Mystische Erfahrungen: Ein Gottesbeweis? (2)

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Die Mystikerin Birgitta von Schweden (14. Jahrhundert)

(hpd) Mystische Erfahrungen werden von Gläubigen gerne als Beweis für die Existenz Gottes angeführt. Alfred Binder setzt sich kritisch mit diesem Gedanken auseinander.

 

Nachdem er im ersten Teil mystische Erfahrungen aus dem christlichen Kulturkreis vorgestellt hat, wendet er sich nun entsprechenden Erlebnisberichten aus dem Zen-Buddhismus zu.

Zenbuddhistische mystische Erfahrungen

Die zwei folgenden Berichte mystischer Erlebnisse ereigneten sich ungefähr 800 Jahre später als die christlichen Erlebnisse, die ich in der letzten Folge vorstellte. Die zenbuddhistischen Erfahrungen ereigneten sich in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Ich habe sie einem Klassiker der modernen Zen-Literatur entnommen, dem Buch Die drei Pfeiler des Zen von Philip Kapleau, das erstmals 1965 erschien.

Der erste Bericht stammt von einem Amerikaner und ehemaligen Geschäftsmann. Mit 41 Jahren leidet er an Magengeschwüren und Allergien und findet nur mit Hilfe von Tabletten Schlaf. Er gibt alle seine Geschäfte auf, verkauft seine Einrichtung und sein Auto und fliegt im Oktober 1953 nach Japan, um in einem Zen-Kloster die Erleuchtung zu suchen. Fünf Jahre später ist es soweit. In seinem Kloster findet ein Sesshin statt, besonders strenge Meditationstage. Das Kloster gehört der Rinzai-Schule an, in dem mit Koans, mit Rätselfragen, meditiert wird. Eine besondere Lösung eines solchen Rätsels löst ein Einleuchtungserlebnis aus. Das meist benutzte Koan ist das Koan Mu. Es lautet: Ein Mönch fragte Meister Josshu: Hat ein Hund Buddhanatur? Josshu antwortete: Mu! Der Schüler soll nun herausfinden was diese Antwort bedeutet. Das japanische Wort Mu bedeutet Nichts.

“Tokyo, 1. August 1958
… Das Sesshin ist im Gange! … Meine Konzentration spitzte sich schnell kräftig zu… Bohrte mich in Mu ein, denke nur Mu, atme Mu.”

"4. August
Geriet heute in Weißglut… Beim Dokusan, [einem Zwiegespräch mit dem Meister] … ermahnte mich der Roshi [der Meister]: ‘Sie sehen sich jetzt der letzten und stärksten Schranke zwischen sich und der Selbst-Wesensschau gegenüber. … Sie müssen bohren, bohren, unermüdlich bohren … Mag kommen, was da will, lassen Sie Mu nicht los. Üben Sie die ganze Nacht hindurch Zazen, wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie Mu im Schlaf verlieren könnten.’ …

‘Mu-te’ still im Tempelgarten, bis die Uhr eins schlug… Erhob mich, um meine steifen, schmerzenden Beine zu bewegen und taumelte in einen Zaun nahebei. Plötzlich erkannte ich: Der Zaun und ich sind ein formloses Holz-und-Fleisch-Mu. Natürlich! … Spornte mich in hohem Maße an… Strengte mich weiter an bis zum Gong um 4 Uhr früh."

[AB:] Der Roshi erkennt diese Einsicht noch nicht als Erleuchtung an, der Schüler meditiert weiter.

"5. August
Warf mich neun weitere Stunden auf Mu, so völlig versunken, daß ich vollkommen verschwand… Nicht ich frühstückte, sondern Mu. Nicht ich fegte und wischte die Fußböden nach dem Frühstück, sondern Mu. Nicht ich aß zu Mittag, sondern Mu aß…

Dokusan am Nachmittag!… Einem Falken gleich prüfte mich der Roshi mit den Blicken, als ich seinen Raum betrat, zu ihm ging, mich niederwarf, mich vor ihn hinsetzte …

‘Das Weltall ist Eins’, begann er, und jedes Wort bohrte sich gleich einem Geschoß in meinen Geist ein. [Er fuhr weiter:] ‘Der Mond der Wahrheit -’ Urplötzlich verschwanden der Roshi, der Raum, jedes einzelne Ding in einem blendenden Strom von Licht, und ich hatte das Gefühl, in unaussprechlich köstlichem Entzücken gebadet zu werden… Für eine flüchtige Ewigkeit war ich allein – ich allein war… ‘Ich habe es! Ich weiß es! Da ist nichts, absolut nichts. Ich bin alles, und alles ist nichts!» rief ich aus, mehr zu mir selbst als zum Roshi sprechend, stand auf und ging hinaus …’ "[1]

Noch eine kurze Schilderung eines Erleuchtungserlebnisses, ebenfalls aus dem Buch von Kapleau. Es ist von einem Japaner, Direktor einer großen Firma, 47 Jahre. Er hatte einige Jahre Zazen geübt. Die Erleuchtung ereignete sich, nach einem Klosterbesuch, bei ihm zu Hause.

“November 1953
In tiefer Nacht wachte ich auf einmal auf. Zuerst war mein Sinn umnebelt. Plötzlich tauchte der Vers in meinem Bewusstsein auf: ‘Ich habe klar erkannt: Geist ist nichts anderes denn Berge und Flüsse und die große weite Erde, als die Sonne, der Mond und die Sterne’, und ich wiederholte ihn mir. Urplötzlich war mir, als ob mir ein elektrischer Schlag durch den ganzen Körper führe, und im gleichen Augenblick stürzten Himmel und Erde ein. In der gleichen Sekunde wallte eine ungeheure Freude gleich Sturzwellen in mir auf, ein wahrer Orkan von Freude, und ich lachte laut aus vollem Halse: ‘Ha, ha, ha, ha, ha, ha, ha! Da gibt es überhaupt keine Vernunft, ganz und gar keine Vernunft. Ha, ha, ha, ha, ha!’.”[2]

Und nun noch eine ganz kurzer Bericht eines mystischen Erlebnisses, einschließlich eines Kommentars:

“Feuchter Nebel auf dem Berge Lu, und Wellen wild bewegt im Che-Chiang; Bist du noch nicht dort gewesen, wirst du es sehr bereuen; Warst du erst dort und wendest wieder heim den Weg, wie nüchtern sehen dann die Dinge aus! Feuchter Nebel auf dem Berge Lu, und Wellen wild bewegt im Che-Chiang.”[3]

Das waren die mystischen Erfahrungen die ich vorstellen wollte und die ich nun erörtern möchte. Sind sie wirkliches ein Indiz für die Existenz für die Existenz eines Gottes, zumindest eines numinosen, transzendentem, jenseitigem? In Mechthild von Magdeburgs Buch “Das fließende Licht der Gottheit” wird schon zu Beginn des Buches “behauptet, daß es die Worte Gottes enthalte”,[4] Gott habe sogar den Titel des Buches bestimmt. In den zitierten zeitgenössischen zenbuddhistischen Erfahrungsberichten findet sich die ganz unbuddhistische Behauptung, “dass Mu sehen – Gott sehen ist.”[5] Der Zen-Meister Yasutani Roshi (1885–1973) äußert sie gegenüber einer amerikanischen Schülerin.

Geläufige Kategorien zur Einteilung der Mystik sind theistische, nicht-theistische, personale, apersonale Mystik, Naturmystik und ekstatische Mystik. Ich teile sie in folgende drei Kategorien ein: 1. Anerkennungs- und Geborgenheitsmystik 2. Erkenntnismystik und 3. Präsenzmystik.

Die vorgetragenen christlichen Berichte sind Beispiele für die Anerkennungsmystik. Die zwei ersten zenbuddhistischen Berichte sind Beispiele für die Erkenntnismystik, die kurze letzte, ebenfalls eine zen-buddhistische, ist ein Beispiel für die Präsenzmystik. Die islamische Mystik, zumindest die mittelalterliche, scheint mir überwiegend eine Anerkennungsmystik zu sein, aber ich kenne diese Mystik nur sehr oberflächlich. Auch die hinduistische kenne ich nur oberflächlich, in ihr finden sich auf jeden Fall anerkennungs- und erkenntnismystische Erlebnisse.

Was hat es mit der christlichen Mystik auf sich?

Wie aus den zitierten Beispielen der christlichen Mystik ersichtlich, litten die Mystikerinnen starke seelische Nöte. Mystiker waren im Mittelalter überwiegend Frauen. An was haben sie gelitten? Nach ihren eigenen Worten und Verständnis litten sie an der Abwesenheit des Geliebten, wurden sie verzehrt von Sehnsucht nach ihrem Bräutigam Christus. Eine Frage liegt nahe: Warum suchten sich diese Frauen keinen realen Bräutigam? Warum sperrten sie sich ihr Leben lang in Klosterzellen ein, beteten und marterten sich Tag und Nacht um immer mal wieder von einem himmlischen körperlosen Wesen Geborgenheit und Liebe zu erhalten? Weil der himmlische Bräutigam der allerbeste, der unübertreffliche ist und/oder, weil sie Auserwählte waren? Die wirklichen Gründe scheinen ganz andere gewesen zu sein.

Die folgenden, sehr gerafften, Ausführungen zur christlichen Mystik des Mittelalters verdanke ich der Untersuchung des Psychohistorikers Ralph Frenken.[6] Er analysierte, anhand schriftlicher Zeugnisse, 19 Mystikerinnen und drei Mystiker, u.a. den neben Meiser Eckart bekanntesten deutschen Mystiker Heinrich Seuse.

Nach der Untersuchung Frenkens waren Mystiker Menschen, die in ihrer Kindheit schwere seelische und körperliche Misshandlungen erlitten. Sie wurden von psychischen Erkrankungen zum mystischen Weg genötigt und diese waren auch die Ursache ihrer sogenannten mystischen Erfahrungen, der Halluzinationen, welche von ihnen und ihrer Umgebung als Visionen er- und verklärt wurden.