Die „heilige" Wiedervereinigung?

Europa 2006/07: In Berlin ist Angela Merkel mit ihrer Absicht – zumindest vorläufig –

gescheitert, den Gottesbezug in eine zukünftige europäische Verfassung aufzunehmen. In Bayern sprach Edmund Stoiber während des dortigen Papstbesuchs voller Stolz vom Verhältnis zwischen Staat und Kirche, „das hier traditionell enger ist als in anderen Bundesländern, und das hat sich bewährt". In Rom wird Romano Prodi bei einem Gesetzesvorhaben, das den katholischen Dogmen widerspricht, vom Vatikan und dessen italienischen Amtsbrüdern massiv bedrängt. Und in Warschau gefällt sich Lech Kaczynski darin, regelmäßig die einheimische katholische Kirche zu glorifizieren sowie deren radikal-klerikalen Sender „Radio Maryja" zu unterstützen.

Geht also wieder mal ein Gespenst um in Europa - das Gespenst der Wiedervereinigung von Staat und Kirche, zumindest ihrer Annäherung?

Nicht nur hierzulande und in anderen Staaten der EU gibt es Bestrebungen, die historische Errungenschaft der Trennung von Staat und Kirche aufzuweichen - mal von klerikaler Seite, mal aus den Ecken der weltlichen Macht. Die Ursachen hierfür sind vielgestaltig: fehlende Visionen der Politik, Sehnsucht nach alten, vermeintlich religiösen Werten in einer unübersichtlichen Zeit, Morgenluft witternde Klerikale, die die ideologischen und machtpolitischen Löcher der untergegangenen „Ismen" ausfüllen wollen ...

In Russland hat dieser Spuk des 21. Jahrhunderts schon kräftig Fuß gefasst. Über das massive Vordringen der orthodoxen Kirche in die weltlichen Bereiche der russischen Gesellschaft haben wir an dieser Stelle bereits wiederholt und konkret berichtet. Eine generelle Einschätzung der Wiedervereinigungstendenzen von Staat und Kirche gibt der Menschenrechtsexperte und Jurist Felix Rudinski in einem Interview mit dem religiösen und gleichzeitig kirchenkritischen Informationsportal „Credo.ru". Interessanterweise verdeutlichen die Fragestellungen indirekt, wie inkonsequent die Trennlinien zwischen Kirche und Staat auch in Deutschland verlaufen:

Portal „Credo.ru": Die Einführung des Unterrichtsfaches „Grundlagen der orthodoxen Kultur", das Herbeiführen absurder Gerichtsprozesse gegen die Evolutionstheorie, die Verleihung eines „wissenschaftlichen" Status für religiöse Ansichten, die Verwendung weltlicher akademischer Grade und Titel durch Geistliche u. v. m. ist auf die Verdrängung der weltlich organisierten Gesellschaft durch einen klerikalen Ersatz ausgerichtet. Was denken Sie über diesen paradoxen Prozess unter den Bedingungen des demokratischen Staates?

Felix Rudinski: Solche Tendenzen, von denen Sie sprechen, gibt es tatsächlich. Sie sind eine große Gefahr für das Schicksal der Menschenrechte in Russland, für den demokratischen Staat und für die Formierung einer Zivilgesellschaft in unserem Land. Russland ist laut Verfassung ein demokratischer Rechtsstaat mit einer republikanischen Regierungsform. Laut Artikel 13 der Verfassung gibt es in Russland keine Staatsideologie, es herrscht politischer Pluralismus und ein Mehrparteiensystem. Russland ist ein weltlicher Staat, von dem die religiösen Vereinigungen nach Artikel 14 der Verfassung getrennt sind. Es darf keinerlei Staatsideologie aufgedrängt werden. In einem solchen Staat muss die Gleichheit der Menschen unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit laut Artikel 19 der Verfassung gewährleistet sein. Schließlich sind wir ein Land, in dem die Freiheit des Gewissens und der Konfession als Rechte zugesichert werden. Somit handelt es sich bei der Offensive des Klerikalismus in Russland um eine äußerst reaktionäre Tendenz.

Aus juristischer Sicht stellt der Klerikalismus eine Erscheinung dar, die nicht verfassungskonform, also unverhohlen ungesetzlich ist. Ihn als zivilisatorische Eigenheit Russlands anzusehen, halte ich jedoch für falsch. Denn Russland ist äußerst facettenreich und hat der Welt eine bedeutsame und in ihrer Vielfalt unnachahmliche Kultur geschenkt, die nicht allein auf religiösen Postulaten beruht. Würde man schließlich der konservativen Sichtweise der Klerikalen folgen, so müsste man Belinski, Tolstoi, Gorki, Tschaadajew und viele andere von der russischen Kultur ausschließen. Aber keineswegs! Russland ist ein vielgestaltiges und kontrastreiches Land. Und wenn sich die Klerikalen den Anschein einer „[staatlichen] Bürgerlichkeit" verleihen, von der Sie sprechen, so ist dies nicht nur dem Wesen nach undemokratisch, sondern auch falsch bezüglich der geltenden Bestimmungen.

Die faktisch vorherrschende [russisch-orthodoxe, d. Übers.] Kirche und die anderen religiösen Vereinigungen in Russland haben alle Möglichkeiten, frei zu existieren und ihre Werte zu bewahren. Für die erfolgreiche Existenz religiöser Vereinigungen werden auch alle materielle Voraussetzungen bereitgestellt: Sie sind als juristische Personen anerkannt, es wird ihnen das Recht auf Eigentum garantiert sowie eine Verlagstätigkeit und die freie Ausübung von Gottesdiensten ermöglicht. Die religiösen Organisationen - vor allem die russisch-orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats - verfügen über eine Unmenge von Gotteshäusern und Klöstern. Diese Kirche hat alle Möglichkeiten für eine freie Entfaltung als religiöse Institution. Doch dies darf nicht dazu führen, dass die Existenz des weltlichen Staates behindert wird. Das widerspricht sowohl dem Recht als auch der christlichen Moral.

Portal „Credo.ru": Warum beansprucht dann - bei all diesen optimalen Bedingungen, die nicht besser sein könnten - die russisch-orthodoxe Kirche das Recht, auch ein nichtreligiöses Diktat auszuüben? Handelt es sich hier um das Syndrom aus Puschkins „Märchen vom Fischer und Fischlein"?

Felix Rudinski: Nein, solche Ansprüche hängen mit ganz bestimmten historischen und politischen Grundlagen zusammen, die es in unserem Land gibt. Die staatliche Macht braucht immer eine bestimmte weltanschauliche Basis - etwas, worauf sie sich stützen kann. Es leuchtet ein, dass den Bürgern weltanschaulicher Pluralismus zugestanden werden muss; doch auch die Staatsmacht benötigt ihrerseits einen weltanschaulichen Halt! Die Verfassung stellt ihr diese Basis zur Verfügung, wenn es in Artikel 2 heißt, dass der Mensch und seine Rechte den höchsten Wert darstellen. Genau genommen, ist diese Aussage eine Weltanschauung und das Allerwichtigste in der Verfassung. Ergänzend hierzu findet sich die Kernaussage von Artikel 28, wonach die Rechte der Gläubigen und Nichtgläubigen garantiert werden. Denn, wenn wir uns daran erinnern, wie es zur Sowjetzeit aussah, so verletzte damals der staatliche Atheismus die Rechte der Gläubigen. Und heute haben wir es mit einem umgekehrten „Extrem" zu tun: Einige besonders Gläubige verletzen sowohl Andersgläubige in deren Glaube als auch das Recht auf Unglaube.

Übrigens, wenn immer die Rede von der Suche nach einer nationalen Idee ist, so haben wir sie hier bereits - die Befolgung der genannten Verfassungsartikel: Achtet den Menschen, denkt an ihn! Wenn sich die Bevölkerungszahl der Russen Jahr für Jahr um eine Million verringert, wenn wir eine Unmenge von Bettlern haben, wenn die kostenlose Bildung abgeschafft wird, wenn unser Gesundheitswesen zerstört wird usw. Hier gäbe es genug zu tun! Die Schaffung eines würdigen Lebens - das wäre doch unser Ziel.

Doch die Staatsmacht, die sich früher auf die marxistisch-leninistische Ideologie gründete, versucht nun, nachdem diese Ideologie gestürzt wurde, eine neue ideologische Nische zu finden. Und da es nichts anderes Analoges zu ihrem früheren Zustand gibt, fühlt sie sich zu etwas Gewohntem hingezogen, zu einer bestimmten Kirche.

Portal „Credo.ru": ... und zu etwas, das auf Traditionen beruht?

Felix Rudinski: Wissen Sie, das Wesen unserer Macht hatte immer etwas Charismatisches. Diese Macht beruhte und beruht auf der übermäßigen Verehrung des Herrschers oder auf der Entfachung eines Personenkultes, wie man zur Sowjetzeit sagte, also der fast schon religiösen Verehrung des Staatsoberhauptes. Historisch gesehen sind wir kein Land wie etwa die Vereinigten Staaten von Amerika, in dem sich der Staat von Anfang auf der Basis des Rechts begründete, also einer Verfassung, auf die sich wiederum die Macht stützen konnte. In Russland stellt sich die charismatische Macht - sei es die eines Zaren, eines Generalsekretärs oder die des unablösbaren Boris Jelzin oder Wladimir Putin - immer als physische Persönlichkeit eines Staatsoberhauptes selbstgenügsam hin und ist, wie zu archaischen Zeiten, für sich selbst die Grundlage der politischen Macht.

Natürlich sollte man das Oberhaupt eines Staates achten, eine nicht geachtete Person an der Spitze des Staates wäre absurd. Doch die tiefe Wertschätzung eines Führers darf nicht zum heiligen Kult ausarten, wenn die Menschen alle möglichen Worte und Taten des Staatsoberhauptes fast schon als heilig erachten und dadurch die Rechten und Freiheiten des Menschen unterdrückt werden. Bei den Versuchen, die charismatische Macht wiederzubeleben und zu festigen, ist somit die offizielle Kirche ein natürlicher Verbündeter des Staates, der seinerseits wiederum bestrebt ist, den eigenen institutionellen Einfluss zu stärken.

Portal „Credo.ru": Der Staat beschreitet damit den Weg des geringsten Widerstandes?

Felix Rudinski: Ganz genau. Die Macht sieht historisch die Kirche als natürlichen Verbündeten an. Bereits Radischtschew hat über die Verbindung von Staat und Kirche gesagt: „Die Zaren-Macht schützt den Glauben, der Glaube bestätigt die Zaren-Macht; vereint quälen sie die Gesellschaft", was in vielerlei Hinsicht auch heute wieder aktuell ist. In diesem Sinne ist der Versuch zu sehen, ein Tandem aus Staat und Kirche wiederherzustellen - sei es in Form eines theokratischen Staates wie der des Papstes oder als klerikaler Staat wie im Iran oder durch eine Wiederbelebung des byzantinischen Modells. Das würde bedeuten, dass Russland in den Zustand von vor anderthalb Jahrhunderten zurückversetzt würde, als die Kirche in ein Ministerium der Staatsmacht umgewandelt worden war. Genau darum geht es letztlich, wenn die Staatsmacht den Weg des geringsten Widerstands beschreitet. Es versteht sich von selbst, dass all dies den modernen Ideen der Menschenrechte, heutigen historischen Realien und Bedingungen prinzipiell widerspricht.

Portal „Credo.ru": Hatte man denn, was den Inhalt einer nationalen Idee in Artikel 2 der russischen Verfassung angeht, nicht genügend Verstand, diese zu erkennen? Oder ist diese Ideologie denen, die heute an der Macht sind, prinzipiell fremd?

Felix Rudinski: Eine ausgesprochen direkte Frage. Ja, ich denke, dass sie ihnen fremd ist. Der sozialökonomische Kurs der Regierung, der darauf ausgelegt ist, aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise ungeheure Einnahmen aus dem Verkauf von Erdöl zu erzielen, ist die Grundlage für die Stabilität unserer Staatsmacht. Darauf ist alles begründet. Und es stellt sich die Frage: Wenn ihr solche Einnahmen habt, warum nutzt ihr sie dann nicht für die Anhebung des gegenwärtigen Lebensniveaus der Menschen? Warum gründet ihr einen Stabilisierungsfond, der in ausländischen Banken lagert, während gleichzeitig Millionen von Menschen arm sind? Denn selbst die Staatsmacht gibt zu, dass 25 % der Bevölkerung Russlands unter dem Niveau der Armutsgrenze leben. Und wie viele leben „auf dem Niveau" der Armutsgrenze?

Leider hat die Macht kein Verständnis dafür, wie gut es dem Staat zweifellos bekommt, wenn der Mensch sich als Herr über sein eigenes Schicksal begreift und sich als Subjekt der Menschenrechte fühlt. Und um noch einmal auf die prinzipielle Frage, von der wir sprachen, zurückzukommen: Weder das Eindringen der Kirche in die weltliche Schule noch ihre Offensive gegen die Wissenschaft und andere Sphären des weltlichen Lebens sind zufällig. Es handelt sich hierbei um den zielgerichteten Versuch, die charismatische Natur eben dieser, bei uns existierenden Macht zu stärken.

 

Prof. Dr. jur. Felix Rudinski ist Bereichskoordinator zur Vermittlung der Menschenrechte und Co-Vorsitzender des Expertenrates beim Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation. Er lehrt an der Pädagogischen Universität Moskau und ist Mitglied des Rates des Instituts für Gewissensfreiheit.

Quelle des Originalinterviews. 

Einleitung und Übersetzung: Tibor Vogelsang