„Ich erfülle nur eine Pflicht"

HAMBURG. (hpd) Anlässlich des Erscheinens des neunten Bandes der „Kriminalgeschichte des Christentums" von Karlheinz Deschner sprach der hpd mit

dem Lektor der Kriminalgeschichte, Hermann Gieselbusch.

 

hpd: Mit der „Kriminalgeschichte des Christentums" arbeitet Karlheinz Deschner an seinem ‚Opus Magnum'. Seit wie vielen Jahren beschäftigt er sich mit diesem Thema?

Hermann Gieselbusch: Spontan hätte ich gesagt, seit bald dreißíg Jahren, aber wenn ich es mir jetzt genau überlege, sind es in diesem Jahr bereits 51 Jahre. 1957 gab es mit Rowohlt die ersten Gespräche über eine Art ‚atheistische Kirchengeschichte'. 1962 erschien „Abermals krähte der Hahn" - im Günther Verlag in Stuttgart - und 1970 vereinbarte der Rowohlt-Verlag einen ersten Vertrag mit Karlheinz Deschner - über ein Buch mit rund 350 Druckseiten. (Die Geschehnisse der damaligen Jahre bis 1992 sind recht detailliert in einem Artikel von Hermann Gieselbusch im Sonderheft Aufklärung und Kritik 2004 geschildert worden: „Deschner bei Rowohlt".)

Leser fragen uns: „Warum bringt ihr denn nicht alles auf einmal heraus?" Das zu klären ist wichtig, weil es eine völlige Verkennung der Tatsachen im Bewusstsein vieler Menschen ist. Es ist eine Art Vorstellung, dass wir die Manuskripte in einem Kühlfach liegen haben und nach Lust und Laune alle paar Jahre einen neuen Band hervorzaubern. Dazu kann ich nur sagen: Ja, das wäre schön und wir würden es sofort machen, zehn Bände auf einen Schlag, das wäre verlegerisch genau das Richtige. Aber das Ganze ist eben ein ‚work in progress', d.h. wir müssen immer abwarten, bis der Autor soweit ist. Und der Autor ist - das ist der große Unterschied zu akademischen Historikern -, er ist ein Künstler. Er ist ein Geschichts-Schriftsteller. Die Griechen wussten, dass die Geschichtsschreibung eine Muse braucht, diese Muse heißt Klio. Sie haben ein extra Fach gehabt, mit einer eigenen Muse, d.h. es ist etwas Musisches, nicht etwas Wissenschaftliches. Das muss es zwar auch sein, aber Karlheinz Deschner ist ein Schriftsteller, der sich dieses Thema gewählt hat, und deshalb entsteht es unter künstlerischen Gesichtspunkten.

Insofern ist es nicht planbar und deshalb kann man ihm auch nicht helfen. Man kann nicht sagen: „Also, statt vier Jahren brauchst du jetzt für einen Band nur noch zwei Jahre, wenn du zwei Assistenten bekommst, die dir die Literatur heranschaffen." Das ist versucht worden. Der spätere Stifter der GBS, Herbert Steffen, hat es probiert und viel Geld ausgegeben für vier Leute, die Deschner zugearbeitet haben. Es hat anderthalb Jahre gedauert und endete auf allen Seiten mit Enttäuschung. Also, das geht nicht. Er sitzt da in seinem Haus, hat eine Unmenge von Dokumenten und sucht sich nun zu diesem oder jenem Aspekt etwas heraus, fragt sich etwa, wie kann ich diesen riesigen Komplex der Ostkirchen am besten "greifen"? Wie kann ich etwas durch die Skizzierung der Geschichte eines Klosters verdeutlichen, durch die Darstellung einer historischen Figur, durch das Einarbeiten einer kleineren Kirchenspaltung? Und da hat er natürlich unglaubliche Erfahrung, wie man so etwas mit den Kunstfertigkeiten eines Schriftstellers bearbeitet – so wie Schiller sich in den 30-jährigen Krieg vertiefen konnte und darüber geschrieben hat, so hat Deschner sich in die weltliche Geschichte der Christenheit vertieft, er schreibt ja keine Theologie-Geschichte. Er schildert nicht den christlichen Glauben, er schildert die Verwirklichung dieses Glaubens in der Welt, den häufig schreienden Kontrast, der verwirklicht wird,  meist das genaue Gegenteil von dem, was die Lehre sagt.

hpd: Das heißt, jemand, der alle Details christlicher Geschichte sucht, wird dort nicht unbedingt fündig werden?

Hermann Gieselbusch: Nein! Er komponiert, setzt Schwerpunkte, wählt aus. Es spielt für ihn eine ganz große Rolle, das, was im allgemeinen Geschichtsbewusstsein bei gebildeten Menschen gespeichert vorhanden ist, meistens Legenden, mit großer Inbrunst auseinander zu nehmen.

Im neuesten Band hat er ein ergreifendes, gleichzeitig zutiefst komisches Kapitel über Ignatius von Loyola geschrieben. Man denkt sich ja, dieser General hat einen Orden gegründet, die Gesellschaft Jesu, mit Kadaver-Gehorsam und allem gehorchend, was der Papst will. Also ein Offizier oder strammer Manager-Typ – der jedoch literweise Tränen vergossen hat, der Tage in Trance verbrachte und ein Tagebuch darüber führte, wann er vor Ergriffenheit heulte über sein Sündendasein. Das ist überraschend, da ich dachte, der Ignatius sei ein zackiger, durchsetzungsfähiger Mann. Nein, das Gegenteil, eine richtige ‚Heulsuse'.

hpd: Ist es ein besonderes Anliegen von Deschner, Christentum und Kirche als von Menschen Gemachtes zu zeigen, um damit beides von dem angeblich Göttlichen zu entkleiden?

Hermann Gieselbusch: Im Falle von Loyola auf jeden Fall. Es ist sehr typisch für Deschner, dass er durchschaut, welche gigantische Propaganda-Maschinerie die Kirchen betreiben und dass die Helden beinahe durchweg verlogene Figuren sind. Da stimmt so gut wie nichts. Deschner hält immer mit Absicht dagegen. Ob es beispielsweise die großen Reformatoren Luther, Zwingli, Hus sind – entweder es sind Teufel in der Überlieferung der Kirche oder eben Heilige, und da schürft Deschner unter der Patina.

hpd: Wenn er als Autor so lange an einem Thema arbeitet - mit immer wieder neuen Zeitabschnitten -, macht es ihm Freude, immer wieder Neues zu entdecken oder wird ihm das Thema allmählich leid, ermüdet es ihn einfach?

Hermann Gieselbusch: Das kann ich ganz klar beantworten. Er bedauert es oft und sagt, ich erfülle nur eine Pflicht. Deschner ist ein sehr pflichtbewusster Mensch. Für ihn selbst ist in dieser Thematik nichts mehr überraschend oder neu. Aber andere Leute sollen davon wissen, um sich zu befreien. Er schuldet gewissermaßen seinen Zeitgenossen und den nachfolgenden Generationen diesen Dienst. Er sagt, bei mir fließt das alles zusammen: Ich habe die Perspektive, wähle den Stoff aus, und das Wissen möchte ich weiter geben. Aber er würde viel lieber etwas anderes schreiben. Es ist wie ein Traum von Freiheit, denn er klagt manchmal, immer wieder diese Geschichten – mir gehen allmählich die Worte aus –, immer wieder Folter beschreiben, wie da geschrieen wird, die Brutalität ... Dennoch, immer wieder Brandschatzungen, Vergewaltigungen, Plünderungen, also alles, was ‚mies' ist am Menschen – es immer wieder zu sagen, in allen Jahren, allen Jahrhunderten geschieht das.

hpd: Hat es in der Geschichte des Rowohlt-Verlages schon einmal jemanden gegeben, der mit einem solchen Opus Magnum veröffentlicht worden ist, und das über alle Jahre, alle Veränderungen der Verlagspolitik weiter geführt worden ist?

Hermann Gieselbusch: (denkt nach) Es gibt ein Beispiel, die deutsche Ausgabe der Werke von Vladimir Nabokov. Ein Nabokov-Kenner ersten Ranges ist Dieter E. Zimmer, früher Feuilletonchef bei der ‚Zeit'. Er hat Nabokov noch gekannt, in grandioser Weise einige Texte von ihm übersetzt und eine vorbildliche deutsche Ausgabe von ihm gestaltet, in 24 Bänden.

Aber natürlich muss man sagen, wenn Deschner von vorneherein gesagt hätte: „Ich will zehn Bände schreiben", er war damals schon über sechzig, hätte jeder gesagt: „Lieber Herr Dr. Deschner, also, wie viele Bände liegen denn schon im Kühlschrank? Wenn ja, können wir darüber reden, aber wenn noch nichts da ist, dann müssen Sie bitte ein Haus weiter gehen, das kann niemand einhalten." Jeder hätte gedacht: „Der ist doch größenwahnsinnig."

hpd: Ist das vielleicht eine der Voraussetzungen für ein solches Werk?

Hermann Gieselbusch: (lächelt) Ich kenne einige Autoren, und ohne diesen festen Glauben an sich selbst, diesen ‚Größenwahnsinn', sollte man nicht Schriftsteller werden wollen. Das braucht man. Man braucht auch diesen Egozentrismus, der damit zu tun hat, dieses Einengen, nur auf diese Produktion zugeschnitten zuzugehen. Das gelingt Deschner allerdings auch nicht immer gleich gut.

hpd: Zwischendurch Aphorismen schreiben...

Hermann Gieselbusch: ... oder andere Themen bearbeiten, kleine Fluchten – noch immer träumt er von einem Buch über seine Lieblingsinseln. Früher hat er Vorträge gehalten, was Herbert Steffen dann unterbunden hat, indem er zusagte: „Ich sorge dafür, dass du keine Vorträge mehr halten musst." Davon hatte er früher ja weitgehend mit seiner Familie gelebt. Und Deschner hat ein besonderes Verhältnis zum Geld. Er kann es großherzig für andere ausgeben, und er kann so karg leben, dass man es kaum für möglich hält. Als ich ihn anfangs besuchte, 1970, da saß er in seinem damaligen Arbeitszimmer, einer Dachkammer, nichts isoliert, in eine Rosshaardecke gehüllt, auf einem schiefen Drehstuhl, und hatte überall Mützen und Schals liegen, um sich gegen die Kälte zu schützen. Unbeschreiblich karg. So ähnlich wie Arno Schmidt, ein Geistesverwandter von ihm, auch gelebt hat. Er ist ein Mann, der ein persönliches Anliegen fühlt. Er ist von Niemandem beauftragt, er hat nichts im Hintergrund gehabt, keine schöne Professur oder so etwas, oder eine Forschungsstelle, nichts dergleichen.

hpd: Kann jemand, der sein Leben lang so gearbeitet hat, eigentlich überhaupt aufhören zu arbeiten?

Hermann Gieselbusch: (lacht) Das ist ein Punkt, über den wir schon oft gesprochen haben. Er meinte: „Was ist, wenn der zehnte Band fertig ist? Dann kann ich doch eigentlich nur noch in die Grube springen!" Ich schlage ihm dann vor: „Du stirbst erst dann, wenn du den Anhang des zehnten Bandes abgegeben hast. Und das wird dann einen tollen Effekt geben. Autor stirbt, das Werk ist fertig, das gibt riesig lange Zeitungsartikel... Dein Nachruhm steht fest!" So witzeln wir manchmal.

Aber im Ernst: Zu seinem Geburtstag 2006 habe ich ihm in einem Brief ein Beispiel genannt, von einem Fachkollegen, nämlich Leopold von Ranke, der in seinem Alter, also Anfang 80, obwohl erblindet, eine zehnbändige Weltgeschichte per Diktat vollendet hat. Angefangen bis zum Ende - er ist über 90 geworden. Und ich habe ihm geschrieben: „Schau einmal, es geht!"

hpd: Herr Gieselbusch, danke für das Gespräch.

Die Fragen stellte Carsten Frerk.