VATIKAN. Papst Benedikt XVI. bleibt auf geistigem Konfrontationskurs mit Aufklärung und
Säkularisierung
Am 10. November 2006 empfing Papst Benedikt XVI. eine Gruppe von deutschen Bischöfen im Vatikan. Und wie das so ist, wenn Päpste sich mit Bischöfen treffen, man redet über Gott und die Welt: Gott ist und bleibt göttlich, aber die Welt wird leider immer weltlicher. So auch in Deutschland: "Die Bundesrepublik Deutschland teilt mit der ganzen westlichen Welt die Situation einer von der Säkularisierung geprägten Kultur, in der Gott immer mehr aus dem öffentlichen Bewußtsein verschwindet,(...)" Im Oktober, auf dem Katholikentag in Italien sah der deutsche Papst seine Wahlheimat sogar von einer "neuen Welle der Aufklärung" überschwemmt. Etwas weniger dramatisch formuliert es der Erzbischof von Berlin, Georg Kardinal Sterzinsky, in seinem Grußwort an den Papst: „Wir sehen uns nicht so sehr einem kämpferischen Atheismus, wohl aber einem unbekümmerten Agnostizismus ausgesetzt."
Benedikt XVI. wäre nicht Joseph Ratzinger, wenn er nicht schon einen Plan in der Hinterhand hätte, wie man die säkulare Übermacht bezwingen kann. Schließlich verfügt die katholische Kirche laut Selbsteinschätzung über etwas, was die gottlose Konkurrenz angeblich nicht haben soll - Antworten auf letzte existenzielle Fragen: "Wir Christen brauchen keine Angst vor der geistigen Konfrontation mit einer Gesellschaft zu haben, hinter deren zur Schau gestellter intellektueller Überlegenheit sich doch Ratlosigkeit angesichts der letzten existenziellen Fragen verbirgt." Im nächsten Satz attestiert er diesen Antworten sogar eine "bleibende Gültigkeit". Wer behauptet, auf letzte existenzielle Fragen Antworten von bleibender Gültigkeit zu haben, sollte auch Antworten auf die naheliegenden und einfachen Fragen haben: Was ist eine Frage? Was ist eine Antwort? Wann ist eine Frage existenziell und welche Frage ist wirklich die letzte? Vielleicht lautet die Antwort auf die letzte Frage einfach 42?
Auf banaler weltlicher Ebene ist eine Frage Ausdruck des Wunsches, etwas bisher Unbekanntes anhand von bekannten Sachverhalten erklärt zu bekommen. Und eine Antwort - eine befriedigende Antwort - ist eine Erklärung, die auf den Erfahrunghorizont des Fragenden Rücksicht nimmt und Unbekanntes anhand von Bekanntem erklärt. Wer in einer fremden Stadt nach dem Weg zum Bahnhof fragt, wird mit der Antwort "Fahren Sie in die Parkstraße und dann nach der ersten Kreuzung links" nicht viel anfangen können, da er nicht weiß, wie er in die Parkstraße kommt. Die Parkstraße ist dem Fragenden unbekannt.
Der biblische Jesus wurde mehrfach nach dem Weg zum Heil gefragt, und er hatte darauf viele Antworten, aber seine Antworten waren eher der Natur: "Fahren Sie nicht in die Parkstraße und dann nach der ersten Kreuzung links oder rechts." Im Lukasevangelium (Lukas 10,25-28) wird Jesus von einem Gelehrten gefragt:
"Lehrer, was muss ich getan haben, um ewiges Leben zu erben?
Er aber sprach zu ihm: Was steht in dem Gesetz geschrieben? Wie liest du?
Er aber antwortete und sprach: `Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deiner ganzen Kraft und mit deinem ganzen Verstand und deinen Nächsten wie dich selbst.
Er sprach aber zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu dies, und du wirst leben"
Das klingt eindeutig: "Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst."
Nur sagt der gleiche Jesus etwas später (Lukas 14,26): "Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und seine Mutter und seine Frau und seine Kinder und seine Brüder und Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein." Widersprüchlicher können Antworten kaum ausfallen.
Fragt man in die andere Richtung, woher wir kommen und welchen Sinn unsere Existenz hat, sieht es nicht viel besser aus. Wir würden existieren, weil Gott uns erschaffen habe und der Sinn unseres Lebens werde uns von Gott geschenkt. Beantwortet das wirklich die gestellten Fragen? Wenn jemand nach der Ursache seiner Existenz fragt, möchte der nicht verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass er als bewusstes Wesen existiert, dem sich solche Fragen überhaupt erst stellen? Die Antwort "Gott" ist da höchst unbefriedigend, weil nichts erklärt wird. Die Antwort des Christentums auf letzte existentielle Fragen besteht nicht darin, diese Fragen zu beantworten, sondern zu behaupten, dass es einen Gott gibt, der die Antworten kennt. Woher dieser Gott kommt und welchen Sinn seine Existenz hat und wie seine Antworten auf letzte Fragen lauten, das weiß wohl selbst der Papst nicht. Solche Frage sehen viele Christen auch meist nicht als existenzielle letzte Fragen an, sondern nur als das Allerletzte, mit dem sie sich überhaupt befassen würden.
Das Christentum hat nicht nur keine Antworten auf die letzten Fragen, es weigert sich, Fragen, die aus den vermeintlich letzten Fragen resultieren, überhaupt zu stellen. Von Antworten ganz zu schweigen. Bei Licht betrachtet erweisen sich die letzten existentiellen Fragen, die der Papst beschwört, als üblicher Marketingtrick: Man muss nur oft genug von letzten Fragen sprechen, um den Gläubigen einzureden, dass das genau die Fragen sind, auf die sie schon immer eine Antwort gesucht haben. Wer käme ohne kirchliche Indoktrination schon auf die Idee, die Antwort auf existenzielle Fragen in einem Schluck Wein und einer Oblate zu suchen? Die Idee, es gäbe ein Leben nach dem Tod, ist da schon naheliegender. Die Angst vor dem Tod ist eine menschliche Urangst - und das Christentum weiß sie für sich zu nutzen. Allerdings nicht nur, um Menschen eine Hoffnung über den Tod hinaus zu geben, sondern um ihr Verhalten im Diesseits zu steuern. Wer sich nicht an die komplizierten, widersprüchlichen und nach heutigen Maßstäben unzeitgemäßen Regeln (Beispiel Homosexualität) hält, dem droht ewiges Zähneknirschen in der Hölle - oder nach moderner theologischer Auslegung: Die ewige Gottesferne. Man sollte die psychologische Wirkung, die auch die abgeschwächte Höllendrohung auf gläubige Menschen - vor allem Kinder, die im Glauben aufwachsen - haben kann, nicht unterschätzen.
Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Welche Antworten hat die säkulare Welt auf letzte Fragen? Welche Antworten hat die Wissenschaft? Wie erklärt die Wissenschaft den Weg zum Heil? Benedikt XVI. hat in gewisser Hinsicht Recht, denn die Wissenschaft tut sich schwer damit, Fragen zu beantworten, die nicht klar definiert sind. Welche Fragen sind "letzte Fragen" und welche Fragen sind existenziell? Für einen Verhungernden ist die Frage, wo er etwas zu Essen herbekommt, von existenzieller Bedeutung. Diese und ähnliche Fragen waren für die überwältigende Mehrheit aller Menschen, die jemals gelebt haben, existenziell - und sind es wohl noch heute. Dagegen wirkt es ein wenig dekadent, wenn jemand meint, dass sich die wirklich existenziellen Fragen erst auf einer höheren, transzendenten Ebene stellen. Wer sich diesen Luxus leisten kann, hat nicht gerade unter Hunger zu leiden. Und vor der Frage, mit welchen Methoden man im Reich der transzendenten Spekulationen nach Antworten suchen soll, steht die Wissenschaft zurecht mit - wie der Papst es nennt - „Ratlosigkeit" - eine derartige Suche wäre nämlich sinnlos, also kann man sie sich gleich ersparen. Was der Papst als „Ratlosigkeit" bezeichnet, ist schlichtweg Desinteresse für das Sinnlose.
Die Wissenschaft hat auf viele Fragen keine Antwort, weil niemand eine Antwort auf diese Fragen hat. Beispielsweise wissen wir momentan noch nicht genau, was wir mit den Ergebnissen der Quantenmechanik anfangen sollen. Man darf allerdings bezweifeln, ob der Papst ein besserer Physiker ist, als es Physiker sind. Sollte es Antworten geben, dann werden wir sie voraussichtlich nur mit den Methoden der Wissenschaft herausfinden. Die Religionen liefern zwar Antworten auf viele mögliche und unmögliche Fragen, aber all diese Antworten stehen unter dem Vorzeichen "Wir glauben, dass es so ist." Auch der Papst glaubt nur, dass seine Antworten letztgültig sind. Er weiß es nicht, denn er kann es nicht beweisen. Er will es auch gar nicht, denn der Glaube lebt vom Geheimnis.
Für Kinder ist die Welt ein Geheimnis, hinter jeder Tür gibt es etwas Neues zu entdecken. Irgendwann entdeckt man aber nicht nur das Neue, sondern auch die Regelhaftigkeit der Welt. Hinter neuen Türen erwartet uns nicht mehr das Unerwartete, sondern nur eine weitere Ausprägung der langsam durchscheinenden Regelhaftigkeit der Welt. Daraus ensteht der Wunsch nach Türen, hinter denen sich doch etwas völlig Neues verbirgt. Und eine solche Tür ist der Glauben, weil es sich um eine Tür handelt, die sich niemals öffnet, aber hinter der sich als großes ungelöstes Geheimnis die Erfüllung aller unbewussten Wünsche vermuten lässt. Hinter dieser Tür vermuten Gläubige eben nicht nur einen weiteren Raum, nicht eine Erweiterung der bekannten Welt, sondern etwas völlig Neues, das jede bisherige Erfahrung übertrifft. Das funktioniert aber nur, weil es diese Tür eigentlich gar nicht gibt und sie daher niemand öffnen kann. Könnte man diese Tür öffnen, dann wäre alles, was sich dahinter verbirgt, irgendwann Teil dieser Welt und man müsste eine neue imaginäre Tür erfinden, hinter der sich das gänzlich Unbekannte verbirgt. Ein Gott, der Teil unserer Welt wäre und zu dem man eine Tür öffnen könnte, die jedem Menschen offen stünde, wäre für Gläubige eine Enttäuschung.
Das ist das Prinzip, das den christlichen Glauben am Leben hält: Nicht zu enttäuschen, indem man den Kern zum Geheimnis erklärt. Eine Tür muss immer geschlossen bleiben - und wenn alle Türen geöffnet sind, dann erfindet man eben eine unsichtbare Tür, die nicht geöffnet werden kann. Die Aufklärung hat ein anderes Ziel: Sie will nicht die Täuschung, sondern sie lebt von der Ent-Täuschung. Sie wünschst sich keine Geheimnisse herbei, sondern sie will die Rätsel unserer Welt lösen, sie will aufklären. Wenn sie auf sogenannte "letzte Fragen" keine Antwort hat, dann gibt sie auch keine Antwort.
Papst Benedikt XVI. mag das als Ratlosigkeit empfinden. Man kann es aber auch Ehrlichkeit nennen.
Stefan Weiland