Ohne Religion keine Moral – so eine weit verbreitete Auffassung. Atheisten und Humanisten beweisen schon lange, dass diese Auffassung falsch ist. Wahr ist das Gegenteil: Religion kann moralisches Wachstum sogar hemmen.
Wer nach Synonymen für "gottlos" sucht, stößt auf die Wörter ungläubig, atheistisch und freidenkerisch, aber nur unter ferner liefen, verschüttet unter einer Lawine "bedeutungsverwandter" Begriffe wie abscheulich, amoralisch, anrüchig, ausfällig, ausschweifend, beleidigend, berechnend, blasphemisch, böse, brutal, dreist, elend, fragwürdig, frech, frevelhaft, gehässig, gemein, gewissenlos, goschert, habsüchtig, heillos, impertinent, inakzeptabel, infam, insolent, kleinlich, kriminell, kümmerlich, lästerlich, lumpig, minderwertig, nichtswürdig, niederträchtig, rotznäsig, ruchlos, rücksichtslos, schäbig, schamlos, schändlich, schlecht, schmählich, schmutzig, skandalös, skrupellos, sündhaft, unethisch, ungehörig, unverschämt, verdorben, verlogen, verrucht, verwerflich und verantwortungslos.
Die Abscheu vor der Gottlosigkeit ist tief verwurzelt in der Sprache. Über zwei Jahrtausende hinweg hat die verbale Rufmord-Munition sich festgefressen in den Köpfen, gefickt eingeschädelt von den Glaubenshütern und ihrem Gefolge.
Widerspruch tut not – auf die Gefahr hin, dass gottesfürchtige Besitzer eines Thesaurus unser Aufbegehren als "goschert und sündhaft" einstufen. Pflücken wir probehalber den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit aus der gräulichen Liste. Vergleichen wir religiöse Denkweisen mit der Perspektive des Humanismus.
Bedarf verantwortliches Handeln ethischer Richtschnüre? Würden wir ohne den berühmten moralischen Kompass zwischen Gut und Böse nicht ziellos umhersegeln in sternloser Nacht? Keine Frage: Auch Humanisten brauchen Orientierung. Doch wer kalibriert den Kompass?
Glaubt man den Christen, fußen unsere weltlichen Gesetze auf göttlichen Binsenweisheiten wie "du sollst nicht morden, nicht stehlen, nicht verleumden". Verdanken wir diese Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens wirklich dem Gott Abrahams? Hielten vorchristliche Zivilisationen Mord, Diebstahl und Lüge etwa für wünschenswert und zulässig? Wohl kaum. Diese Tabus waren überlebenswichtig für jede Kultur und galten universell, lange bevor der mythologische Moses seine Steintafeln vom Berg Sinai ins Tal schleppte.
Andererseits empfiehlt der biblische Moralkatalog Völkermord und Schwulensteinigung, Sklaven hätten sich ihren Meistern zu unterwerfen, Frauen gefälligst zu schweigen, und aufmüpfigen Kindern sei der Arsch blutig zu prügeln. Weitere Juwelen aus den himmlischen Vorschriften: Vergewaltigungsopfer hinrichten, widerspenstige Söhne massakrieren, Samstagsarbeiter exekutieren, Ehebrecherinnen umbringen, Huren dahinmetzeln, Sodomiten totschlagen, Fluchende ermorden, fremde Prediger schlachten und Ungläubige lynchen. Befolgen Gläubige heute noch diese finsteren Ratschläge des "gütigen und allwissenden Schöpfers"? Glücklicherweise nur in wenigen Herrgottswinkeln.
Diese Weltsicht, erdacht von anonymen Ziegenhirten der Bronzezeit und antiken griechischen Mystikern, hat keine Zukunft.
Darum geriert sich die Mehrzahl der heutigen Kirchgänger als "moderat". Nach welchen Kriterien entscheiden sie, welche göttlichen Direktiven sie befolgen und welche sie unter den Teppich kehren? Überraschung: Sie orientieren sich an sozialen, menschenfreundlichen, aufgeklärten Maßstäben … genau wie wir Humanisten. Nur gehen wir einen Schritt weiter und sind überzeugt, dass der erfundene Gott und das ihm zugeschriebene Buch moralisches Wachstum nicht fördern, sondern hemmen.
Denn in einer Welt, deren Lauf ein göttlicher Plan angeblich unverrückbar festgelegt hat, bleibt kein Platz für Eigenverantwortung. Wie unberechenbar sind Mitglieder einer Gesellschaft, die ethische Fragen abwälzen auf einen unsichtbaren, allgewaltigen Tyrannen, den sie wie unmündige Kinder zugleich lieben und fürchten müssen und dessen Regeln sie niemals bezweifeln dürfen? Wie gefährlich wird es, wenn das Gottesvolk im Zweifelsfall "biblischen Werten" Priorität einräumt?
Wie steht es mit Konsequenzen für schlechte Taten? Übernehmen Katholiken Verantwortung für ihr Handeln? Nur bis zur nächsten Beichte, dem Rettungsanker, wenn das ego te absolvo der Pfaffen gläubige Missetäter von allfälligen Sünden freispricht. "Bereuen und büßen" genügt, schon ist das katholische Gewissen entlastet. Ebenso gähnend offen steht das Schlupfloch der Protestanten: Luthers Sola-fide-Prinzip zufolge wird man nicht durch gute Werke "erlöst", sondern allein durch die Hinwendung zum Glauben, das Flehen um Gnade. Nach dieser Doktrin schmoren wohltätige Ungläubige in der Hölle, aber für Mörder und Vergewaltiger, die rechtzeitig am Sterbebett konvertieren, öffnet sich die Himmelstür.
Lässt ethische Verantwortung sich hier auch nur im Entferntesten erkennen?
Eher fühlt man sich erinnert an das Lied "Der Papa wird’s schon richten" des österreichischen Kabarettdichters Gerhard Bronner, der sich gern als "strenggläubiger Atheist" vorstellte und in seinem Chanson-Klassiker die blasierte Wiener Jeunesse dorée verewigte – den Typus, der nie erwachsen wird und sich auf einen einflussreichen Übervater verlässt, der alle Probleme löst.
Humanisten denken anders. Uns käme nicht in den Sinn, fahrlässig einer vermeintlichen höheren Macht zu vertrauen, die unsere Fehltritte wegzaubert. Humanisten verstehen, dass Entscheidungen Folgen haben … nicht in der nächsten Welt, sondern in dieser. Wir wissen, dass es keine "einzig richtige Art" zu leben gibt. Wir "verteufeln" niemanden, sondern bemühen uns um Verständnis, Rücksicht und Kooperation. Wir ehren die Autonomie des Körpers und der Gedanken. Wir gestehen allen Erdenbewohnern die gleichen Rechte zu und behandeln sie so, wie sie selbst behandelt werden möchten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Kaufkraft. Wir denken auch an künftige Generationen und möchten die Welt als besseren Ort verlassen, als wir sie vorfanden.
Woher nehmen wir unsere Werte? Gewiss nicht aus patriarchalischen Märchenkompendien, geschrieben von Leuten, die weniger Ahnung von der Welt hatten als heutige Zwölfjährige. Legt man den Gotteswahn ad acta, liegen die erstrebenswerten Ziele auf der Hand: lieber lebendig als tot, lieber gesund als krank, lieber Frieden als Krieg. Menschliches Wohlergehen als moralischer Imperativ.
Leider sind die Sorgen damit nicht zu Ende. Kann es nur Gewinner geben? Was, wenn dein Wohlbefinden meinem im Wege steht? 20 Kinder hungern, welches bekommt den letzten Bissen Brot? 20 Patienten brauchen ein Beatmungsgerät, aber das Spital hat nur drei, was nun? Das religiös-dogmatische Weltbild löst diese Dilemmas nicht einmal im Ansatz. Gelingt es den säkularen Humanisten?
Darüber muss man sich unterhalten, von Mensch zu Mensch.
31 Kommentare
Kommentare
Roland Fakler am Permanenter Link
Lieber Roland, da hast du ein sehr schönes „humanistisches Manifest“ verfasst, das man immer wieder mal lesen sollte.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Die Menschheit möchte eigentlich nur in Freiheit leben, ohne Bevormundung von Religionen,
von Kapitalgesellschaften, von Despotischen Politikern, ohne Unterdrückung durch jedwede
und glaubt auch noch an die Märchenerzähler und Lügner.
Viel Zeit diesen Zustand zum Vorteil der gesamten Menschheit zu verändern, haben wir nicht mehr, da die Folgen der Hab-und Machtgier bereits einen Kritischen Punkt erreicht haben, wie uns die Natur anhand der stetig häufiger und heftiger werdenden Naturkatastrophen eindeutig zeigt.
Ist der Point of no Return mal erreicht, war es das mit der Menschheit und einem Großteil der Tierwelt. Ein Sieg der Dummheit, der Feigheit und der Gier.
Gerhard Streminger am Permanenter Link
Wie sollte etwas so Brüchiges, wie die Religion es ist, etwas so Notwendigem wie der Moral ein haltbares Fundament geben können?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ach, lieber Roland, da rennst du bei mir ja offene Türen ein! Ich bin frei (von jeglicher Konfession) und froh, 'ruchlos' zu sein, um nur einen Begriff aus deiner langen Schmäh-Liste zu zitieren...
Roland Fakler am Permanenter Link
Besonders lustig fand ich immer, dass Moses mit einer Tafel vom Berg Sinai kam, auf der stand: „Du sollst nicht töten“ und dass er daraufhin Tausende töten ließ, die um das goldene Kalb getanzt haben.
Dr. Andreas Gradert am Permanenter Link
Hi Roland,
das da ist immer ein schwieriges Argumentationsfeld, die Bibel.
Ist sie für uns ein Märchenbuch, dann dürfen wir ja keine Zitate als Beweis für den Unsinn herannehmen, sie ist ja nur ein Märchenbuch.
Ist sie für uns zitierfähig, dann heben wir sie aus dem Märchenbuch-Level heraus, und argumentieren damit, machen sie also hoffähig.
Für mich habe ich entschieden, dass ich keine (sich oft widersprechenden) Aussagen aus der Bibel kritisiere und zitiere. Das ist so wie: Michael Ende hat gesagt, dass das geht, steht ja in "Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt", oder auch: Enyd Blyton hat gesagt, dass kleine Mädchen Pferde stemmen können.
Das Goldene Kalb ist ein über 3.000 Jahre alter Kult, mit dem Juden (und später Christen) doch zeigen konnten, wie viel besser sie seien. Und eine fürchterliche Drohung, die Religion bloss nicht zu verlassen, und nachweisbar viel später erst eingeschoben in das Märchen mit dem Tempelbau. Und es ist natürlich Bullshit zu behaupten, das sei offenbart.
Zweiflerin am Permanenter Link
Blasphemie! Astrid Lindgren war es, die offenbarte, dass kleine Mädchen Pferde stemmen können. ;-)
Dr. Andreas Gradert am Permanenter Link
Natürlich, Du hast recht, immer diese Sekundärliteratur.
Enid Blyton hat ja behauptet, dass alle Mädchen Zwillinge seien...
Iris Samardzic am Permanenter Link
Etwas aus der Bibel zitieren (etwa um auf innere Widersprüche hinzuweisen) heißt nicht die Bibel "aus dem Märchenbuch-Level heraus" zu heben. Wie kommst du nur auf so einen Gedanken?
Thomas Henninger am Permanenter Link
... und nur zur Info "Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt" hat sich Boy Lornsen ausgedacht, Michael Ende war der mit "die unendlichen Geschichte" und "Momo" ...
Dr. Andreas Gradert am Permanenter Link
... und das war eine Reihung von drei Literaturstellen :-)
wolfgamg am Permanenter Link
Das Leben ist kein Zuckerlecken, wenn ich einmal bitte, mit in ein Krankenhaus zu kommen, durch die Notaufnahme, zur Intensivstation, zu der Kinderkrankenstation.
Das Heil des Gläubigen liegt in der Flucht aus der Kirche, dazu gehört Mut und auch Wissen, es gibt kein Leben nach dem Tode. Wer möchte denn in dieser Welt noch einmal leben? Humanist zu sein, bedeutet auch, man kann sein Leben ohne Beten bezwingen
und das wird ja auch täglich bewiesen. Werden Humanisten noch verfolgt? Nein, man folgt immer mehr den Humanisten, gelle? Das Leben ist nämlich lebenswert!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Gegen diesen weltweit verbreiteten Wahn des Glaubens an ein erfundenes übernatürliches
Wesen, welches in allen Konfessionen postuliert wird, kämpfe ich seit vielen Jahren.
Hass, Kriege und Verzweiflung verursachen.
Die Vertreter dieses erfundenen Irrsinns haben dadurch nur Vorteile an Macht und Geld,
dies ist der einzige Grund, weshalb sie diesen Aberglauben mit aller Gewalt am Leben halten wollen und dafür ist diesen kein Mittel zu schmutzig, die Menschen, welche dies
durchschaut haben, wie damals, umzubringen oder heute, anderweitig Mundtot zu machen, mit Beleidigung und Lügen.
Ich bin mir sicher, daß dieses System eines Tages in sich zusammenbricht und nur noch Geschichte ist, denn auf Ewig kann man die Menschheit nicht verdummen!
Inzwischen ist es vielen Menschen mit Bildung klar, dass es weder Himmel noch Hölle gibt
und jeder nur das eine Leben hat und dies zum Nutzen aller, sowie seiner selbst leben kann.
Dieser Artikel hat mich in meiner Meinung voll bestätigt, und sollte alle zum nachdenken anregen.
Roland Weber am Permanenter Link
Eine maßgebliche Funktion von Religion war es, eine verbindliche Ordnung vorzugeben, die unnötige Kämpfe unter den Mitgliedern ausschließen sollte.
Heutzutage kann man es jedoch als vollkommen überholt ansehen, was Religionen zur Festigung der Gemeinschaft beigetragen haben. Zum einen ging es immer nur um die eigene Gesellschaft, die radikal von anderen abzugrenzen war (Entstehung des Judentums in der Babylonischen Gefangenschaft zur Verhinderung des Assimilation) und dem heutigen Menschenverständnis in keiner Weise mehr entsprechen kann (Sondersteuern für Anders- oder Nichtgläubige; das ganze Ehe- und Familienrecht), zum anderen geben die veralteten Wertvorstellungen schon überhaupt keine Antworten auf die heutigen Fragestellungen und Probleme. Deshalb ist das Ende des Beitrags schon deshalb wenig hilfreich, weil so der Eindruck entstehen muss, dass die Religionen zwar wenige, aber selbst Humanisten oder Säkular Gesinnte ebenfalls keine vollständigen oder bessere Antworten auf ethische Fragen hätten.
Wer innerlich bei sich ein Defizit an ethisch zuverlässigen Werten entdeckt, dem empfehle ich einfach einmal unsere heutigen Gesetze, angefangen mit dem Grundgesetz, zu lesen. Wenn dies nicht genügt, stehen zahllose andere Gesetzeswerke zur Verfügung, die kaum eine ethische oder rechtliche Frage unbeantwortet lassen. Schon gar keine der oft banalen, die in kirchlichen Predigten zur Erleuchtung der Gläubigen ausgebreitet werden. Warum es Gott zulässt, letztlich gar fahrlässig anstiftet, dass der eine den anderen Bruder erschlägt – und warum, könnte man schon viel eher fragen. Wer sich an diese weltlichen Vorgaben und Vorstellungen hält, wird zwangsläufig auch die ethische Maßstäbe nicht verfehlen, ganz im Gegensatz zu demjenigen, der seine ethischen Vorstellungen an vorgegebenen religiösen Texten ausrichtet.
Leider werden weder der Beitrag noch meine Anmerkungen irgendetwas bewirken: Zum einen, weil sie für die einen selbstverständlich sind und weil sie für die anderen weiterhin unverbindlich bleiben. Schon der Zugang zum Interessentenkreis dürfte keine gemeinsamen Schnittstellen haben. Zum andern, weil sich wohl noch nie aufgrund einiger Zeilen ein Mensch in seinem Grundverständnis gewandelt hat.
Richtig am Permanenter Link
Letzter Absatz ist wahr.
Selbstverständlich wirkte an unseren heutigen Vorstellungen von Menschenrechten auch das Christentum mit wie auch die Aufklärung und die Schrecken zweier Weltkriege. Die Ursache des Übels in der Welt ist nicht das Christentum, sondern, wenn man unbedingt gegen Religionen sein will, das Übel ist die Ursache selbst, auch die der notwendig gewordenen Aufklärung, wie auch das Christentum damals notwendig geworden war.
Kurz nach meiner Distanzierung von der anerzogenen Religiosität war ich angetan von den klangvollen Verheißungen der GB-Stiftung und dem neuen Humanisten, bis mir das substanzlose Rumgegröle der neuen Atheisten, die plötzlich alle Wissenschaftler und Klimaexperten waren, nervte. Gut so. Ich blieb geistig frei und eilte nicht zum nächsten Erlösungsversprechen wie viele Andere. Bedeutete aber auch zu ertragen, dass das Paradies auf Erden nicht zu haben ist und auch danach nicht.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ein wenig von allem abgehoben, nicht?
Und "wie bei HPD üblich, [...] ohne Belege" ist jetzt fast schon - ja, was?
A.S. am Permanenter Link
Die "Moral" der Religionen ist simpel.
Auf den Punkt gebracht: Gehorche Gott. Bis zum, bis in den Tod.
Gehorsam ist alles. Ethische Überlegungen: Fehlanzeige.
Und: Was Gott angeblich will, verkünden uns die Priester.
Damit verkommt der Gehorsam gegenüber Gott zum Gehorsam gegenüber den Priestern.
Dr. Jochen Lengerke am Permanenter Link
Ohne Religion keine Moral – dem stimme ich vollumfänglich zu.
Allerdings differenziere ich strikt zwischen Moral und Ethik, um einer größeren sprachlichen und damit gedanklichen Klarheit willen. Tatsächlich wird bereits im allgemeinen Sprachgebrauch gelegentlich deutlich differenziert, was aber nicht immer bewusst ist. So existieren beispielsweise Ethikkommissionen, meist mit medizinischem Hintergrund. Niemand käme auf die Idee, von einer medizinischen Moralkommission zu sprechen. Allein die Vorstellung löst Unbehagen aus.
Was aber ist der Unterschied zwischen Moral und Ethik? Ich möchte hier einen Vorschlag zur Differenzierung machen, indem ich Eigenheiten beide Begriffe kontrapunktisch gegenüberstelle. Jeder dieser Gegensätze ist eine Diskussion wert.
gut / böse ↔ fair / unfair
Moral legt fest, was "gut" und was "böse" ist – Ethik fragt dagegen nach fair und unfair. Das ist ein gewichtiger Unterschied. So kann Onanie niemals unfair sein, ist also ethisch nicht zu beanstanden. Sehr wohl aber wird die "abscheuliche Sünde der Selbstbefleckung" von nicht wenigen Geistlichen als "böse" und damit als moralisch verwerflich gewertet.
Es ist offensichtlich, dass die Einforderung völliger sexueller Abstinenz nicht realistisch und damit nicht einhaltbar ist, dass die "abscheuliche Sünde" also zwangsläufig begangen wird. Jener "Seelsorger", der hieraus folgende Schuldgefühle ja gezielt provoziert hat, ist nun auch zuständig für die Vergebung der erzwungenen "Schuld".
Vermeintlich schuldig in der willkürlich intrumentalisierbaren moralischen Hinsicht ist somit der Onanist. Tatsächlich schuldig hinsichtlich der rational nachvollziehbaren Ethik macht sich der "Seelsorger": Er sorgt für sachlich unbegründete Schuldgefühle, deren Entsorgung er zynischerweise ebenfalls bietet. Unfairer geht es kaum - das perfide psychische Verbrechen um die "Erbsünde" vielleicht ausgenommen. Hier haben die "Sünder" noch weniger Chance, der ekelhaft-verlogenen Gnade der Kirche zu entgehen.
In Sachen Sexualität stehen rationale Ethik und christliche Moral häufig in diametralem Gegensatz.
Gehorsam ↔ Einsicht
Ethische Prinzipien folgen, wie oben ausgeführt, Abwägungen hinsichtlich der Fairness. Selbstverständlich kann nicht vorgeschrieben werden, was fair und was unfair ist. Es bedarf also, ich wiederhole mich, einer Abwägung, aus der dann die entsprechende Einsicht folgt.
Sehr wohl vorgeschrieben die Differenzierung hinsichtlich "gut" und "böse" in Form von Ge- und Verboten. Diese sind nicht weiter zu hinterfragen, sind unkritisch zu befolgen. – Es ist ihnen zu gehorchen.
Religion ↔ Aufklärung
Moral gehört eindeutig zur Domäne der Religion. Das wird schon im Begriff "Religion" = "rem ligere" = "eine Sache binden" deutlich. Religion bindet ihre Abhängigen durch Schuldgefühle an Moral und die Absolution von dieser "Schuld" bindet an die Religion. Dieser perfide Teufelskreis wird durch die Einsichten der Aufklärung durchbrochen – ein Prozess, der allerdings bei Weitem noch nicht beendet ist.
Strafe ↔ Konsequenz
Das Diktat der Moral wird durch absurde Strafandrohungen bekräftigt. In besonders widerwärtiger Weise hat sich hier der Juniorchef hervorgetan. Aber auch dem Senior beliebt es bisweilen, sich als kleinkarierter, nicht minder grausamer Erbsenzähler hervorzutun.
Diese Strafen wurden nicht nur in Form des Höllenfeuers für das Jenseits angedroht, sondern durchaus schon auf Erden vollstreckt. Die Scheiterhaufen haben zwar ausgedient. Die Implantation von Angst und Gewissensqualen wird aber noch immer "gewissenhaft" praktiziert.
Der Straf-Gedanke im Sinne der Vergeltung des Bösen ist noch immer präsent, auch in der sich weltlich wähnenden Justiz. Das allerdings wandelt sich in der moderneren Rechtsauffassung.
Die Problematik der Strafe ist umfassend und sprengt den Rahmen dieses Kommentars. Näheres findet sich im Buch von Schmidt-Salomon: Jenseits von gut und böse – Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind.
Ethik dagegen bedarf der Strafandrohung nicht. Wer sich unfair verhält, wird entsprechend behandelt werden, wird also die Konsequenzen zu tragen haben. Diese Konsequenzen können im Ausmaß durchaus den Strafen im herkömmlichen Sinne entsprechen. Die Durchsetzung von Fairness aber ist ein prinzipiell anderer Ansatz als der der Vergeltung oder gar der Rache.
"ewige" Gültigkeit ↔ angemessene Varianz
Vorgegebene moralische Gesetze gelten, da göttlichen Ursprungs, "ewig" und unbedingt – so die allgemeine Meinung. Das ist natürlich Unsinn. Als Beispiel sei das Tötungsverbot angeführt, wie im fünften Gebot "fest"gelegt. Für den Chef selbst gilt das freilich nicht. Das alte Testament ist voll von grauenhaften Völkermorden, die auf Befehl Gottes und mit dessen Hilfe verbrochen wurden. Ein hübsches Beispiel für die sich wandelnde Moral sind auch Waffensegnungen, die seit dem 10. Jahrhundert üblich waren und mit den Reformen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) in der katholischen Kirche abgeschafft wurden. Das ändert aber nichts an der imaginierten Aura der "Ewigkeit" moralischer Gesetze.
Ethik dagegen ist Sache der Einsicht – und Einsichten können sich unter Einfluss tatsächlicher Gegebenheiten ändern. Da entsprechen sie wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ja als Hypothesen auch immer vorläufig sind.
Willkür ↔ Nachvollziehbarkeit
Ein alter und weit verbreiteter Grundsatz der praktischen Ethik lautet:
Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Dieses Prinzip, die "goldene Regel", findet sich seit Urzeiten in vielen Kulturen, so China, Indien, Persien, Altägypten und Griechenland. Das Sich-Hineinversetzen in die Lage Betroffener bedingt direkt nachvollziehbare Einsichten, die zu ethischem Handeln führen – wenn sie denn befolgt werden.
Moral dagegen, obwohl als "ewig" fantasiert, folgen willkürlich wechselnden Interessen. Moral widersetzt sich nach Kräften einer sachlichen Überprüfung und ist somit eben nicht nachvollziehbar, was ihre vorgeblichen Prinzipien angeht. Die tatsächliche Intention allerdings offensichtlich: der Erhalt und die Mehrung kirchlicher Macht.
Macht ↔ Selbstbestimmung
Moral dient dem Machterhalt. Der Gläubige muss aufgrund uneinhaltbarer moralischer Vorgaben "schuldig" werden und ist damit auf die Absolution durch die Beschuldiger angewiesen. Eine wahrhaft perfide Praxis, die mit allem Nachdruck zu bekämpfen ist.
Ethik ist der Gegenpol zu Moral und gibt uns die Möglichkeit zu diesem Nachdruck. Das ist im Sinne der körperlichen und intellektuellen Selbstbestimmung unabdingbar.
Fazit
Um der Fairness, der Einsicht, der Aufklärung, der Konsequenz, der angemessenen Varianz, der Nachvollziehbarkeit, der Selbstbestimmung willen: Moral und Ethik sind streng auseinander zu halten. Wo Moral der Ethik widerspricht, gebietet es die Ethik, unmoralisch zu sein, ja: Moral offensiv zu bekämpfen. Ethik ist so viel mehr wert als Moral.
Genau genommen: Moral ist überhaupt nichts wert, sondern eine Perversion der Ethik. Darum:
Sei anti-moralisch!
Roland Weber am Permanenter Link
Ich würde es etwas einfacher ausdrücken wollen:
Ethik ist das, was der Betreffende als Werturteil aus seinem Weltbild ableitet und wie er der "Welt" gegenübertritt.
Das Strafrecht entspringt demnach der moralischen und kultivierten Bewertung. Recht ist die Umsetzung/Anforderung allgemeiner Norm-, d.h. Verhaltensvorstellungen. Auch ein Staatsanwalt kann einen Angeklagten durchaus fragen: "Fanden Sie das moralisch?" (Um einen Anhaltspunkt bei der Bewertung der Tat und des Strafmaßes zu erlangen). Er wird kaum fragen: "Fanden Sie das ethisch?"
Zum Überlegen: Wenn ich auf der Straße einen Geldschein finde, aber weit und breit niemanden sehe, handele ich dann unmoralisch oder unethisch, wenn ich ihn einstecke und behalte?
Dr. Andreas Gradert am Permanenter Link
Stephen Fry und Christopher Hitchens streiten sich in dieswer Debatte von 2009 mit Erzbischof John Onaiyekan und Ann Widdecombe über den Antrag „Die katholische Kirche ist eine Kraft des Guten in der Welt“.
https://www.youtube.com/watch?v=cRsaxXrjk3w
Martin Franck am Permanenter Link
Dazu passen: https://www.youtube.com/watch?v=NSTFYPmhGW0 Why We Are DOOMED
Thomas B. Reichert am Permanenter Link
Es ist immer wieder beeindruckend, wie man "Atheisten" framen kann. Ein "Atheist" verneint Götter, obwohl man Götter erklären kann.
In der christlichen Ideologie gibt es verschiedene Wissens- und Interessensstufen sowie Philosophien. Die abartige Naturrechtslehre körnt die christliche Ideologie: Eine Gesellschaft braucht nicht nur Intelligente, sie braucht auch Menschen die sich unterordnen - Menschen, welche man versklaven und nutzen kann - die Opferlämmer. Damit man Menschen geistig versklaven kann muss man diese desinformieren, desorientieren, manipulieren ... man muss Geschichte fälschen, Wissen zensieren .... und der ganze induzierte Wahn (Glauben) als etwas positives verkauft.
Dem "Atheisten" und den "Glaubenden" wird der induzierte kollektive Wahn als etwas positives verkauft. Schon ziemlich krass, in was für einen Lügenkonstrukt wir uns befinden und was uns als "moralisch" verkauft wird.
Christian Nentwig am Permanenter Link
Danke für diesen hochklassigen Artikel.
Ein extrem gläubige Katholik, der aber früh (mit 23 Jahren) den Absprung von dieser Ideologie geschafft hat.
Peter Friedrich am Permanenter Link
Die befreiende Botschaft von Humanismus und Aufklärung erlöst uns von der Angst vor irgendwelchen unsichtbaren Männekens im Weltall, vor Göttern, Geistern und Gespenstern.
Bei manchen jedoch scheint die früh eingeprägte und unterschwellig nachwirkende Angst davor, dass vielleicht doch jemand Unsichtbares von „oben“ zuschaut, den differenzierten Blick zu trüben. Angstvoll und anti-evolutionär darf man dann nur in der immer gleichen Perspektive erstarren. Um diese Erstarrung zu lösen, empfehle ich, sich doch nochmal in Ruhe darauf zu besinnen, was für einen Sinn es machen sollte, dass ein übermächtiges Wesen mich in die Welt setzt, mich von klein auf beobachtet und in äußerster Strafspannung hält, um mich nach den paar Jahrzehnten meines Daseins auf unbegrenzte Zeit zu quälen. Das ist so grotesk sinnlos. Ein solches Wesen hätte keinerlei Respekt verdient. Es gibt keinen Grund, sich an einem derartig dümmlichen Spiel zu beteiligen. Sich ein für alle mal verweigern, Schluss damit.
Peter Friedrich am Permanenter Link
Dazu auch eine sehr fein ausdifferenzierte Perspektive des Soziologieprofessors Hartmut Rosa:
https://www.deutschlandfunk.de/demokratie-braucht-religion-der-soziologe-hartmut-rosa-im-gespraech-dlf-bea5aa62-100.html
wolfgang am Permanenter Link
Welche Religion ich bekenne?
Keine von denen, die du mir nennst!
Und warum nicht?
Aus Religion.
Friedrich Schiller
Esiberto am Permanenter Link
Zwei Dinge die mir dazu einfallen.
1.
„Wenn Menschen aufhören, an Gott zu glauben,
glauben sie nicht an nichts
- sie glauben an irgendetwas.“
— Gilbert Keith Chesterton
Das wird deutlich sichtbar in all den Themen und Akteuren
die in unserer Gesellschaft von streng dogmatisch
bis spalterisch unterwegs sind.
Von den Festgeklebten über Gendersprachkünstler
bis zu den Kämpfern für ausnahmslos offene Grenzen.
Von den Nazis bis zu den Kommunisten,
alle verwenden genau die gleichen beschriebenen Mechanismen
und oft sogar das gleiche Vokabular.
2.
Der Kommentar von Paul S
30.10.2022
Gott hat mich zum Atheisten gemacht, wer bin ich, ihm zu widersprechen?
Auf diesen Artikel:
https://scilogs.spektrum.de/natur-des-glaubens/identitaetspolitik-als-freund-feind-dualismus-analysiert-mit-richard-schuberth/
zitierte Auszüge:
Alphatier ist immer:
Religion ist uns angeboren,
wer Gottes Job macht, ist Gott und wird dementsprechend angebetet.
Ob’s nun Papi ist,
eine Kirche
oder der Staat.
[…]
Ob da jetzt Jesus,
Atheismus
oder Super Mario durch die Landschaft Jump-and-runt,
es ist stets das gleiche Spiel mit unterschiedlicher Dekoration.
Und alle Religionen haben ihre Fanatiker und Missionare,
aber auch ihre Friedensstifter und Menschen,
die im Tausch für ihr Leben gern Andere leben lassen.
Menschliche Natur lässt sich nicht ändern,
Glauben bleibt Glauben,
ganz egal, wie wir uns drehen und wenden.
Menschliche Natur lässt sich nur austricksen,
natürliches Verhalten in gesellschaftliche Bahnen leiten,
bei denen was Neues herauskommt.
Wenn Krieg in der menschlichen Natur liegt,
mache ich Fußball draus und habe den Spaß ohne Leid und Tod.
Ähnlich würde ich’s mit Religionen machen:
Use it, don’t abuse it.
[…]
Sozialismus und Individualismus
ist wie Kapitalismus und Individualismus,
oder katholische Kirche und Demokratie:
Ich zerstreue den Feind,
nehme ihm die Fähigkeit, kollektiv zu handeln.
Ich befreie die Schäfchen aus dem Gehege des Gegners,
bevor ich sie in meines treibe,
ich verteufele deren Alphatier,
verführe sie mit der Möglichkeit, dass jeder sein eigener Gott wird,
der Herr seines eigenen Geheges.
Wenn sie dann frei sind und ziellos umherirren,
sind sie leichte Beute,
man kann sie ins eigene Gehege treiben.
Götter schaffen Gemeinschaften,
wie auch immer sie aussehen mögen.
[…]
Peter Friedrich am Permanenter Link
Klimaaktivivismus, Geschlechtergerechtigkeit, Nazis - alles genau gleich irgendwie. Es hackt ja wohl.
Esiberto am Permanenter Link
Vielleicht ein Missverständnis.
Da steht nichts von genau gleich,
da steht etwas von „ähnlichen Mechanismen“
(allgemein für jede Art von Ideologie),
und dass alle Ideologen „die Anderen“
mit ähnlichem Vokabular (wie die im Artikel aufgeführten)
diskreditieren.
Identitätspolitisch Ambitionierte sind da ganz vorne mit dabei.
Sie behaupten übrigens z.B. mit der Behauptung
Gendersprache wäre geschlechtergerecht,
dass allgemein übliche Sprache dies nicht ist.
Damit sind sie jedenfalls aus meiner Sicht
schon einer zeitgenössischen Ideologie aufgesessen.
Glauben sie tatsächlich,
dass die Mechanismen von Ideologien (auch Religionen)
unterschiedlich sind,
nur weil die Inhalte unterschiedlich sind?
Glauben sie die Inquisition, die Stasi, die Gestapo oder die Religionspolizei im Iran
unterscheiden sich grundlegend in ihrer Wirkung auf die Opfer,
oder in ihrer absoluten Sicherheit auf der richtigen Seite zu stehen
und das richtige zu tun?
Ich persönlich hege keinerlei Sympathien für Ideologien,
weder für Geschlechtergerechtigkeitskämpfer,
noch Vertreter sonstiger Besserwisser
die ständig mit dem Finger auf andere zeigen.
Wehret den Anfängen,
immer dann, wenn jemand behauptet
im Besitz einer absoluten Wahrheit zu sein,
nach der sich alle andere zu richten haben.
https://www.spektrum.de/kolumne/philosophie-warum-wir-alle-hin-und-wieder-ideologisch-denken/1881037
https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/neue-studie-gibt-es-einen-schaltkreis-fuer-religion-und-spiritualitaet-im-gehirn/
Peter Friedrich am Permanenter Link
„…genau die gleichen beschriebenen Mechanismen…“
Derselbe Schreiberling:
„… Da steht nichts von genau gleich,
da steht etwas von „ähnlichen Mechanismen“ …“
Und relativiert damit die nationalsozialistischen Verbrechen: „genau die gleichen“.
Esiberto am Permanenter Link
Ja Sie haben völlig Recht.
Es sind tatsächlich ganz genau die gleichen Mechanismen.
Ansonsten überlasse es Ihrer werten Spitzfindigkeit, was sie wohinein interpretieren möchten. So etwas passt hervorragend in den woken Zeitgeist.
Es mag einer gewissen Perspektivenarmut geschuldet sein, in alles und jeden eine Relativierung (vor allem in Bezug auf Nationalsozialismus) hineinzuinterpretieren. Die nächste Stufe wäre dann Verharmloser und dann kommt auch schon Leugner…aber das wissen sie ja sicher.
Vielleicht sollten Sie den geposteten Text ganz bis zu Ende lesen, oft hilft sowas. Dann würden auch Sie feststellen, dass es allgemein um bestimmte „psychologische Mechanismen“ geht, die gestern wie heute das Geschehen von Gesellschaft maßgeblich mit beeinflussen. Die genannten Systeme sind lediglich Beispiele in denen sich diese IDENTISCHEN genau GLEICHEN Mechanismen in der Geschichte bereits gezeigt haben und sich nicht aufhören zu Wiederholen.
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