Evolution. Was stimmt?

„Die wichtigsten Antworten“ verspricht das neueste Buch des deutschen Evolutionsbiologen Prof. Dr. Josef H. Reichholf. Hält es, was es verspricht?

Buch und Autor

„Evolution“ gehört zur „Was stimmt?“-Reihe des Herder-Verlages. Es handelt sich um Taschenbücher für Laien, die auf je 128 Seiten eine Einführung zu einem bestimmten Thema bieten, vom Islam bis hin zur Humangenetik ist die Themenvielfalt groß. Die Autoren sind jeweils Wissenschaftler und Spezialisten auf ihrem Gebiet, so auch Dr. Reichholf, der 2005 den Treviranus-Preis des Verbands Deutscher Biologen erhielt.

In dem Buch „Evolution“ geht es nicht nur um die Evolutionsbiologie, sondern auch um philosophische und gesellschaftliche Fragen, die mit ihr verknüpft sind. So reichen die Themen von Natürlicher Selektion und Mutation bis hin zur Frage nach einem freien Willen und der Frage nach einem intelligenten Designer, also Gott.

 

Sprache und Gestaltung

Grafiken, Fotos und Merkkästen mit kurzer Zusammenfassung der Hauptaussagen ergänzen den Text, jedem Absatz ist eine Überschrift zugeordnet. Das sprachliche Niveau zielt ebenfalls auf Laien ab, das Buch ist also leicht zu verstehen. Stilistisch und formell ist „Evolution“ sehr gut gelungen.

 

Inhalt

Inhaltlich stand Dr. Reichholf vor einer sehr schwierigen Aufgabe: Er musste ein so komplexes Forschungsgebiet wie die Evolution und die großen Themen um sie herum auf rund 100 Seiten allgemeinverständlich zusammenfassen. Die größte Herausforderung für jedes Buch dieser Art ist es, unzulässige Vereinfachungen zu vermeiden. Der Mathematiker Ian Stewart und der Genetiker Jack Cohen sprechen in diesem Zusammenhang von „Lügen für Kinder“. Streng genommen stimmen Erklärungen durch eine grobe Vereinfachung nicht mehr. So eng muss man es jedoch nicht sehen, da eine Einführung in ein Thema kaum anders möglich ist. Trotzdem sollte man sich über dieses Problem bei der Lektüre im Klaren sein. Verschärft werden die Schwierigkeiten mit dem Anspruch der Reihe, zu klären, was stimmt und was demnach eben nicht stimmt.

Bei der Evolution hat man es damit zunächst einmal leicht, denn sie gilt aufgrund der erdrückenden Beweislast der Belege als Fakt. Dies betrifft jedoch nur die Grundprinzipien der Evolution, also Abstammung und Entwicklung der Lebewesen, natürliche und sexuelle Selektion, Variation, Mutation, Adaptive Radiation und einige weitere Mechanismen. Nicht dazu gehören viele Detailfragen, zu denen es durchaus mehrere Theorien gibt. Und hier passiert es Dr. Reichholf gelegentlich, dass er eine von vielen Theorien so darstellt, als wäre sie ein Fakt. Dazu gehört die Auffassung, der Mensch habe die Bäume verlassen, um in der Savanne Großwild zu jagen. Dessen eiweißreiches Fleisch trug zur Vergrößerung des menschlichen Gehirns bei (vgl. S. 29). Man könnte dies als die „klassische Theorie“ der Menschwerdung bezeichnen, weil sie eine der ältesten und beliebtesten ist, es gibt jedoch noch viele weitere Ansätze und die Geschworenen beraten noch, wie es die Amerikaner ausdrücken. Eine andere Theorie vertritt Jared Diamond in „Der dritte Schimpanse“, welches im Anhang von „Evolution“ empfohlen wird: „Während der meisten Zeit unserer Geschichte waren wir keine kühnen Jäger, sondern geschickte Schimpansen, die sich mit Hilfe von Steinwerkzeugen pflanzliche Nahrung beschafften und Kleinwild erbeuteten und zubereiteten“ (Diamond, Jared: Der dritte Schimpanse S. 56). Für Diamond spielte der Fleischkonsum keine große Rolle für die Entwicklung des Gehirns.

Ein anderes Beispiel ist die Bedeutung von Großfamilien und Familienclans für den Menschen, die Dr. Reichholf als sehr hoch einschätzt und nicht glaubt, dass der Staat sie ersetzen kann. Dies ist trotz der guten Argumentation nur eine Meinung, bestenfalls eine Theorie, und kein „faktisches“ Ergebnis der Soziobiologie und hätte deutlicher als solche gekennzeichnet werden müssen.

Den Ausführungen zum freien Willen (S. 92-99) fehlt es leider etwas an Klarheit. Der Wille sei an neuronale Prozesse gebunden und trotzdem nicht determiniert. Außerdem wird „freier Wille“ oft gleichbedeutend mit „eigenständiger Wille“ verwandt. Woher diese Freiheit kommt und worin genau sie besteht, diese Fragen bleiben offen. Was Dr. Reichholf vermutlich sagen wollte, wäre mit einer sprachlich-gedanklichen Trennung von Willensfreiheit und Handlungsfreiheit sehr viel deutlicher geworden, wie sie etwa der Philosoph Michael Schmidt-Salomon vornimmt. Es wäre außerdem interessant gewesen zu erfahren, wer ausgerechnet die Theologie für eine „hoch geschätzte Wissenschaft“ (S. 121) hält.

 

Einordnung

Interessant am Beispiel „Evolution“ ist auch der langsame Übergang, den man in der deutschen Diskussion feststellen kann, von einer versöhnenden Position bezüglich Wissenschaft und Religion zu einer Position, welche die beiden Herangehensweisen für unvereinbar hält. „Evolution“, stellvertretend für den Stand der Debatte in Deutschland, steht irgendwo dazwischen, während man in den USA und Großbritannien schon bei Aufklärung versus Religion angelangt ist. Ich vermute, dass wir uns ebenfalls in diese Richtung bewegen.

 

Fazit

All dies soll aber nicht davon ablenken, dass „Evolution“ ein sehr gutes Einführungsbuch in Evolutionstheorie und Soziobiologie für Laien ist. Es befindet sich insgesamt auf dem neuesten Stand der Forschung, wurde geschrieben in einer allgemeinverständlichen Sprache und dass ein Buch mit 128 Seiten zu einem komplexen Thema Fragen offen lässt, sollte niemanden verwundern. Wäre öfter darauf hingewiesen worden, dass es in speziellen Fällen alternative Theorien gibt und wären die philosophischen Ausführungen etwas deutlicher gewesen, dann gäbe es nichts an „Evolution“ auszusetzen. Für Laien ist das Buch auf jeden Fall zu empfehlen, eben gerade, weil es nicht alle großen Fragen beantwortet – ein praktisch unerreichbares Ziel - dafür umso mehr Interesse an der Evolution erweckt. Und genau darin liegt der Wert dieses Buches.

Andreas Müller