen gar nicht verstanden wird.
Gewahrsein ist nicht nur eine Problemlösungsmethode, sie ist, logischerweise, auch eine Voraussetzung eines guten, eines genussreichen Lebens, denn sie bedeutet nichts anderes als die Fähigkeit im Hier und Jetzt zu sein. Wenn wir das nicht können, können wir das Leben immer nur in der Fantasie genießen, indem wir uns vorstellen, wie schön es zu irgendeinem zukünftigen Zeitpunkt sein wird oder wie schön es zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit war. Gewahrsein heißt bewusst sein und ist deshalb auch ein emanzipatorischer Modus.
Es ist klar, dass Gewahrsein und auch außerordentliches, durchdringendes, sozusagen mystisches Gewahrsein, keine Frage von religiösen oder nichtreligösen Überzeugungen ist, sondern, um ein bisschen pathetisch zu enden, dass der Blick aller Menschen in die Klarheit des Raumes vordringen kann, “soweit das Auge reicht”.
Alfred Binder
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Jacottet, Philippe: Fiegende Saat, München 1995, S. 7. ↩
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Weis, Hans-Willi: Denken, Schweigen, Übung. Freiburg im Breisgau 2012, S.126 ↩
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Zit. nach Weis, Hans-Willi: Denken, Schweigen, Übung. Freiburg im Breisgau 2012, S. 128. ↩
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Weis, Hans-Willi: Denken, Schweigen, Übung. Freiburg im Breisgau 2012, S. 128 ↩