Warum wir den Multikulturalismus aufgeben müssen

Der Erzbischof hat uns versehentlich auf eine Vision eines besseren Englands gestoßen

Seit fünf Tagen singt der Erzbischof von Canterbury im Chor: Wie löst man ein Problem wie die Scharia? Seit er es für „unvermeidbar“ - und wünschenswert – erklärt hatte, dass England islamische Gerichte einrichten soll, die über muslimische Familienangelegenheiten bestimmen, ist aus verbalem Bischofsprügeln ein Nationalsport geworden. Bei diesem Aufstand sollte es aber nicht nur um die bemitleidenswerten Verdrehungen gehen, die sich der Kopf einer sterbenden Kirche ausdachte. Rowan Williams hat uns gezeigt, warum wir die Doktrin des Multikulturalismus aufgeben müssen.

Falls Sie wirklich glauben, dass England aus einem Sammelsurium von „Kulturen“ besteht, die nur zum Selbstzweck erhalten, gefördert und respektiert werden müssen, dann ist dieses Vorhaben absolut logisch. Verschiedene Kulturen sollten verschiedene Gerichte, Regeln und Schulen haben.

Wir müssen nicht darüber spekulieren, wie diese britischen Scharia-Gerichte aussehen würden. Sie existieren bereits in einigen Moscheen überall in England, als freiwillige Unternehmungen. Letzten Monat berichtete ein klarer, nüchterner Dokumentarfilm mit dem Titel Divorce: Sharia Style über die Urteile, die sie aussprechen.

Wenn ein Mann geschieden werden möchte, so muss er nur innerhalb von drei Monaten drei Mal „Ich lasse mich von dir scheiden“ zu seiner Frau sagen. Die Frau hat kein Mitspracherecht und kein Recht, nach einem Grund zu fragen. Falls sich dagegen eine Frau scheiden lassen möchte, so muss sie dagegen in aller Demut ihren Mann fragen. Falls er ablehnt, muss sie sich an ein Scharia-Gericht wenden und drei Mullahs davon überzeugen, dass sich ihr Mann „unvernünftig“ verhalten hat – laut den Regeln eines vormordernen Textes, der häusliche Gewalt stets empfiehlt, wenn Ihre Frau dreist wird.

Irum Shazad, eine 26-jährige Engländerin, reist von ihrem ramponierten Frauenhaus zu einem Scharia-Gericht nach Ostlondon. Sie erklärt, dass sie ihr Mann so sehr misshandelt hatte, dass sie ihre Handgelenke mit einem Tranchiermesser aufschlitzte. Das Gericht teilt ihr mit, dies sei eine Sünde und stellt sie somit auf eine Stufe mit ihrem Mann. Sie sagen ihr, dass sie zu ihrem Mann zurückkehren soll. (Sie gewähren ihr ein halbes Jahr später eine Scheidung, aber erst nach einem Dutzend weiterer „letzter Chancen“ für ihn, sie zu missbrauchen.)

Dann treffen wir Nasirin Iqbal, eine 27-jährige Pakistanerin, die vor fünf Jahren nach England verschifft wurde, um dort zu heiraten. Ihr Ehemann Imran hielt sie isoliert und sie spricht nicht ein Wort Englisch. „Ich kam hierher und dachte, er würde mich gut behandeln“, sagt sie. „Er hört jedoch nicht auf, mir wehzutun. Er brachte mich hierher, um mich zu benutzen. Ich bin kein Objekt... Habe ich etwa kein Herz?... Er sagt mir, dass ich ihm nicht enkomme und dass er mich dem Islam zufolge behandeln kann wie er will. 'Ich bin ein Mann, ich tue mit dir, was immer ich will'.“

Wir sehen, wie Imran sie quält und dabei klarstellt: „Du bist eine Ausgestoßene. Ich wollte dich nicht heiraten.“ Er nimmt sich in Pakistan eine zweite Frau und beichtet ihr vor Nasirins Augen den ganzen Tag die Liebe. Das Scharia-Gericht beschließt eine Fatwa laut der die Heirat bestehen bleibt. Sie scheint nicht zu wissen, dass es sich dabei nicht um ein ordentliches Gericht handelt. „Ich kann nicht ignorieren, was sie sagen“, weint sie. „Man muss sich daran halten, was sie sagen.“

Das sind die Gerichte, die Rowan Williams gerne mit dem Gütesiegel des englischen Gesetzes auszeichnen möchte. In seiner Vorlesung macht er sich darüber Sorgen, dass diese Praxis Frauen schaden könnte – bevor er eine theologische Pampe serviert, derzufolge man die Scharia auf eine Weise uminterpretieren könnte, dass sie mit den Frauenrechten kompatibel ist. Falls dies jedoch geschehen sollte, wozu bräuchte man dann noch andere Gerichte? Was wäre der Sinn davon?

Das Argument, dass Frauen diese Gerichte nur betreten müssten, wenn sie sich frei dazu entscheiden, zeigt eine beinahe völlige Loslösung von der Realität des Lebens muslimischer Frauen. Die meisten Frauen, die zum „Konsens“ gezwungen werden sind, wie Nasirin, frische Immigranten mit wenig Ahnung von ihren rechtlichen Optionen. Dann gibt es noch bei einigen Familien die Androhung von Exkommunikation – oder Gewalt. Wie es die muslimische Feministin Irshad Manji ausdrückt: „Was die moderne Scharia betrifft ist Wahl die Theorie und Einschüchterung ist die Realität.“

In ihrer Reinform zeigen diese Gerichte das Problem mit dem Multikulturalismus auf. Er hat sich zu einer Wohlfühldoktrin entwickelt, der geistlos den „Unterschied“1 feiert, ohne darauf zu achten, worin dieser Unterschied eigentlich besteht.

Und doch fühlen sich die Menschen instinktiv unwohl, wenn wir von der Notwasserung des Multikulturalismus sprechen – aus gutem Grund. Die einzige Alternative, die sie kennen, ist der alte weißer-als-weiß Monokulturalismus. Diese Sichtweise, am deutlichsten vorgetragen von Enoch Powell und Norman Tebbit, besagt, dass Menschen gleich aussehen und sich gleich fühlen müssen, wenn sie zusammenleben wollen, außerdem brauchen sie eine exakt bestimmte gemeinsame Identität. Sie argumentieren, dass die Anzahl von Neuankömmlingen klein sein sollte und dazu gedrängt werden muss, sich schnell in die 1950er Norm einer weißen Vorstadtfamilie einzufügen.

Der Multikulturalismus wurde guten Willens als Gegenreaktion erschaffen. Er hat sich jedoch zu einem Spiegelbild dieses alten Rassismus entwickelt, das muslimische Frauen – und andere – so verschieden behandelt, dass sie nicht mehr die selben Rechte verdienen wie der Rest von uns. Wie es die europäisch-iranische Feministin Azar Majedi ausdrückt: „Wir bekämpfen den Rassismus nicht, indem wir verschiedene Gesetze und Gerichtssysteme für jede ethnische Gruppe erschaffen. In Wahrheit institutionalisieren wir ihn dadurch.“

Wenn Leute davon reden, die muslimische Kultur zu verteidigen, fragen sie dann auch – welche Kultur? Die Kultur von Irum und Nasireen, oder die Kultur ihrer missbrauchenden Ehemänner? Der Multikulturalismus behandelt Einwanderer bevormundend wie homogene Blöcke – wenn sie tatsächlich so unterschiedlich sind und denken wie der Rest von uns. Würde mich jemand zusammen mit Richard Littlejohn und Nick Griffin als Teil einer „weißen Community“ in einen Topf werfen?

Der Staat kennt eine bessere Alternative, menschliche Unterschiede zu verstehen und zu regulieren, die jenseits der beiden Pole von Tebbittry und dem Multikulturalismus liegen. Sie nennt sich Liberalismus. Eine liberale Gesellschaft erlaubt einem Individuum, das zu tun, was auch immer er oder sie möchte, so lange es anderen Menschen nicht schadet. Sie können sich aussuchen, ob Sie PVC Hotpants oder einen Schleier tragen möchten. Sie können sich aussuchen, ob Sie den ganzen Tag beten oder sich den ganzen Tag über Leute lustig machen wollen, die beten.

Wo ein Multikulturalist die Rechte von religiösen Gruppen preist, da zieht ein Liberaler die Rechte des Individuums vor. Wenn Sie also predigen möchten, dass der Erzengel Gabriel einem analphabetischen Nomaden vor zwei Jahrtausenden das Wort Gottes offenbarte, dann können Sie das so oft tun, wie Sie wollen. Sie können Bücher schreiben, Versammlungen abhalten und für Ihre Sache werben. Sie können jedoch nicht die Regeln des Liberalismus untergraben, indem sie argumentieren, dass dieser Engel angeblich sagte, dass Frauen halb so viel wert sind wie Männer, wenn es um das Erbe geht, und dass Homosexuelle getötet werden sollten, insofern Sie auch dementsprechend handeln.

Der Job eines liberalen Staates besteht nicht darin, seinen Bürgern Das Wahre Nationalwesen aufzudrücken, oder den „Unterschied“ zum Selbstzweck zu bewerben. Er muss die gleichen Rechte jedes Individuums aufrecht erhalten – ob sie nun weiße Männer sind oder muslimische Frauen. Er hat eine liberale Kultur, in der Freiheiten von verschiedenen Menschen verschieden genutzt werden.

Wir sollten also genauso wütend auf den Erzbischof sein, wie wir ihm danken sollten. Er hat dabei geholfen, die Begräbnisriten für den Multikulturalismus einzuleiten. Mit seinem verfilzten Bart und seinem gezwungenen Händeringen in Richtung eines Wüstengottes hat uns der Erzbischof unwissentlich eine Vision eines besseren Englands aufgezeigt – eine, die sich stolz dazu bekennt, liberal zu sein.

 

Übersetzung: Andreas Müller
Quelle: Hari, Johann: Why multiculturalism must be abandoned. Independend.co.uk. 11. Februar 2008

Empfohlen sei auch der (engl.) Kommentar von Christopher Hitchens zum Thema:
Zur Hölle mit dem Erzbischof von Canterbury

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1„Difference“ ist eine Art „Fach“-Begriff aus den British Cultural Studies, eine akademische Disziplin irgendwo zwischen Literaturwissenschaft und Soziologie. Kulturelle Vielfalt wird beschworen, obwohl es kein Entkommen aus dem „System“ gibt und wir alle nur Mittler von Kulturflüssen, von „streams of flows“ sind und somit gar keine eigenständigen Kulturen existieren. Obwohl die Wissenschaft als bloßer Diskurs unter vielen abgelehnt wird, betont man zur gleichen Zeit die Wissenschaftlichkeit der Disziplin. Zudem ist der weiße, männliche Europäer an allem schuld. (Anm. des Übers.)