Mystische Erfahrungen: Ein Gottesbeweis? (3)

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Die Mystikerin Birgitta von Schweden (14. Jahrhundert)

(hpd) Mystische Erfahrungen werden von Gläubigen gerne als Beweis für die Existenz Gottes angeführt. Alfred Binder setzt sich kritisch mit diesem Gedanken auseinander.

 

Nachdem er in den ersten beiden Teilen mystische Erfahrungen aus dem christlichen Kulturkreis und dem Zen-Buddhismus vorgestellt hat, vertieft er nun seine Betrachtungen zur zenbuddhistischen Mystik.

Was hat es mit der zenbuddhistischen Mystik auf sich?

Die Erkenntnismystik, zu denen ich die im zweiten Teil zitierten zenbuddhistischen Erfahrungen zähle, strebt nach der Erkenntnis der sogenannten “wahren Natur der Wirklichkeit”. In allen acht Erlebnisberichten im Zen-Buch Kapleaus ist es letztlich immer die folgende Gleichung die erkannt wird: Mu ist alles, ich bin Mu, ich bin alles und alles ist ich. Diese Behauptung wird schon in den nichtbuddhistischen Upanishaden aufgestellt, die um die Zeit Buddhas entstanden, also ungefähr im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung.

Nach der Mandukya Upanishad (1.2.) ist Atman, die Einzelseele, Brahman, die Weltseele bzw. Gott, anders formuliert: ich, meine Seele, ist alles, alles ist ich. Daraus entwickelte sich die mystische hinduistische Strömung des Advaita-Vedanta, die sich, ebenso wie das Zen, als nichtdualistisch versteht; positiv formuliert, sie weiß, dass alles eins ist.

Der christliche und islamische Mystiker musste sich aus dogmatischen Gründen damit begnügen der Liebling des Chefs zu werden, der indische Mystiker erkennt, dass er selbst der Chef ist.

Der islamische Mystiker Mansur al-Halladsch (858–922), bezahlte diese Erkenntnis mit dem Leben. Die islamische Orthodoxie ließ ihn für sein Wort: “ana al-Haqq” hinrichten. Das Wort bedeutet “Ich bin die Wahrheit”, aber auch “Ich bin Gott”.  

Der psychische Gewinn einer Erkenntnis wie, ich bin alles, ich bin Gott, liegt auf der Hand: Wenn ich alles bin, dann kann mir nichts geschehen, dann bin ich absolut sicher. Im Gegensatz zum “gewöhnlichen” christlichen und islamischen Mystiker bin ich nicht von der Gnade eines allmächtigen Willkürherrschers abhängig, wie es der christliche und islamische Gott ist. Ich selbst bin ja Gott und die ganze Welt, sie ist nur ein Spiel, eine Illusion, mit der ich mich unterhalte. Es fragt sich nur, warum gerade ICH dieses alles ausfüllende Selbst, dieser allumfassende Gott, sein soll und nicht etwa mein Nachbar.

Eine natürliche Erklärung für diese Erfahrungen liegt nahe: Die exzessive Konzentration auf ein Objekt bewirkt eine vollkommene Durchdringung der Psyche mit diesem Objekt. Beliebte Konzentrationsobjekte sind Gebetszeilen, Silben, Mantras, manchmal bewusst völlig sinnlose. Mu ist das beliebteste im Zen, die islamischen Mystiker benutzten oft den ersten Teil der sogenannten Schahada, des “Glaubensbekenntnis”, lā ilāha illā-llāh, “es gibt keinen Gott außer Gott”.

Wir alle kennen die Ausfüllung der Psyche mit nur einem Inhalt, aber meist in schwächerer Form, z.B. wenn wir uns für längere Zeit mit ein- und derselben Sache beschäftigen oder längere Zeit eine monotone Arbeit verrichten. Unsere Psyche fängt an mit diesen Beschäftigungen durchdrungen zu werden, wir setzen sie manchmal sogar in unseren Träumen fort. Das totale Ausfüllen der Psyche mit einem einzigen Inhalt scheint eine Regression in frühkindliches Erleben zu bewirken, scheint in Erfahrungswelten zu katapultieren in denen wir die Welt noch nicht so separiert erfuhren wie jetzt; das ist ungefähr bis zum dritten Lebensalter der Fall.

Wenn die Entwicklungspsychologie Recht hat, können wir drei Stadien der Etablierung der sogenannten dualistischen, trennenden Sichtweise beim Kleinkind unterscheiden. Es ist also nicht verwunderlich, dass es auch Stadien der Tiefe der Nondualitätserfahrung gibt, der Tiefe der, in Anführungszeichen, Erleuchtung.

Das tiefste, erste und umfassendste Alles-Ist-Eins Erleben ist sicher das Erleben im Mutterbauch. In ihm sind wir alles was ist, wir füllen die ganze Welt aus, baden in ihr wie in einem Ozean. Diese Welt ist allerdings, ohne dass wir es wissen, nur so groß wie der Bauch unserer Mutter.

Diese totale Alleinheitserfahrung wird mit der Geburt zerstört, aber immer noch erleben wir uns noch nicht so stark von unserer Umwelt getrennt, wie ab dem 3. Lebensjahr. In unserer Wahrnehmung werden bspw. Vorder- und Hintergrund noch nicht so klar unterschieden, vor allem aber haben wir noch kein Ich-Bewusstsein. Dieses Bewusstsein erwerben wir um den 18. Lebensmonat, dann erkennen wir uns auch im Spiegel. Es wird uns dann bewusst, dass wir existieren und dass die Grenze unseres Daseins unser Körper ist. Bis ungefähr zum dritten Lebensjahr fühlen wir aber immer noch eine größere Geborgenheit als später, wir fühlen uns von höheren Wesen bewacht und behütet, nämlich von unseren Eltern oder anderen Erziehungspersonen, vorausgesetzt wir haben uns behütende Erziehungspersonen. (Die christlichen Mystiker hatten sie nicht, sie mussten sie deshalb herbeileiden.)

Bis zum 3.Lebensjahr empfinden wir unsere Eltern als eine Einheit, um das dritte Lebensjahr müssen wir aber die verstörende Entdeckung machen, dass es zwei Geschlechter gibt und dass auch die Eltern zwei verschiedenen Geschlechtern angehören und damit, anders als wir glaubten, keine solche Einheit bilden.

Die Erkenntnis von zwei Geschlechtern, sozusagen der Urdualismus, wird in den Schöpfungsmythen als das Auseinanderdriften von Himmel und Erde geschildert. Das Motiv des Auseinanderdriftens von Himmel und Erde findet sich unter anderem im Schöpfungsmythos des Korans. Auf der Erkenntnis zweier Geschlechter und der Entstehung der Lebewesen durch den Geschlechtsakt beruht die Yin-Yang-Philosophie: sie ordnet allen Dingen der Welt ein Geschlecht zu. Einfach deswegen, weil die Chinesen glaubten, alle Dinge sind durch so etwas wie einen Geschlechtsakt entstanden. Die Entdeckung von zwei Geschlechtern bedeutet die endgültige Vertreibung aus dem Paradies des Alles ist Eins.

In den zenbuddhistischen Erleuchtungsberichten finden wir die Formulierung, es ist als würden Himmel und Erde zusammenbrechen. In einem meiner zitierten Erleuchtungsberichte hieß es: “Urplötzlich war mir, als ob mir ein elektrischer Schlag durch den ganzen Körper führe, und im gleichen Augenblick stürzten Himmel und Erde ein.” Das Einstürzen von Himmel und Erde bedeutet also, das separierende Erleben bricht zusammen, der Zaun wird Mu, der Berg wird Mu und wenn wir tief genug zurückgehen, wird die ganze Welt Mu und wir werden die ganze Welt.

Demnach ist auch die Erkenntnismystik eine Geborgenheitsmystik und bedeutet alles andere als die Zurücknahme von Egozentrität, im Gegenteil, sie läuft auf ein unendliches Aufblähen des Egos hinaus, womit die Erkenntnismystik ebenfalls eine Anerkennungsmystik ist, besser: eine Selbsterhöhungsmystik.

Der christliche Mystiker muss nichts erkennen, er ist sich der Existenz seiner himmlischen Wesen sicher, er muss sich nur ihrer Zuneigung und Anerkennung versichern, am besten die vom obersten Herrn, vom Schöpfergott.

Im Buddhismus gibt es keinen solchen obersten Herrn und keinen Schöpfergott, das hat den besagten Vorteil, dass sich der Mystiker selbst als Gott, als ein pantheistischer Gott, erkennen kann. Das verdeutlicht auch, dass die Mystik, wie jede andere Erfahrung, theorieinduziert ist, dass in ihr unter anderem wahrgenommen wird, was ein Individuum an Überzeugungen über Gott und die Welt verinnerlicht hat.

Es gibt zwei große Schulen des Mahayana-Buddhismus, die Leerheits- und die Nur-Bewusstheitsschule. Für die erste ist die wahre Natur der Wirklichkeit Leere, für die zweite ist die wahre Natur der Wirklichkeit Geist. Diese Lehren wurden in den zwei von mir zitierten buddhistischen Erleuchtungsberichten ausgesprochen. Im ersten wird erkannt: Da ist nichts, absolut nichts, aber auch, alles ist ich. In der zweiten hieß es, ganz poetisch: Geist ist nichts anderes denn Berge und Flüsse und die große weite Erde (Dogen).

Aus der Sicht des frühen Buddhismus, des Hinayana, war die Alles- ist-Ich, Alles-ist-Geist-Lehre ein Rückgang zu der von Buddha als Irrlehre gebrandmarkten Philosophie der Upanishaden.

Nach der Mittleren Sammlung des Kanons lehnt Buddha den Trost, den man aus der narzisstischen Gleichung ziehen könnte Ich, Selbst und Welt sind eins mit folgenden Worten ab: “ein solches Selbst gehört mir nicht, habe ich nicht, bin ich nicht.” (Majjhima Nikaya, MN 22, 16). Dem Menschen, der den Erlösungsweg gehen will, rät Buddha, er soll nicht denken, er sei das All, er soll nicht denken er sei im All, aus dem All oder: “‘Mein ist das All’. Wenn er so nicht denkt, dann ergreift er nichts in der Welt. Nichts ergreifend, wird er nicht erschüttert. Unerschüttert gelangt er eben bei sich selber zur Wahnerlösung.” (Samyutta Nikaya, SN 35,30)

Ich bin davon überzeugt, dass sich auch hinter vielen buddhistischen und anderen asiatischen mystischen Erfahrungen die Dynamik von Kindheitstraumata verbergen. Hier ist jedoch nicht der Ort um das näher zu begründen. Aber um einem Missverständnis vorzubeugen: Nicht jede mystische Erfahrung, welcher Form auch immer, muss auf einer psychischen Krankheit beruhen. Solche Erfahrungen können ganz unterschiedliche, mehr oder weniger natürliche Gründe haben, so intensive Meditationsmarathons, Drogen oder lebensgefährliche Situationen.

Damit komme ich zur dritten und letzten Form der Mystik, die ich Präsenz- oder Gewahrseinsmystik nenne. Sie werde ich in der nächsten Folge erörtern und ein Resümee der Mystik insgesamt ziehen.