BREMEN. Die Lebenswelt muslimischer Migranten stellt für viele Bürger nach wie vor eine weitgehend
unbekanntes Umfeld dar. Die in Istanbul geborene, aber bereits seit ihrer Kindheit in Deutschland lebende Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek sorgte 2005 mit ihrem Buch „Die fremde Braut“ dafür, dass das auch heute noch bestehende Phänomen der Zwangsverheiratungen breite Aufmerksamkeit erfuhr. Keleks kritische Sichtweise auf die muslimische Kultur sorgte für kontroverse öffentliche Debatten.
Am Abend des 6. Oktobers 2006 waren knapp hundert Besucher in die Alte Stauerei in der Bremer Überseestadt gekommen, wo Kelek ihr im März 2006 bei Kiepenheuer & Witsch erschienenes Werk „Die verlorenen Söhne“ präsentierte. Die Autorin trug zwei Abschnitte aus ihrem Buch vor, das anhand einzelner Biographien muslimischer Männer die Problematik starrer Familienstrukturen, traditionellem Rollenverhalten und teils vormoderner Wertvorstellungen aufzeigt.
Diese Faktoren, so Kelek, sorgten dafür, dass letztlich die individuelle Entwicklung aller Familienmitglieder behindert würde. Stattdessen seien die muslimischen Männer und ihre Angehörigen oft der starken gegenseitigen sozialen Kontrolle ausgesetzt, die für die Aufrechterhaltung traditioneller Lebensformen sorge und somit auch die Integration von Muslimen in Deutschland erschwere.
Ganz besonders hob Kelek dabei den starken Einfluss der Religion hervor. Der Islam habe keine Aufklärung durchlaufen und biete daher den passenden Rahmen für die von ihr kritisierten Entwicklungen. Bis heute weigere man sich, die islamischen Schriftquellen mit den Mitteln der Vernunft offen zu durchleuchten. Der Möglichkeit einer zukünftigen Modernisierung des Islam stand Kelek skeptisch gegenüber.
Die Brisanz dieser Thesen zeigte sich bereits daran, dass sie umgehend nach der Lesung eine äußerst engagierte und mitunter emotionale Diskussion auslösten. Ein kleiner Teil des Publikums warf Kelek lautstark vor, Dorftraditionen mit Religion zu verwechseln, sich in ihrer Darstellung auf negative Fälle zu beschränken und damit unzulässige Verallgemeinerungen vorzunehmen. Dem entgegnete Kelek, dass es im Islam auch allgemein bedenkliche Inhalte gebe, die man nicht als regionale Dorftradition abtun könne, und verwies dabei auf die untergeordnete Stellung der Frauen und das insgesamt auffällig geringe Maß an Freiheit in islamisch geprägten Staaten.
Doch die Autorin erntete vom Publikum nicht nur Ablehnung, sondern auch viel Zustimmung. Eine Besucherin bescheinigte ihr, dass sie durch ihre Arbeit Einblicke in wenig bekannte Lebensbereiche ermögliche. Die kritische Haltung Keleks sei nicht destruktiv zu verstehen, sondern könne alle Beteiligten nur weiterbringen. Ein Urteil, das die streitbare Sozialwissenschaftlerin darin bestärkt haben dürfte, sich weiterhin in gesellschaftliche Fragen einzumischen. Denn das Einmischen, so Kelek frei nach Max Frisch, sei schließlich die Voraussetzung der Demokratie.
Klaas Schüller