Die Bibel des Antihumanismus

ZWICKAU. (hpd) Der Kulturwissenschaftler Hermann Glaser hat im Mai dieses Jahres ein, wie von ihm gewöhnt, äußerst belesenes Buch veröffentlicht, in dem allerdings seitenweise aus Hitlers “Mein Kampf” zitiert wird. Die Bekenntnisschrift des späteren “Führers” erschien im Juli 1925 und erreichte bis 1944 eine Auflage von elf Millionen. Glasers Buch stößt mitten hinein in eine aktuelle Debatte. Wie soll mit dem historisch bedeutsamen Machwerk künftig umgegangen werden, wo doch 2015 die Urheberrechte auslaufen. Hitler ist dann siebzig Jahre tot.

Der Staat Bayern verbot bisher jeden Nachdruck des Propagandawerkes mit urheberrechtlicher Begründung. Er besitzt diese Rechte durch die Übernahme des Münchener Nazi-Verlages “Franz Eher Nachfolger GmbH” (aufgelöst 1952) aus den Händen der Besatzungsmacht. Dieser Verlag gehörte dem “Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterverein” mit Adolf Hitler als Vorstand. Der Autor Hitler hat sein eigenes Buch erfolgreich vermarktet – mit Hilfe des Staat gewordenen Nationalsozialismus – ganz schöne Chuzpe.

Die Justizministerkonferenz hat am 26. Juni 2014 in Binz auf Rügen beschlossen, dass das Verbot bleiben soll. Da das Buch “ein furchtbares Beispiel einer menschenverachtenden Schrift” sei, gelte (so die neue Legitimation) der Straftatbestand der Volksverhetzung. Gilt das aber auch für eine kommentierte Ausgabe, wie sie das Münchner “Institut für Zeitgeschichte” offensichtlich plant, wie dessen Leiter Andreas Wirsching mit dem Zusatz mitteilte, man wolle damit “Hitler umzingeln”, eine Anti-Hitler-Schrift machen. Wie diese aussehen könnte, darauf geben die jüngst erschienen Publikationen von Barbara Zehnpfenning – eine “Interpretation” (2000) und eine “Studienausgabe” (2011) – Fingerzeige.

Hermann Glaser bewertet dieses und ähnliches Herangehen (Othmar Plöckinger, 2011; Volker Ullrich, 2013) als “Irrweg” (FN 391, S. 310–314, hier S. 311). Es werde so nicht sichtbar, dass Hitler als Autor “ein jede Humanität niedermetzelnder Amokläufer” und “mieser abgründiger Spießer [war], der zum Schicksal eines Volkes werden konnte, weil er alle Untugenden und Ressentiments dieses Volkes inkorporierte”. (S. 309; ähnlich S. 36) Man müsse mentalitätsgeschichtlich deutlich machen, “welche Bedeutung für Hitler die im 19. Jahrhundert sich durchsetzende ‘Spießer-Ideologie’ hat; sie katapultierte ihn nach oben.” (S. 308)

Nicht Hitler hat das Volk verführt, so lautet Glasers Essenz, es hat sich gern von ihm in sein Unheil führen lassen, weil es sich durch ihn verstanden fühlte. Das ist eine starke These. Sie ähnelt Konzepten der Besatzungsmächte von 1945, die eine “Umerziehung” des deutschen Volkes anstrebten … und Glaser provoziert die Frage, was hat sich tradiert? Was davon bildet den Nährboden für den “Nationalsozialistischen Untergrund”. Wie ist dem zu begegnen?

Glaser ist ein vehementer Verfechter einer Kultur mit humanistischen Ansprüchen. Es fällt sogar auf, wie operativ der Autor mit den Begriffen Humanität und Humanismus umgeht – gar nicht selbstverständlich in der aktuellen Publikationswelt. Die gleichen humanistischen Maßstäbe lagen schon bisher seinen zahlreichen anderen Publikationen zugrunde – sei es zur “Industriekultur”, zur Postgeschichte, Kulturarbeit oder Kulturwissenschaft. Sie prägten auch seine langjährige politische Tätigkeit als Kultur- und Schuldezernent der Stadt Nürnberg (1964–1990). Inzwischen 85-jährig schreibt er weiter tapfer gegen Kulturstumpfsinn und Antihumanismus an. Hier ist er geradezu ein “junger Wilder”.

So ist auch das vorliegende Buch eine intellektuelle und zugleich kulturpolitische Kampfschrift gegen eine falsch verstandene Verwissenschaftlichung der Auseinandersetzung mit Hitlers “Mein Kampf”. Gegen diese folgenreiche Weltanschauungsschrift könne man nicht mit den üblichen Methoden der sachlichen und kommentierenden Analyse vorgehen. Das gleiche dem Vorhaben, Alkoholismus mit Koma-Saufen zu bekämpfen, weshalb wohl auch die Bayrische Staatsregierung die ursprünglich bewilligten Fördermittel von einer halben Million Euro nicht dafür ausgeben werde. (S. 311)

Stattdessen müsse offen Partei ergriffen werden für humanistische Wertvorstellungen, eben weil der Verfasser Hitler, wofür Glaser das Werk “Mein Kampf” sezierende Belege in Menge anführt, in seinem Buch nicht nur alle späteren menschenverachtenden Maßnahmen des deutschen Faschismus prophezeite. Hitler vertrat – und das ist, wie erwähnt, der Kern von Glasers Anliegen – Überzeugungen, die in der deutschen Mentalitätsgeschichte ihre Entsprechungen besitzen. (vgl. dazu S. 307–314)

Dabei werden von Glaser nicht nur diejenigen Quellen reflektiert, die in der direkten Kontinuität zu Hitler führen, sondern auch dazu konträre aus der humanistischen Geistesgeschichte, die durch Umdeutung “eingebaut” wurden, etwa Goethes Frauenbild in der “NS-Maid”-Spiegelung: “Die Jungmädelführerin war ein Obergretchen mit Amazonenallüren beziehungsweise eine Amazone mit Gretelzöpfen.” (S. 56) Oder aus den “Lagebesprechungen im Führerhauptquartier” (Hans Heiber, 1962) zitierend (hier S. 73): “Die SA marschiert nämlich für Goethe, für Schiller, für Kant, für Bach, für den Kölner Dom und den Bamberger Reiter. […] Wir müssen jetzt für Goethe mit Bierkrügen und Stuhlbeinen arbeiten.”

Hitlers Denken sei weitgehend deckungsgleich mit vielen Alltagsansichten des deutschen Volkes und mit dem Konservatismus des akademischen Betriebs seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert: “Monokelforschheit”, “Plüschmentalität”, “Antihumanitätsfanatiker”, “Bildungsantisemiten” … (S. 198) Auch die Kirchen hätten versagt, fungierten als Quellengeber für den Judenhass und (Karl-Dietrich Bracher zitierend) beförderten “Pastorennationalismus”. (S. 183, 211; besonders der Exkurs in FN 243, S. 207–217)

Glaser geht so vor, dass er zu den Stichworten “Hitler und die Deutschen”, “Seelenbild des Mädel”, “Erziehungsdressur”, “Österreich als Trauma”, “Krieg als Lebenserfüllung”, “Rassenwahn und Blutmystik”, “Bestialisierung”, “Judenhass”, “Wortgewalt”, “Wortgewalt und Sprachzerstörung”, “Sündenbock ‘Entartete Kunst’” und “Der Wahn als Buch” jeweils zunächst umfänglich Textauszüge bringt, um dann die Herkunftsgeschichte vorzustellen, etwa so: "Hitlers Trieb- und Instinktverherrlichung übernahm von Darwin die Vorstellung vom behaarten Vierfüßler (ohne dessen biologische Systematik), von Nietzsche den Grausamkeitskult (ohne dessen Zerrissenheit und philosophische Vieldeutigkeit), von Spengler die pedantische Brutalität (ohne dessen tatfremde Natur). (S. 171)

Daraus entstand ein spannendes und durch die bildhafte Sprache Glasers gut lesbares Lesebuch mit zahlreichen Hinweisen, Erklärungen und Exkursen (etwa zum Film und über die Journalisten im “Dritten Reich” in FN 358, S. 283 ff., 287 ff.), Fußnoten und Wertungen, inklusive das umfängliche Schrifttum (vgl. auch Bibliographie der eigenen Schriften zum Thema, S. 10 ff., und der weiterführenden, nicht zitierten Literatur, S. 322–336; sowie ein Personenregister). Der Autor erlaubt sich keine Ironie und keinen Sarkasmus, so oft sich diese Reaktionsweisen durch den Hitler-Text – eigentlich eine verschriftlichte, überdimensionalisierte Rede (vgl. S. 229) – selbst anbieten. Glaser nimmt Hitler, die historischen Folgen kennend, sehr ernst und sehr wörtlich: “Das Buch war so erfolgreich, weil es überhaupt nicht mehr gelesen werden musste.” (S. 8)

Nun könnte man gegen Glasers Thesen und Herangehen einwenden, dass es zwar verschiedene “Geistesgeschichten” der Zeit zwischen 1870/71 und 1945 gibt, aber nur wenige wissenschaftliche Studien zur “Volkskultur” (woher also das Urteil?); auch könnte man sagen, dass Glaser die Gegenströmungen in intellektuellen Szenen und in der Arbeiterbewegung und deren Kulturen vernachlässigt, gerade auch die humanistischen Bewegungen, und hier wieder diejenigen, die sich gegen den Faschismus wandten – doch muss man dem Autor drei seinem Werk inhärente Tendenzen wie Beweisbündel diesen Kritiken Zugutehalten:

Da ist erstens das offensichtliche Fortleben diverser Kultururteile in der Bundesrepublik, die Glaser selbst gerade in Bayern erlebt hat, vor allem in der Generation, die der Nationalsozialismus sozialisierte. Alle diese Menschen und ihre Überzeugungen waren ja 1945 nicht einfach verschwunden, ihre Auffassungen wurden durchaus “vererbt”, zum einen an die eigenen Kinder, zum anderen aber durch die bis heute “lebenden” Ansichten, der Antifaschismus sei nur eine Spielart des “Bolschewismus” (hier genauestens Hitler folgend, nur dass nahezu niemand mehr wagt, vom “jüdischen Bolschewismus” zu reden).

Zweitens ist Glaser in jeder Zeile ein Enthusiast der Aufklärung in einem weiteren Sinn. Er weist den “neutralen” Kulturbegriff von sich, der auch den Faschismus als Kultur nimmt (was Kulturwissenschaft, wie sie der Rezensent vertritt, analytisch durchaus produktiv macht). Kultur ist für Glaser das Gegenteil von Kulturlosigkeit – und “Mein Kampf” ist Ausdruck von Barbarei, Kulturferne, Humanitäts- und Humanismusfeindschaft in Gänze wie im Detail.

Drittens klagt Glaser an, dass Hitlers Schrift zwar aus guten Gründen in Deutschland (im Gegensatz zu anderen Ländern) verboten ist und seiner Ansicht nach weiter verboten bleiben soll, dass dies jedoch zu einer weitgehend totalen Abstinenz geführt hat, dieses Werk, das einst alle Eheleute geschenkt bekamen (wofür Hitler Tantiemen erhielt, die ihn – plus sein Konterfei auf Briefmarken – zum Multimillionär machten), öffentlich wirksam zu demaskieren.

Die Intellektuellen fassen den Stoff “Mein Kampf” nur mit spitzer Feder an, in den Schulbüchern ist nicht viel zu finden, nicht viel, eher Klischees, in der Geschichtswissenschaft gibt es den groben Überblick, keine Feinanalyse von realen Mentalitäten und einer wirklich wirkenden Weltanschauung – und den Philosophen sind alle Weltanschauungen, ist besonders Hitler suspekt, eine “Niederung”, über der man zu stehen hat, da der “Führer” nicht an die Höhen etwa eines Heidegger heranreichte – musste er nicht: Wer kennt in außerphilosophischen Volksteilen schon Heidegger?

Glaser hat ein Buch vorgelegt, das sich dazu bekennt, der Hitlerischen Weltanschauung nicht allein mit wissenschaftlichen Einwänden begegnen zu können (etwa bei der hanebüchenen Blut- und Rassentheorie) – da wäre sie schnell abgetan –, sondern mit einer auf wissenschaftliche Befunde und einer eigenen Position gestützten Weltanschauung – dem Humanismus.

Gerade deshalb ist die Lektüre zu empfehlen, mehr noch, es ist mal wieder eine fundierte deutsche Mentalitätsgeschichte zu fordern, darin eine Kulturgeschichte des Zusammenhangs von Antihumanismus und sozialen Bewegungen – die vielleicht ohne die aufgeladene Kategorie des “Spießers” auskommt.

 


Hermann Glaser: Adolf Hitlers Hetzschrift “Mein Kampf”, Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte des Nationalsozialismus, München: Allitera Verlag 2014, 344 S., ISBN 978–3–86906–622–6, 19,90 Euro