Naturgeschichte der Religiosität

GIESSEN. Das Institut für Evangelische Theologie der Gießener Universität veranstaltet eine Ringvorlesung „Was ist Religion?".

Gemäß dieses Rahmens wird die Strategie praktiziert, Religion auf naturwissenschaftliche Diskursebene zu tragen, um sie hier vermeintlich auf gleicher Ebene zu verteidigen.

Unter diesem Aspekt werden gelegentlich sogar dezidierte Naturwissenschaftler eingeladen, ihre Weltsicht unter jener Fragestellung einzubringen.

 

 

 

Gott hat Geschichte, hat er auch Naturgeschichte?

Der Biophilosoph Eckart Voland hat die Frage leitmotivisch vertiefend modifiziert: „Gott hat Geschichte, hat er auch Naturgeschichte?" In dem für etwa 100 Zuhörer eingerichteten Vortragsraum sind kaum Plätze frei geblieben.

In Verbindung mit der Begrüßung seitens des veranstaltenden Institutes wird in vermeintlich einführender Vorwegnahme auf die in der Antike diskutierte Frage nach der Geschichtlichkeit Gottes hingewiesen und mit der Behauptung verbunden, die Bibel selbst sei Geschichtsbuch. Es folgen diverse Belegversuche vermittels Bibelzitaten. Deren bemerkenswerteste Auswahl betrifft eine Landzuweisung seitens des geglaubten Gottes an die Gläubigengemeinschaft.

Diese Quasipredigt mit Reklamation der Naturgeschichte Gottes seitens der Theologie als Vorprogramm zum eigentlichen Vortrag beantwortet Eckart Voland gelassen sinngemäß mit der Feststellung, es seien durchaus „Wissenslücken der Theologie" offen.

Seine eigene naturgeschichtlich grundierte Betrachtung gilt der Religiosität als „Conditio humana" im Sinne der Annahme, Gott habe Geschichte als „transkulturelle Universalie". Diese Annahme findet sich vermittels erster archäologischer Nachweise für die so genannte „Symbolische Revolution" vor etwa 60.000 Jahren bestätigt. Die verschiedenen Religionen seien als spezifische Manifestationen „ausdifferenzierte Kulturgeschichte".

Kontinuierliche Adaptationsleistung des Gehirns

Die Naturgeschichte der Religiosität könne auch unter dem Aspekt ihrer Abhängigkeit vom hirnphysiologischen Natursubstrat betrachtet werden. Eckart Voland selbst stellt im Sinne evolutionsbiologischer Heuristik das biologische Anpassungsgeschehen als kontinuierliche Adaptationsleistung des Gehirns vor. Diese sei in den vier Religionsdomänen, Mystik, Ethik, Rituale und Mythen, welche er jeweils als „Bündel aus bereichsspezifischen evolutionären Algorithmen" begriffen wissen will, erbringbar.

Mystik stelle vermittels des Zentralnervensystems Verbildlichungsvermögen, etwa bezüglich des Glaubens an ein Jenseits bereit. Dieses trage irdische Züge und sei über mentale Zustände besonderer Art wahrzunehmen. Kulturspezifische Glaubenseinübung profitiere davon, dass Kinder unter etwa 5 Jahren allen Handelnden unterstellen, alles zu wissen. Kinder dieser Altersgruppe denken konsequent teleologisch und trauen auch toten Individuen mentale Zustände zu. Demgemäß bietet sich an, Glaubensabfall als starke kognitive Leistung zu würdigen. Der Mensch lebe unter dem kognitiven Imperativ, das Leben umherum beherrschen zu wollen. Unter diesem Imperativ mystisch konstituierte intuitive Ontologien gehen ihrer erfahrungsbedingten Störanfälligkeit wegen mit Übernatürlichkeitsvorstellungen, wie etwa Animismus und Anthropomorphismen, einher. Letztere halten Götter als Projektionsflächen der eigenen intuitiven Psychologie bereit. Religiosität diene so der Kontingenzbewältigung, welche als „Gottes Nutzenfunktion I – Selbsterhalt durch Kontingenzbewältigung" erbringe. „Es gibt nachgewiesenermaßen eine Kopplung zwischen positivem Denken und physischer Gesundheit, sozialer Attraktivität und Langlebigkeit."

Ethik als Religionsdomäne erkennt Eckart Voland unter spezifischem Reziprozitätsaspekt entsprechende Evolutionsvorteile zu. Indem nämlich der „wahre Egoist kooperiert", haben religiöse Gemeinschaften eine starke Binnenmoral. „Gottes Nutzenfunktion II" ergibt sich als „Kooperationsgewinne innerhalb der moralischen Gemeinschaft". Mit vermittels Fusionen wachsender Gruppengröße komme der Sprache als Ressource sozialer Bindung zunehmend konfliktentschärfende Bedeutung zu.

Rituale gewähren als „Gottes Nutzenfunktion III – Vorteile im Wettstreit konkurrierender Gruppen" und dienen kraft ihrer Performanz der emotionalen Gleichschaltung zur überfamiliären Gruppenbindung. Sie sind für Gläubige unverzichtbar und dienen der Kommunikationspflege einschließlich der Gemeinschaftsleistungsbereitschaft. Hohe Ritualforderungen korrelieren mit Gruppenmacht nach außen. Religionen vermitteln weltliche Nützlichkeit. Ihr Überleben dürfte reproduktiv gesichert sein. Hierzu lassen sich statistische Erhebungen heranziehen, wonach Geburtenraten in gewisser Relation zur Gebetspraxis diverser Religionsgruppen ermittelbar seien. Religiöse Kommunikationspflege impliziert spezifische Sprachkompetenz. Eckart Voland stellt Sprache und Sprachfähigkeit einerseits sowie Religion und Religiosität andererseits als Analogon vor.

Mythenbildung setzt in gewisser Weise beide Komponenten dieses Analogons voraus. Es dürfte darüber hinaus anzunehmen sein, dass Kriege, im Sinne von Konkurrenzaustragungen zwischen Gruppen, älter seien als die Religionen. Diese könnten sich als „Schwerter der Sieger" und „Schilde der Verlierer" machtverteilungsrelevant erwiesen haben.

Religiosität als Ressource

Eckart Voland definiert Religiosität sinngemäß als Ressource von „Antwortkonzepte(n) auf Kontingenzfragen. Sie manifestiert sich vor allem, wenn es zu einem Dialog zwischen vorgegebenen Sinnentwürfen und den individuellen Bedürfnissen der Menschen kommt." Religiosität lasse sich aufteilen in die durch Kontingenzerfahrungen aufgeworfenen Fragen und in die Beantwortung derselben durch eine Transzendenzvorstellung.

Unter naturwissenschaftlichem Aspekt lässt sich Religion in biologischer Adaptationsfunktion als Naturgeschichte erkennen. Also hat Gott vermittels Naturgeschichte auch Geschichte.

 

In der anschließenden Diskussion hat Eckart Voland die teils theologielastigen Einwendungen aus dem Auditorium dann ebenso höflich gewürdigt wie bestimmt und eindeutig widerlegt.

 

Eva-Maria Hesse-Jesch