„Die drei Heiligen“: Stalin, Nikolaus, Lenin.
MOSKAU, 21 Juli. Josef Stalin, einer der umstrittensten
Führer und Despoten des 20. Jahrhunderts, befindet sich derzeit an erster Stelle bei der Abstimmung über den bedeutendsten „Namen Russlands“. Das Votum wird seit einigen Wochen vom Fernsehsender „Rossija“, dem Institut für Russische Geschichte der Akademie der Wissenschaften und der Stiftung Gesellschaftliche Meinung im Internet durchgeführt.
Am 21. Juli konnte Stalin 456.887 Stimmen hinter sich vereinen, gefolgt vom letzten Zaren Nikolaus II. mit 431.702 Stimmen und dem Revolutionsführer Lenin mit 207.183 Stimmen.
An vierter Stelle der Bestenliste befand sich der zu Sowjetzeiten berühmte Ausnahmekünstler Wladimir Wyssozki mit 172.511 Stimmen. Mittlerweile wurden mehr als 3 Millionen Stimmen abgegeben, wobei niemand die genaue Teilnehmerzahl angeben kann, da die Internetnutzer wiederholt abstimmen können. (Russisch)
KPR kontra ROK
ST. PETERSBURG/MOSKAU, 16.-21. Juli. Durch die Aktion zur Wahl des bedeutendsten Russen ist ein Streit zwischen der Kommunistischen Partei Russlands (KPR) und der russisch-orthodoxen Kirche (ROK) über die historische Rolle Stalins entstanden.
Mitte Juli hatte die Petersburger Parteiorganisation der KPR vorgeschlagen, Stalin für den Fall, dass er das Rennen machen würde, als eine Art „Napoleon Russlands“ heiligzusprechen (!), der die russischen Territorien vereint, die Fremden besiegt und das großartige sozialen Minimum geschaffen habe, der Vorreiter und Vater der Völker war.
Diesen Vorschlag bezeichnete der Pressesprecher des Moskauer Patriarchats der ROK Wladimir Wigiljanski als „ungeheuerlich“ und er erinnerte an die Verfolgungen von Gläubigen unter der Regentschaft Stalins.
Daraufhin gab die Petersburger Organisation der KPR eine Erklärung ab, in der sie unter anderem argumentierte: „Die russisch-orthodoxe Kirche hat die Tätigkeit J. Stalins bereits zu dessen Lebzeiten als eindeutig positiv gewürdigt und wir bestehen auf einer Klärung der Widersprüche in den Mitteilungen der ROK aus den Jahren 1940-50 und den heutigen provokativen und für das russische Volk beleidigenden Einschätzungen Stalins durch Herrn Wigiljanski.“
Als Beispiel zitiert die KPR eine Grußadresse der Kirchenführung vom 21. Dezember 1949 zum 70. Geburtstag des Generalissimus, in der es heißt: „Und wir spüren jetzt auf jedem Schritt unseres kirchlichen und bürgerlichen Lebens die nützlichen Resultate Ihrer weisen Staatsführung, wir können unsere Gefühle nicht verbergen und überbringen Ihnen, teurer Josef Wissarionowitsch, am Tag Ihres 70. Geburtstages die tiefste Dankbarkeit im Namen der russisch-orthodoxen Kirche.“
So frohlockt schon der Parteivorsitzende der Petersburger Kommunisten Sergej Malinkowitsch: „Die Menschen erinnern sich daran, dass Stalin nicht für sich, sondern für das Land und das Volk lebte. Wir betrachten diese Abstimmung als erstes Signal dafür, dass es in Russland wieder Stalin-Denkmäler geben wird.“ Und weiter: „Natürlich gab es Lager. Aber lange nicht in solchem Ausmaß, wie man im Westen mutmaßt. Wenn es sie heute gäbe, würden zwei Drittel der Bürokraten darin sitzen, so korrupt wie die geworden sind.“ (Russisch) (Russisch)
ROK kontra KPR
MOSKAU, 10. Juli. Der Vorsitzende der KP Russlands Gennadi Sjuganow hat die Forderung der ROK, das untergegangene kommunistische Regime zu verurteilen, als Provokation bezeichnet. „Die Revision der Geschichte ist eine unwürdige Angelegenheit, erst recht für jemanden, der sich dem Dienst an Gott verschrieben hat“, sagte Sjuganow.
Georgi Rjabych, amtierender Sekretär für die Beziehungen zwischen Staat und Kirche von der Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats, hatte zuvor erklärt, dass die Verurteilung des Kommunismus zwar Anfang der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts begonnen worden war, aber nicht zu Ende geführt worden sei.
Seiner Meinung nach müsse man „das Gedenken an die Opfer von Repressalien und ihre Standhaftigkeit weiter aufrechterhalten, Gedenkstätten eröffnen, den Straßen und Städten ihre alten Namen zurückgeben und die Denkmäler blutrünstiger Führer von den zentralen Plätzen russischer Städte sowie die Gräber von der Kremlmauer beiseite schaffen.“ (Russisch)
Russland – eine Demokratie?
MOSKAU, 7. Juli. Die Menschrechtsaktivisten Wladimir Bukowski und Jelena Bonner, Witwe des 1989 verstorbenen sowjetischen Dissidenten und Friedensnobelpreisträgers Andrei Sacharow, haben sich Anfang Juli mit einem Aufruf an beide damals noch um die US-Präsidentschaft kämpfenden Kandidaten der Demokraten, Hillary Clinton und Barack Obama, gewandt, sich für den Ausschluss Russlands aus dem Kreis der G-8-Staaten einzusetzen. In dem Aufruf heißt es unter anderem:
„In einigen Monaten wird einer von Ihnen neuer Präsident der Vereinigten Staaten sein. In diesem Zusammenhang ist es an der Zeit, die US-Politik auf vielen Gebieten zu überdenken, darunter Ihre Beziehungen zu Moskau.
Das heutige Regime in Russland ist nicht nur autoritär, es wird auch immer aggressiver. Die massenhafte Verletzung der Menschenrechte, Foltern, politische Repressalien und politische Morde in Moskau sowie der weiterhin stattfindende Genozid im Nordkaukasus sind noch lange nicht alles.
Wie schon zu Zeiten des Kalten Krieges stellt der Kreml eine ernsthafte Gefahr für die internationale Sicherheit dar: Die Einschüchterung der Nachbarstaaten und die Einmischung in deren innere Angelegenheiten, die Ausnutzung des Exports von Energieträgern als Instrument der politischen Erpressung, Hilfe und Unterstützung für alle Gegner der freien Welt, das Entfachen einer massiven Kampagne der Hasspropaganda gegen den Westen im eigenen Land, die doppelzüngige Haltung zum iranischen Atomprogramm sowie Waffenlieferungen an die Nachbarstaaten Israels lassen keinen Zweifel am wahren Charakter dieses Regimes.
Darüber hinaus wurde der Kreml eines direkten Aggressionsaktes gegen ein Mitgliedsland der NATO überführt, als er einen Mord an einem britischen Staatsbürger auf britischem Territorium durch einen radioaktiven Anschlag verübte. Dieses Regime hat sich nicht nur als Feind der russischen Bürger, sondern auch der westlichen Demokratien gezeigt.
In dieser Situation ist eine fortdauernde Mitgliedschaft Moskaus bei den G-8-Staaten einfach absurd. Der Kreis der G 7, als den wir diese Organisation betrachten, ist ein Klub der Demokratien. Doch woran man es auch misst – Russland ist heute alles andere als eine Demokratie. Darüber hinaus beansprucht dieses Regime ein gewisses Vertrauen von seinen Bürgern, weil es die Welt gelehrt hat, Angst und Ehrfurcht vor Russland zu haben; und die G-8-Mitgliedschaft dient ihm als deutlichste Illustration, um diesen Anspruch zu begründen. Diese Mitgliedschaft dient jedoch nur der Kreml-Propaganda, verhindert jedwede möglichen Reformen und schadet der Entwicklung einer demokratischen Opposition.
Aus diesem Grund rufen wir Sie auf, einen Prozess des Ausschlusses der Russischen Föderation aus dem Kreis der G 7 einzuleiten und damit ein Zeichen zu setzen, dass die Vereinigten Staaten sich vor keinem einzigen aggressiven oder antidemokratischen Regime fürchten oder dieses achten. Die Zeit wird kommen, da Russland sich zu einer Demokratie entwickeln und einen ihm gebührenden Platz unter den freien Nationen einnehmen wird. Doch leider ist dies eine Frage, die in weiter Ferne liegt. Vorerst gilt es, zumindest das Hofieren russischer Tyrannen als rechtmäßig auserwählte demokratische Führer zu beenden.“ (Russisch)
Ausstellung „Psychiatrie – Industrie des Todes“
MOSKAU, 23. Juli. Im Moskauer Kulturzentrum „Moskwitsch“ findet am 30. Juli die Eröffnung der Ausstellung „Psychiatrie – Industrie des Todes“ statt. Zu der Veranstaltung sind führende Künstler, Mediziner, Juristen und Menschrechtler eingeladen.
Die Ausstellung soll die Öffentlichkeit für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen sensibilisieren, die es bis heute in der russischen Psychiatrie gibt. Sie zeigt Tatsachen, die selten zum Vorschein kommen und kaum diskutiert werden, wie:
- sexuelle Gewalt und Missbrauch in der Psychiatrie
- die Verschreibung von psychiatrischen Präparaten an Schulkinder
- die Zerstörung der Persönlichkeit von Künstlern
- das Verhältnis von Psychiatrie und Justiz
- Folter und ihre Ursprünge
- das Entfachen von Rassismus
- die sowjetische Psychiatrie
- Elektroschock und Psychochirurgie
- die Verschreibung von Präparaten zur Vorteilserschleichung
- das Erfinden psychischer Defekte.
Die Ausstellung wird außerdem 14 Dokumentarfilme zeigen, in denen mehr als 160 Fachleute und Opfer zu Wort kommen. Bei der Eröffnungsveranstaltung wird die Bürgerliche Kommission für Menschenrechte ihre Position darlegen, wie man aus der immer wieder vorkommenden Verletzung der Menschenrechte in Russland herauskommen könnte. (Russisch)
Forschung ohne Tierversuche
WORONESCH, 17 Juli. Nick Jukes, Vorsitzender der internationalen Organisation InterNICHE für humane Bildung, hat bereits mit neun russischen Hochschulen eine Vereinbarung zur Abschaffung von Tierversuchen in der Forschung unterzeichnet. Dieses Mal weilte er am Lehrstuhl für Pharmakologie, Toxikologie und Parasitologie an der Fakultät für Veterinärforschung der Staatlichen Glinka-Agraruniversität in Woronesch.
Die Vereinbarung sieht vor, dass der Lehrstuhl Computerprogramme gestellt bekommt, um alternative Forschungsmethoden einzuführen, die Tierversuche verzichtbar machen. Damit kann etwa 10-15 Kaninchen, 80-100 Ratten und Mäusen sowie 200 Fröschen das Leben gerettet werden.
Als erstes russisches Institut hatte der Lehrstuhl für Pharmakologie und Toxikologie der Sankt Petersburger Staatlichen Akademie für Veterinärmedizin bereits 2004 die alternativen Forschungsmethoden eingeführt und damit eine neue Ära im russischen Bildungssystem eingeläutet, in der moderne Ideen und Methoden einer humanen Ausbildung zur Anwendung kommen. (Russisch)
Sendungsdrang 1: Orthodoxe Ränkespiele
KIEW/MOSKAU 26./27.Juli. Am letzten Wochenende feierten die russisch-orthodoxen Christen unter Patriarch Alexi II. das 1020. Jahr der Christianisierung der Kiewer Rus, jenes historischen Staates der Ostslawen, der sich über das Territorium des heutigen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine erstreckte.
Doch seit einiger Zeit gibt es Ärger innerhalb der orthodoxen Kirche. Unter anderem versucht die politische Führung der Ukraine, einen Keil zwischen die russischen und ukrainischen Orthodoxen zu treiben, indem sie eine eigenständige orthodoxe Kirche der Ukraine ohne Moskauer Kirchenführung anstrebt. Neben dem Moskauer Patriarchen Alexi II. war daher auch der Patriarch von Konstantinopel Bartholomäus nach Kiew eingeladen. Von ihm erhofft sich die ukrainische Regierung Rückendeckung bei ihrem Ziel, die orthodoxen Kirchen der Ukraine unter der Hoheit des Patriarchats von Konstantinopel zu vereinigen.
Derzeit existieren drei orthodoxe Strömungen im Land: Die meisten Gläubigen gehören der russisch-orthodoxen Kirche an, die dem Moskauer Patriarchat unter Metropolit Alexi II. untersteht. Daneben existiert die ukrainisch-orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, die sich Anfang der 1990er Jahre von Moskau loslöste. Sie wird von Metropolit Filaret geleitet wird, über den das Moskauer Patriarchat als Gegenreaktion einen Kirchenbann verhängt hat. Und schließlich gibt es die autokephale (eigenständige) orthodoxe Kirche, die bereits 1917 gegründet wurde.
Die beiden letztgenannten Kirchen sind bisher von keiner anderen orthodoxen Kirche der Welt anerkannt, genießen aber die uneingeschränkte Unterstützung des ukrainischen Staates. Insgesamt bezeichnen sich etwas mehr als die Hälfte der Ukrainer als orthodoxe Christen. Zudem gibt es noch eine bedeutende Minderheit an Katholiken im Land. (Deutsch) (Deutsch) (Deutsch)
Sendungsdrang 2: „Blagowest“ in Europa
MOSKAU/WESTEUROPA, 24. Juli. Ende Juli hat der russisch-orthodoxe Fernsehsender „Blagowest“ seine Sendetätigkeit aufgenommen. Über den Satelliten Intelsat 12 kann der Sender unverschlüsselt in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und anderen westeuropäischen Ländern empfangen werden. Nach eigenen Angaben erreicht er etwa 12 Millionen Russisch sprechende Zuschauer. (Russisch)
Sendungsdrang 3: Mehr Religion in die Politik
WIEN, 14. Juli. Die Wiedergeburt der Religion in der heutigen Welt diktiere die Notwendigkeit der „Revision des modernen Systems der internationalen Beziehungen“, das auf dem weltlichen Prinzip des Staats basiert, meint die russisch-orthodoxe Kirche.
„Die derzeitige Umsetzung dieses Prinzips führt zu einer ungerechtfertigten Isolierung der Religion vom internationalen Leben“, erklärte Georgi Rjabych, amtierender Sekretär für die Beziehungen zwischen Staat und Kirche von der Abteilung für Außenbeziehungen des Moskauer Patriarchats auf der Konferenz „Religion, Diplomatie und internationale Beziehungen“, die Mitte Juli in Wien stattfand.
Ebenso werde nach Meinung des Kirchenfunktionärs die religiöse Weltanschauung auch im modernen System des internationalen Rechts nicht gleichrangig mit anderen Wertesystemen als Quelle der Formierung rechtlicher Normen behandelt. Rjabych setzte sich dafür ein, dass das „positive Potenzial des religiösen Faktors“ bei der Lösung von internationalen Konflikten und dem Ausbau von Mechanismen der Zusammenarbeit stärker berücksichtigt werde.
Zahlreiche weitere Konferenzteilnehmer hatten sich für die Notwendigkeit ausgesprochen, künftige Diplomaten mit den unterschiedlichen religiösen Traditionen der Welt besser vertraut zu machen. (Russisch)
Tibor Vogelsang