"Gerade in Zeiten, in denen Debatten oft mehr von Vorurteilen oder Emotionen als von Argumenten geprägt sind, ist die Wahrheit für Wissenschaft und Gesellschaft von besonderem Wert". Mojib Latif, Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg, präsentiert als Herausgeber 16 Essays renommierter Forscherinnen und Forscher aus den Natur- und Geisteswissenschaften zu brisanten Fragen, die uns als Gesellschaft bewegen. Klimawandel, Migration, Verschwörungserzählungen, Wissenschaftsfeindlichkeit – in Zeiten von Krisen und angesichts wachsender antidemokratischer Kräfte stellt sich die Frage nach Wahrheit in aktueller Weise.
"Ohne den Anspruch auf eine selbständige, eine objektive und autonome Wahrheit würde nicht nur die Philosophie, sondern auch jede besondere Wissenschaft, die Naturwissenschaft wie die Geisteswissenschaft, ihren Halt und Sinn verlieren" (zit. nach Ernst Cassierer 1935).
Der Essayband der Akademie der Wissenschaften in Hamburg vereint Aspekte aus Klimaforschung, Mathematik, Biologie, Technik, Psychologie, Sprachwissenschaften und Theologie, wobei auch grundsätzliche Fragen aufgeworfen werden: Was unterscheidet Wahrheit von Realität? Wie verhält sich Wahrheit zu Wissen und Glauben? Wie kann Wahrheit definiert, erkannt und kommuniziert werden? Welche Rolle spielt Wahrheit in verschiedenen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen und was bedeutet der Begriff Wahrheit im wissenschaftlichen Sinn? Wie funktionieren Verschwörungserzählungen? Worin liegt der Unterschied zwischen Lüge und Bullshit – und in welche Kategorie passen die Geschichten von Donald Trump?
"Im Gegensatz zu Verbreitern von Verschwörungserzählungen kann die Wissenschaft Fehler eingestehen. Sie ist in der Lage, sich selbst zu korrigieren. Aber streben Forscherinnen und Forscher überhaupt nach der absoluten Wahrheit? Verkünden sie letzte Gewissheiten? Die Wissenschaft will herausfinden, wie die Dinge in der Welt funktionieren, und sucht nach bestmöglichen Erklärungen. Die Ergebnisse, die sie findet, sind oft vorläufig und Einsichten können sich im Laufe der Zeit ändern, wenn neue Informationen oder bessere Methoden gefunden werden. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler veröffentlichen ihre Ergebnisse transparent, sie müssen überprüfbar und damit widerlegbar sein, sie sind also falsifizierbar. Nur dann können sie als wissenschaftlich gelten".

Was Menschen für wahr und richtig halten, hängt damit zusammen, wie sie Wahrheit definieren. Zweifelt jemand an der Existenz von objektiven Fakten, ist er anfälliger für Verschwörungsmythen und andere Pseudowahrheiten, gleichzeitig sinkt damit die Toleranz für Andersdenkende, es wird ihnen keine eigene gefühlte Wahrheit zugestanden. Wie ein schwedisches Forscherteam der Universität in Linköping bei der Befragung von 1.400 Versuchspersonen feststellte, werden Verschwörungserzählungen vor allem dann geglaubt, wenn Wahrheit zur Gefühlssache erklärt wird. Die Antworten der Befragten ließen sich statistisch auf zwei Arten von Wahrheitsrelativismus zurückführen. Einerseits: Wahrheit sei eine Frage des subjektiven Empfindens, ausgedrückt in der Zustimmung zu Aussagen wie "Es gibt keine Wahrheit, nur Meinungen" und "Wenn sich etwas richtig anfühlt, dann ist es wahr". Andererseits: Wahrheit sei eine Frage der Perspektive und der Gesellschaft, untermauert beispielsweise durch die Aussage: "Eine Behauptung kann in einer Kultur wahr sein und in einer anderen nicht".
In unserer Gegenwart stellt sich die Frage nach der Wahrheit, befeuert durch die Macht des Internets und der neuen Medien, in neuer, hochkomplexer, besonders intensiver Weise. Mit "wissenschaftlichen Perspektiven", so der Untertitel des lesenswerten Buches, sind die Autorinnen und Autoren bemüht, dem Thema "Wert der Wahrheit" gerecht zu werden, Wissen zu vermitteln, Aufklärung zu betreiben, Wahrheitsrelativismus zu hinterfragen und den damit verbundenen Gefahren entgegenzuwirken.
"Eine anregende und erkenntnisreiche Lektüre", wünscht Prof. Dr. Mojib Latif als Herausgeber und Autor des Essays "Klimawandel: Fakt oder Fiktion?". Als Klimaforscher ist ihm die Bedeutung von Wahrheit für Wissenschaft und Gesellschaft besonders bewusst, gibt es doch viele, die den menschengemachten Klimawandel leugnen und daher Klimaschutzmaßnahmen als unnötig erachten.
Mojib Latif (Hrsg.), Akademie der Wissenschaften in Hamburg: Wert der Wahrheit – Wissenschaftliche Perspektiven, Verlag Herder GmbH, Freiburg i. Breisgau 2024, 208 Seiten, 15,99 Euro, ISBN 978-3-451-39879-7. Als PDF kostenlos online verfügbar.
