Aufruf gegen Religionsunterricht

PARIS, 5. Mai (hpd). Ähnlich wie hier – und insbesondere im Kontext der aktuell in Berlin laufenden „Pro Reli“-Initiative – werden auch in Frankreich

die Anhänger der Glaubensfreiheit (Laizisten) zunehmend mit militanten Angriffen der Kirchen auf die Neutralität des staatlichen Bildungswesen konfrontiert. Als wichtigste freigeistige Organisation des Landes veröffentlichte der Freidenkerverband Frankreichs (La Libre Pensée) am 5. Mai ein Dokument, in dem er zum vereinten Kampf aller französischen Laizisten gegen diese Angriffe aufruft. Der Humanistische Pressedienst veröffentlicht Auszüge dieses Appells:

Religionsunterricht in der Schule

Trotz seiner inzwischen geringeren Medienpräsenz als noch vor vier-fünf Jahren bleibt das Thema „Religionsunterricht in der Schule“ auch weiterhin brisant. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen hatten die Kandidaten der großen politischen Blöcke das Thema mit großer Diskretion behandelt. Allein Nicolas Sarkozy stand dem Religionsunterricht in seinem Buch vom November 2004 eindeutig positiv gegenüber. Versuchen wir nun, ein wenig den Schleier zu dieser Thematik zu lichten.

Seit 20 Jahren und insbesondere vor dem Hintergrund mehrerer EU-Richtlinien, die den Weg zu diesbezüglichen Forderungen ebneten, beschäftigt die Frage „Religionsunterricht in der Schule“ nicht nur klerikale Kreise und ihre verschiedenen Anhänger, sondern auch politische und Gewerkschaftsinstitutionen. Das Thema war bisweilen Gegenstand flammender Fürsprachen für mehr Toleranz und für eine Art postmodernen Humanismus. Sie entstanden im Ergebnis einer Geisteshaltung der letzten beiden Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die ein Problem mit der Rationalität als Voraussetzung jeglicher Bildung hat.

Diese Haltung stellt die grundlegenden Prinzipien des Laizismus in Frage, so dass erneut eine mehr als nur säkulare Auseinandersetzung entstanden ist – und zwar zwischen denen, die die Unterordnung der Schule und des Bewusstseins der Jugendlichen unter Dogmen befürworten und jenen, die für die Emanzipation des Geistes durch die Stärkung der Vernunft eintreten.
(...)
Die „Geschichte religiöser Fakten“ zu lehren, besteht darin, den Schülern zahlreiche Erscheinungen ehrlich in ihrer historischen Dimension zu vermitteln. In einem Kontext also, der die Erinnerung an die Menschheit wachhält und die wissenschaftliche Methode in aller Freiheit hochhält, ohne dabei den letzten Stand der Erkenntnisse als endgültig zu betrachten.

Das „Religiöse als solches“ zu lehren, besitzt hingegen einen ganz anderen Charakter. Denn dessen Verallgemeinerung basiert auf der Idee, dass es eine Art ontologische Natur des Glaubens gäbe, die sich uns als anthropologisches Faktum aufzwingen und in verschiedenen Formen manifestieren würde. Der Begriff des „Religiösen als solches“ impliziert eine zur Wahrheit erhobene Überzeugung, nach der sich die menschliche und im Übrigen undefinierbare Natur durch ihre religiöse Dimension auszeichnen würde. Hier geht es nicht mehr darum, das Verhalten und den Einfluss der Religionen in der Geschichte zu beschreiben, sondern den oft sehr obskuren Sinn des religiösen Wortes zu erforschen, zumindest aber einer Diskussion über Transzendenz denselben Stellenwert beizumessen wie den Thesen der Gelehrten.

20 Jahre Kampf um den Einfluss der Kirche

1986 veröffentlichte die christdemokratische Zeitschrift „Die Welt der Bildung“ (Le Monde de l’Education) zum ersten Mal ein Dossier über den „Religionsunterricht in der Schule“. Zwei Jahre zuvor war der Versuch gescheitert, eine einheitliche öffentliche Bildungsstruktur zu entwerfen, die die staatliche und die katholischen Bildung institutionell gleichstellen sollte. Insbesondere die Bischöfe (…) hatten damit die Hoffnung auf eine Rückkehr des Religionsunterrichts in die staatlichen Schulen verknüpft und sich hierbei auf meist konservative Kreise des Bürgertums gestützt. Die Zeit schien ihnen gekommen, um ihre Ziele mit einer eher heimtückischen Schritt-für-Schritt-Methode umzusetzen. Initiator dieser schleichenden Revolution war die graue Partei, d.h. die Fraktion der Katholiken, die sich in traditionellen laizistischen Organisationen engagierten.
Es folgt eine chronologische Übersicht der verschiedenen Schritte dieser Kampagne bis heute.

Antirationalismus und Verfälschung des Laizismus

Welche Ergebnisse brachte die seit fast 20 Jahren andauernde Propaganda zugunsten der Einführung eines Religionsunterrichts in der Schule?

Zu Beginn des Schuljahres 1996/97 wurden die Lehrprogramme für Geschichte in der 6. Klasse dahingehend geändert, dass anstelle der Vermittlung der Geschichte religiöser Fakten größerer Raum der unkritischen Darstellung religiöser Dogmen verschafft wurde, unter dem Vorwand natürlich, dass alles durch „beste Absichten“ geprägt sei und sich ein schleichender Multikulturalismus breitmache.

Mittlerweile wird in allen Lehrplänen der Abiturstufe der Vermittlung des Religiösen breiter Raum gewährt. Zahlreiche Lehrbücher lassen keinen Zweifel am Tode Jesu auf dem Hügel Golgatha. Nicht nur seine Existenz scheint unbestritten trotz der zwei Jahrhunderte, die zwischen seinem Tod und der vermuteten Abfassung der Evangelien liegen. Auch die Etappen seines Lebens werden – wie etwa die Napoleonischen Kriege – als erwiesene Fakten angenommen. Mit dem sinkenden Niveau des Schulunterrichts scheint auch die Beschäftigung mit der Bedingtheit von Tatsachen seit 10 Jahren aus den Lehrbüchern zu schwinden.

Allerdings genießen die polytheistischen Religionen der Antike keine Gleichbehandlung bezüglich der vermittelten Blindheit. Nach wie vor glaubt niemand an die antiken Götter der Ägypter und Griechen oder daran, dass Mithra einen Falken mit außergewöhnlicher Macht ausstatten wollte oder, dass eine Schar mythischer Gestalten und ihre abstrusen Lebensläufe das Schicksal der Menschheit bestimmt hätten.
(…)
Die Änderung der Lehrprogramme und Schulbücher an den Schulen und Gymnasien geht seit 1996 unmittelbar mit einer antirationalistischen Geisteshaltung einher. Dabei behaupten die Anhänger eines Religionsunterrichts in der Schule, dass der Rückgang der religiösen Praxis zu einer Verarmung der kulturellen Werte in den Familien geführt habe. Somit seien die Schüler nicht mehr in der Lage, sich spontan das Erbe aller Kulturen, die in Frankreich zusammenleben, anzueignen. Daher sei Religionsunterricht in der Schule zwingend notwendig, um den Jugendlichen den Erwerb jener Grundlagen zu gewähren, ohne die der Zugang zur Kultur nicht möglich sei. Dieser scheinbar vernünftig klingende Weg und diese als Heilmittel in einer unhaltbaren Situation gepriesene Argumentation ist in Wirklichkeit eine Lüge.

Die laizistische Schule hat die Vermittlung der Geschichte religiöser Fakten in ihrer Gesamtheit nie zensiert. Wie kann man beispielsweise über das Mittelalter und die Werke dieser Zeit sprechen, ohne die Kathedralen und die tiefe religiöse Leidenschaft der Männer dieser Zeit zu behandeln? Duby hat sich zu intensiv mit dieser Thematik auseinandergesetzt, als dass wir sie heute einfach ignorieren könnten. Wie kann man über die Renaissance sprechen, ohne sich mit der Reformation auseinanderzusetzen und ohne Kunstwerke zu kommentieren, deren Autoren ihre Inspiration aus wiederentdeckten Schätzen der Antike schöpften oder religiöse Szenen mit einem kritischen Auge neu darstellten?
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Wie kann man ernsthaft über die Reformation und die Religionskriege diskutieren, ohne an Luthers Thesenanschlag in Wittenberg und an den Verkauf der päpstlichen Ablässe zu erinnern? Wie erhält man einen Überblick über die Weltgeschichte, ohne das islamische Reich zwischen Córdoba und dem Nahen Osten einzubeziehen?
(…)
Wie wir sehen, hat die laizistische Schule, seit es sie gibt, die Geschichte religiöser Fakten stets in ihrer Gesamtheit und im weitesten Sinne gelehrt, wobei sie diese in ihren Kontext setzte und historische Ereignisse mit der Erschließung der Meisterwerke in einen Zusammenhang brachte. Die Geschichte kann die Rolle der Religion im Leben der Menschen nicht ignorieren oder ihre kulturelle Dimension verdecken, solange Menschen von der Religion überflutet und vergiftet werden. Ebenso wenig wie Philosophie in den Abschlussklassen der Gymnasien – einer stark bedrohten französischen Besonderheit – nicht die Frage der Existenz oder der Nichtexistenz Gottes verhindern kann, solange dieses Thema das abendländische Denken durchdringt.

Aber gleichzeitig kann Geschichte, wenn sie ehrlich sein will, die materialistischen Philosophen der Antike und der Aufklärung nicht aussparen. Auf Augustinus, Thomas von Aquin und Pascal müssen Epikur, Demokrit, Lukrez, Diderot und La Mettrie folgen. Descartes muss als derjenige dargestellt werden, der die Existenz Gottes durch einen Trugschluss beweist und ein Anhänger von Kepler und Galileo ist. Spinoza muss als Autor eines philosophischen Werkes in jüdischer Tradition und als Gründer der radikalen Aufklärung in Europa erscheinen.

Die Behauptung also, dass durch Vermittlung des Religiösen als solches die Kultur verteidigt werde, ist ein irreführendes Argument. Übrigens, immer wenn die historische Wahrheit den totalitären Charakter der Religionen enthüllt, schreien die Verteidiger dieser These „Skandal!“. Zudem: Wie kann man das Unerträgliche akzeptieren und sich damit abfinden, was die ehrliche Vermittlung der Geschichte religiösen Fakten in ihrer Gesamtheit zutage bringt: kirchliche Unterdrückung, Religionskriege, die Bestrafung des Gewissens nach dogmatischen Vorschriften und von Menschen in bestimmte Gruppen?! Diese Behauptung ist mit jener Philosophie gleichzusetzen, deren Anhänger uns einen „offenen“ oder „pluralistischen“ Laizismus weismachen wollen.
(...)
Soll mit der Begründung, dass die Spiritualität der einen wie der anderen gleichwertig sei und diese die besondere Rücksicht der Bürger verdiene, die Verpflichtung öffentlicher Institutionen zur Neutralität beendet werden? Kann sie Ausnahmen zum Nachteil des Gleichheitsgrundsatzes der Französischen Republik und bei Gefahr der Entstehung von Gruppenkonflikten in der Gesellschaft zulassen? Soll mit der Begründung, dass Toleranz ein Recht auf Unterschied statuiere – als Vorstufe für unterschiedliche Rechte – die Anwesenheit eines öffentlichen Diskurses in der Schule akzeptiert werden, der der wissenschaftlichen Wahrheit fremd ist? Und dies auf Kosten der schwerwiegenden Pflicht des Lehrers, den kritischen Geist junger Menschen zu wecken, um ihnen den Weg der Lichter der Vernunft und der Freiheit zu zeigen? Denn die Vermittlung des Religiösen als solches ist eine dieser Lücken, über die die Klerikalen eindringen wollen.

Rückkehr des Schulkonflikts zwischen Kirche und Emanzipation

Auf lange Sicht stellt der Laizismus in der Ausbildung aller Kinder einen Schwerpunkt im Kampf für die Emanzipation der Menschen, für die Bildung freier Bürger dar. Das Bekenntnis und der Wille, Dogmen zurückzuweisen, um Platz für die Wissenschaft und die freie Forschung zu schaffen, muss für alle Schulen unerlässlich sein. Diese Willenskraft ist eine der wichtigsten Maßnahmen zur Förderung der Demokratie. Doch von inneren und äußeren Feinden attackiert, präsentiert die Französische Revolution im schulischen Bereich keine besonders glanzvolle Bilanz.
Es folgt eine chronologische Übersicht der verschiedenen Debatten zu den Inhalten des laizistischen Bildungswesens, die mit der Feststellung endet, dass die Fünfte Republik 1959 durch die Subventionierung religiöser Schulen der Bastion des Laizismus im französischen Bildungswesen einen ersten schweren Bruch zufügte.

Das Thema der Vermittlung religiöser Kenntnisse in der Schule bildet seit 20 Jahren die neue Achse zur Entfaltung des Klerikalismus im Unterricht. Mit dem Hinweis auf die andere, neu aufgetauchte Religion, den Islam, bringen alle klerikalen Kreise Verwirrung in die Debatte. Hinter den Rauchschwaden der religiösen Toleranz und der Notwendigkeit, den kulturellen Bestandteil der Religionen in die Schulprogramme wieder einzubinden (…), verstecken sich die Getreuen von Dogmen und unerträglicher Moral als Anstifter eines Streits in der Gesellschaft.

Es obliegt uns also, gegen diese Ansprüche vorzugehen. Und in der Tat müssen wir aufpassen, dass weder die Schule für religiöse Konfrontationen noch die Republik für kommunitaristische Identitätskonflikte herhalten darf. Der Zivilfrieden, den sowohl die Schulgesetze als auch das Gesetz vom 9. Dezember 1905 zur Trennung von Staat und Kirche dem Land gebracht haben, würde andernfalls beschädigt. Wenn wir unseren Kampf für die Abschaffung aller antilaizistischen Gesetze und die Abschaffung der öffentlichen Finanzierung des katholischen Unterrichts bündeln wollen, um den Geist des Zivilfriedens, der die Säkularisierung in sich trägt, wiederherzustellen, wenn wir schlicht und ergreifend die Natur der öffentlichen Schule schützen wollen, müssen wir Religionsunterricht anprangern. Wie kann dieser mit Gewissensfreiheit und freier Forschung kompatibel sein? Wie kann ein Schüler Legenden und Geschichte in einem Unterricht unterscheiden, der alles auf ein und dieselbe Ebene stellt? Wie kann die Kultur unter solchen Bedingungen triumphieren? Wie können Fortschritte der Wissenschaft Schritt für Schritt die Dunkelheit durchdringen, die die Natur für unseren Verstand verdeckt hält? Wie kann der Bürger in Zukunft lernen, sich eine freie Meinung in diesem dogmatischen Morast zu bilden? Wie kann er das Heiligtum der Schule vor externen religiösen Konfrontationen bewahren? Oder konkreter: Wie kann der Bürger beispielsweise das notwendige Wissen über Verhütung und Abtreibung damit vereinbaren?

Übersetzung: Rudy Mondelaers
Mitarbeit: Tibor Vogelsang

Quelle (Französisch) http://librepenseefrance.ouvaton.org/spip.php?article212