(hpd) Der renommierte - und umstrittene - Theologe und Kirchenkritiker Hubertus Mynarek hat mit kritischem Rückblick eine Autobiographie
über seine Kindheit und Jugend geschrieben
Die Autobiographie eines ehemals heranwachsenden und schließlich herangewachsenen jungen Menschen im Gezerre dreier ideologischer Machtsysteme: Nationalsozialismus, Katholische Kirche (sich allen diktatorischen staatlichen Gewalten zu allen Zeiten anpassend, sie zugleich ausbeutend und unterhöhlend) und staatlich institutionalisierter Kommunismus - während der Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit. Also ein politisches Buch? Ja, aber bei weitem nicht nur das, sondern eine über gängige Geschichtsschreibung weit hinausgehende romanhaft-spannend und fesselnd geschriebene Verlaufsschilderung der dramatischen Ereignisse jener Zeit im ehemals deutschen, dann polnischen Gebiet; bei aller Exaktheit der Darstellung eine ins Konkrete gehende, individuell scharf herausgemeißelte Charakterisierung der handelnden Personen im Widerspiel damaliger politischer Kräfte.
Zunächst der religiöse Fundus, der dem Kind und Jugendlichen im Elternhaus vermittelt wurde, vom gradlinig nüchtern und klar denkenden soliden Vater, einem Handwerker, der in Groß-Strehlitz eine Sattelei betrieb, und der eher emotional angelegten, warmherzigen, jedoch in entscheidenden Situationen entschlossen und unerschrocken zugreifenden Mutter, einer Geschäftsfrau, deren mutig-konsequentem Auftreten der Sohn seine Aufnahme auf das Gymnasium verdankt. Der war zunächst trotz Kirchenhörigkeit und Glaubenstreue keineswegs - wie fast alle seiner Mitschüler - immun gegen die für die Jugend verführerischen Methoden des Regimes und sah es als Ehre an, in die Napola, die elitäre nationalsozialistische politische Erziehungsanstalt aufgenommen zu werden, was sein Vater jedoch strikt verbot und verhinderte.
Es reiht sich Episode an Episode, in der Jungvolkführer, Hitlerjungen, Lehrer, Mitschüler, Geistliche, jüdische Mitbürger und später Funktionäre im kommunistischen Machtbereich, darunter solche im Priesterrock, auftreten, alle nach Charakter und Handlungsweise - von integrer ethischer Haltung bis hin zu übelsten Intrigen und feiger Käuflichkeit, insbesondere im theologischen Bereich - realistisch und lebensnah geschildert.
Diese Jugend-Autobiographie ist nicht chronologisch, sondern nach unterschiedlichen, jedoch ineinander greifenden Lebensbereichen angelegt: Meine Eltern und das Dritte Reich - Meine Erfahrungen in und mit der Hitlerjugend - Die Versöhnungsversuche ehemaliger Hitlerjungen mit Polen (eine Abzeichnung menschlicher Verlogenheit und Heuchelei) - Als Schüler im Dritten Reich.
Die vom Autor als einem bekannten und verdienten Religionswissenschaftler und Kirchenkritiker, der das Dritte Reich von seinem 4. bis 16. Lebensjahr bewusst miterlebt hat, zur Information für den Leser beigegebene Kurzbiographie sei hier im Auszug zitiert:
"Schon im Januar 1945 kam für ihn, den in Schlesien Gebliebenen, dieses Reich zu seinem abrupten Ende. Er wurde Zeuge des Einmarsches der Roten Armee in Schlesien und der Einführung der polnischen Verwaltung in seiner Heimat. Nach vier Jahren Volksschule und fünfeinhalb Jahren deutschem Gymnasium besuchte er nach dem Krieg das polnische Gymnasium und Lyzeum,, studierte dann an der Jagiellonischen Universität zu Krakau Theologie, an der Katholischen Universität zu Lublin Philosophie mit Einschluss der Psychologie (1954 Doktorat in Theologie, 1956 Magisterium in Philosophie).
Nach seiner Übersiedlung im Jahr 1958 in die Bundesrepublik Deutschland war er Assistent an der Universität Münster, 1966 habilitierte er sich an der Universität Würzburg und wurde danach Professor an den Universitäten Bamberg und Wien, wo er Religionsphilosophie, Fundamentaltheologie und Vergleichende Religionswissenschaft lehrte. 1971/1972 war er Dekan an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien."
Mit Schreibern vom 3. November 1971 an Papst Paul VI,. trat er aus Protest gegen die negativen Realitäten in der römisch-katholischen Kirche als einem absolutistisch-monarchistisch verfassten, durch und durch autoritären Machtgebilde aus und musste infolgedessen auf lange Zeit den Verlust seiner Existenz und nach Veröffentlichung seines kritischen Buches "Herren und Knechte der Kirche" (Köln 1973) auch die existenzvernichtenden Gegenschläge dieser Kirche und ihrer Funktionäre ertragen.
Mit gleichem Mut und gleicher Offenheit wie jenes ist sein lesenswertes neues Buch verfasst, das hier besser durch wenige herausgegriffene Zitate gekennzeichnet werden kann als durch eine noch so ausführliche Rezension des durchgängig bemerkenswerten Inhalts:
"Trotz der im vorigen Kapitel geschilderten negativen Einstellung meiner Eltern den Nazis gegenüber war ich bis zum 15. Lebensjahr einschließlich ein Mitläufer des Systems, freilich ein etwas gespaltener, denn ich war ja auch noch Mitläufer in einem anderen System, dem der Kirche, Ich war gewissermaßen schwarz und braun in einer Person, ohne dass mir, der ich noch gar nicht tief reflektierte, das Nebeneinander der beiden Ideologien in meiner Psyche besondere Kopfschmerzen bereitet hätte. Dieses Nebeneinander äußerte sich zum Beispiel darin, dass ich sonntags ganz früh aufstand, um meiner katholischen Gottesdienstpflicht nachzukommen (sprich: zur sonntäglichen Frühmesse zu gehen). Danach nahm ich an der jeden Sonntag veranstalteten Morgenfeier der Nazis teil, bei der man allerdings nicht fehlen durfte, ohne sich Strafen und Nachteile einzuhandeln. Keiner meiner Mitschüler vollzog diesen Spagat zwischen Gottes- und Hitler-Dienst. Die gingen einfach nur zur Morgenfeier der Nazis. Es reichte ja, dass sie nach dem Krieg wieder brave Gottesdienstbesucher wurden." (S. 57)
"Nicht die Charakterfestesten, nicht die ethisch Höchststehenden kommen an die Macht, vielmehr die - allerdings clevere - Mediokrität! Das ist leider der Gang der Dinge, deswegen gibt es auch kaum einen Fortschritt in der Geschichte der Menschheit." (S. 66)
"In der Tat ist der polnische Intellektuelle im Vergleich zum deutschen sehr viel höflicher, entgegenkommender, emotionaler, menschlicher."(S.74)
Bei den späteren Klassentreffen mit meinen ehemaligen Mitschülern habe ich es immer wieder gemerkt, dass die Mehrheit die Gehorsams- und Anpassungsstruktur ihrer Jugend nie überwunden hat, dass selbständiges, unabhängiges Denken weiterhin ihr Ding nicht ist, dass sie stets und überall 'Untertanen' sein werden, egal, wie das System beschaffen ist, in dem sie gerade leben." (S. 152)
In der Tat, auch darin hat sich bis heute gegenüber 1933 - 1945 und 1945 -1989 - wie zu allen Zeiten - nichts geändert; ein bedauerliches Fazit auch dieses verdienstvollen autobiographisch angelegten Geschichtsbuches.
Hubertus Mynarek: Eine Jugend im Osten des Dritten Reiches. - Verlag DIE BLAUE EULE, Essen 2008, 25,- EUR