Menschenrechte aus Popensicht

MOSKAU, im September. Dass die russisch-orthodoxe Kirche (ROK) das weltanschauliche Vakuum

nach dem Zerfall der Sowjetunion unter ihren Landsleuten zu füllen sucht, ist bekannt. Weniger bewusst ist man sich hierzulande darüber, dass das Sendungsbewusstsein der Russisch-Orthodoxen auch immer massiver über die Grenzen des Reiches der Neu-Bibeltreuen Putin und Medwedjew hinausreicht. So setzen sich die ROK-Auslandsbeauftragten bei Foren der internationalen Christenheit für eine stärkere Einflussnahme auf die Politik ein oder sprechen sich bei Treffen mit EU-Politikern gegen den moralischen Zerfall in der heutigen Welt aus. Vorläufiger Höhepunkt der ideologischen Vereinnahmungsbestrebungen war die Rede des ROK-Oberhaupts Alexi II. in Straßburg vergangenen Jahres, als er vor dem Europarat Homosexualität als Krankheit „so wie Kleptomanie“ verglich. Im Einklang mit dieser Strategie der Einflussnahme steht auch ein Positionspapier der ROK zu den Menschenrechten, das sie im Juni dieses Jahres verabschiedete. Am 4. September veröffentlichte das Bürgerrechtsportal „civitas.ru“ hierzu einen Kommentar von Sergej Jegorow, den wir in leicht gekürzter Übersetzung vorstellen:

Menschenrechte aus Popensicht – Wie die ROK die international anerkannten Menschenrechte herausfordert

Das jüngste Landeskonzil der russisch-orthodoxen Kirche (ROK), das vom 24. bis 29. Juni 2008 stattfand, hat die „Grundlagen der Lehre der orthodoxen Kirche von der Würde, der Freiheit und den Rechten des Menschen“ (im Folgenden kurz Grundlagendokument genannt) verabschiedet.

Im letzten Absatz dieses Dokuments werden die anderen christlichen Kirchen und Vereinigungen, weitere religiöse Gemeinschaften, staatliche Behörden und gesellschaftliche Kreise anderer Länder sowie internationale Organisationen eingeladen, über dieses Dokument zu diskutieren. Es sieht so aus, als dass man mich hierzu nicht miteingeladen hat. Doch schweigen kann ich zu dem Gelesenen nicht, denn die Asche zu vieler Menschen, die auf Scheiterhaufen verbrannten, glüht in meinem Herzen.

Das Konzept der Rechte und Freiheiten des Menschen ist zweifellos eine der größten Errungenschaften der Menschheit und der Zivilisation. Seit Jahrhunderten bahnt sich diese Idee, aller gesellschaftlichen Stagnation und Finsternis zum Trotz, allmählich ihren Weg in die öffentliche Praxis. Dies geschah und geschieht sehr langsam und mit großen Schwierigkeiten; doch zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Idee der Menschenrechte einen Großteil des öffentlichen Bewusstseins erfasst. Dies ist selbstverständlich als positiv zu werten.

Doch sollte man keineswegs darüber überrascht sein, dass es Menschen gibt, denen diese Tendenz überhaupt nicht passt. Sie fühlen sich herausgefordert – aufgrund einer alten Tradition, nach der der Mensch nicht im Besitz von Rechten war, sondern Pflichten zu erfüllen hatte, und nach der ein Mensch im Angesicht der Kirche, des Staats, des Herrn, des Ehemanns ... ein Würmchen war, nur Asche, ein vernachlässigenswertes Nichts, das keine Würde besaß. Vielen, die in jahrhundertelanger Tradition die Menschen herumkommandiert haben, gefällt diese Herausforderung natürlich nicht und sie würden das Rad der Geschichte am liebsten zurückdrehen. Diese Herausforderung ruft vor allem staatliche und kirchliche Amtsseelen auf den Plan. Was durchaus verständlich ist, denn es sind der Staat und die Kirche, die im Laufe vieler Jahrhunderte – von verschiedenen Seiten zwar, aber gleichermaßen aktiv – sich über den Menschen hermachten und sich an seiner Würde und seinem Recht vergriffen, nach eigenem Verstand zu leben.

Heute wird niemand mehr offen gegen das Konzept der Rechte und Freiheiten des Menschen auftreten. Doch die „Zügellosigkeit der Rechte und Freiheiten“ weiter zu zulassen, dazu reicht einigen die Geduld nicht mehr. Was also tun? Möglichkeiten gibt es viele. Eine von ihnen ist, etwas bis zu seiner Unkenntlichkeit zu „vervollkommnen“.

Universell: Menschenrechte oder Kirchenlehre?

„In der heutigen Welt ist die Auffassung weit verbreitet, dass die Institution der Menschenrechte an und für sich die Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Organisation der Gesellschaft am besten gewährleisten kann“, heißt es gleich zu Beginn des ROK-Grundlagendokuments. Der Aufbau dieses Satzes stimmt den Leser jesuitenhaft genau und mit propagandistischer Professionalität darauf ein, dass diese Annahme jedoch trügerisch und falsch sei. Also muss etwas anderes, etwas Vollkommeneres existieren, das die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit und die Organisation der Gesellschaft gewährleistet. Und sogleich erklärt das Konzil, dass die Kirche „dazu berufen ist, die Theorie der Menschenrechte zu bewerten“.

Nun ja, im Grunde hat jeder und jede das Recht, über alles Mögliche oder Unmögliche zu urteilen; hierzu bedarf es keiner besonderen „Berufung“. Doch bevor man etwas beurteilt, wäre es fürs Erste hilfreich, wenn der Wertende klar benennt, was er eigentlich zu werten gedenkt. Beim Lesen des Grundlagendokuments bekommt man den Eindruck, dass deren Autoren etwas für sie völlig Wundersames bewerten, zumindest nicht die Theorie der Menschenrechte, wie sie die internationale Gemeinschaft verabschiedet hat.

Bekanntlich hat die Darstellung des Konzepts der Menschenrechte ihre höchste Ausprägung in einer eigenständigen Schrift erhalten – der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Im Weiteren werde ich mich daher genau auf diesen Text beziehen, in dessen erstem Artikel es heißt: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“

Die Idee, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben, die Idee der Gleichheit, ist in der Tat eine universelle Idee. Sie benötigt absolut nichts zu ihrer Rechtfertigung oder Stärkung. Es reicht, diese Idee anzunehmen und alle soziale Ordnung erwächst „wie eine einfache Tonleiter“ aus ihr. „Alle Menschen sind gleich an Würde und Rechten.“ An Würde, die man erniedrigen kann, und an Rechten, die man ihnen nehmen kann. Diese Begriffe sind gleichwertig. So lautet die Erklärung und hinter allem anderen steckt bestenfalls der Teufel.

Nicht von ungefähr, sondern mit weit reichendem Kalkül hat das Konzil den Begriff „Würde“ in sein Grundlagendokument aufgenommen. „Der grundlegende Begriff, auf dem sich die Theorie der Menschenrechte gründet, ist der Begriff der Menschenwürde“, heißt es darin und man wird kaum umhinkommen, damit nicht einverstanden zu sein. Eben weil alle Menschen gleich an Würde sind, sind sie auch gleich in ihren Rechten.

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte geht auf diesen als völlig offensichtlich angenommenen Aspekt nicht weiter ein. In der Theorie der Menschenrechte ist die Gleichheit an Würde und Rechten ein Axiom. Sie bedarf keines Beweises, so wie es das Parallelenaxiom des Euklid nicht braucht. Und genauso wenig hat dieser Grundsatz eine Untermauerung in Form eines göttlichen Ursprungs des Menschen nötig. Das Axiom ist im Rahmen der Menschenrechtstheorie gerecht – egal, ob ein Gott bei der Entstehung des Menschen beteiligt gewesen sein mag oder nicht. Das ist auch der Grund, warum sich jedermann – unabhängig von seiner Einstellung zur Religion – zum Konzept der Menschenrechte bekennen kann. Genau darin besteht der besondere und allumfassende Wert dieser Theorie.

Würde und würdiges Verhalten

Ungeachtet der Tatsache, dass alle Menschen gleich an Würde sind, verhalten sie sich im Leben unterschiedlich. Und jeder hat das Recht, über das Verhalten des anderen zu urteilen, zum Beispiel, ob einer sich würdig oder unwürdig verhält. Dabei hat diese Einschätzung jedoch nichts mir der Würde zu tun, von der die Erklärung der Menschenrechte spricht. Die Gleichsetzung eines würdigen Verhaltens des Menschen mit seiner Würde stellt eine offenkundige Verdrehung von Begriffen dar, wie sie gern Betrüger anwenden. Doch wem nützt dieser Austausch der Begriffe?

Im Grundlagendokument steht hierzu: „Der moralischen Tradition gemäß hängt der Erhalt der gottgegebenen Würde durch den Menschen und das Aufgehen in ihr von seinem Leben in Übereinstimmung mit den moralischen Normen ab, denn diese Normen stellen das Urwesen und damit die wahre Natur des Menschen dar, welche nicht von Sünde überschattet wird. Deshalb besteht zwischen Menschenwürde und Moral ein direkter Zusammenhang.“ Wenn also jemand nicht ausreichend moralisch handelt, so verringert sich seine Würde (Erinnern wir uns an das Verdrehen der Begriffe!) und daher soll er auch weniger Rechte und Freiheiten haben. Bei diesem Konzept der Gleichheit an Würde und Rechten wird kein Stein mehr auf dem anderen gelassen und das Konzept der Menschenrechte ad absurdum geführt. Aber genau hierfür wurde die ganze Geschichte angezettelt.

In der Tat kann man menschliches Verhalten als würdig oder unwürdig einschätzen. Doch muss man dabei keineswegs „den Zustand der menschlichen, von Sünde überschatteten Natur“ berücksichtigen. Die menschliche Natur ist wie sie ist. Und man muss die Menschen ausgesprochen verachten, um ihnen im Voraus, noch bevor sie sich an irgendeiner Sache vergangen haben, eine „von Sünde überschattete Natur“ zuzuschreiben und zu behaupten, dass „aufgrund der Macht der Sünde, die der gefallenen Natur des Menschen eigen ist, keine menschliche Anstrengung zur Erlangung des wahren Heils ausreicht“. Ich persönlich bin jedenfalls meinen Urgroßeltern gegenüber für ihren „Sündenfall“ dankbar. Dankbar dafür, dass ich ein menschliches Leben führen kann, und dafür, dass ich überhaupt leben kann. Sowohl das eine als auch das andere wäre ohne „Erbsünde“ nicht möglich gewesen.

Selbstbestimmung und Gotteswille

„Indem sie Gott ablehnten und nur auf sich selbst bauten, gerieten die ersten Menschen unter die Macht der destruktiven Kräfte des Bösen und des Todes, und sie gaben diese Abhängigkeit an ihre Nachfahren weiter“, behauptet das Konzil. Lesen Sie diesen Satz noch einmal – was für ein Widerspruch! Nehmen wir mal an, es wäre so gewesen und es gab eine Zeit, als die ersten Menschen sich dafür entschieden hatten, sich von nun an auf ihre eigenen Kräfte zu besinnen. Prima gemacht! Denn zu diesem Zeitpunkt wurden sie völlig unabhängig. Und sie reichten an mich, ihren Nachfahren, diese Unabhängigkeit weiter. Doch wie sehr missfällt dies der Kirche! Wie sehr möchte sie mich in einen abhängigen, und zwar von ihr abhängigen, Zustand zurückversetzen: „Der Mensch kommt ohne Gott nicht aus, und auch nicht ohne kooperatives Zutun mit Ihm, denn allein Er ist die Quelle allen Heils.“

Ich schließe nicht aus, dass es Menschen gibt, die ohne dies „nicht anders können“. Das Konzept der Menschenrechte hindert sie nicht daran, mit wem auch immer zu kooperieren, einschließlich mit Gott. Wenn sie dabei nur die Rechte der anderen unangetastet lassen. Doch die Lehre der ROK hat anderes im Sinn und fordert, dass wir von ihr abhängen; sie nimmt sich das ausschließliche Recht zu bestimmen, was Gut und Böse ist, welche Rechte der Mensch bekommt und welche ihm verwehrt bleiben.

Pustekuchen! Denn der Mensch ist in der Lage, auf sich selbst zu bauen; unsere Vorfahren gaben uns schon vor langer Zeit die SELBSTständigkeit, auf die wir nicht mehr verzichten wollen; die müsste man uns schon mit Gewalt wieder nehmen. Wenn aber für jemanden die Bürde der Unabhängigkeit und der Freiheit zur unerträglichen Belastung wird, so hat er das Recht, auf sie zu verzichten. Aber bitte schön bewusst und freiwillig. Sei es zugunsten der ROK oder zugunsten des heiligen Herrn Mun. Das ist sein Recht und es steht nicht im Widerspruch zu den Menschenrechten.

Moral

Im Grundlagendokument heißt es weiter: „Zwischen Menschenwürde und Moral gibt es einen direkten Zusammenhang.“ Versteht man unter Würde das würdige Verhalten, nicht aber die Würde des Menschen, die gedemütigt werden kann (und wir erinnern uns an das Verdrehen beider Begriffe), so eignet sich dieser Satz durchaus für die folgende Analyse. Moral ist ein gesellschaftliches Phänomen. Schauen wir es uns einmal genauer an.

Mit Moral verbinden wir unser Verständnis davon, welches menschliche Verhalten wir als richtig (würdig) und welches als falsch (unwürdig) erachten. Moral hat zwei grundsätzlich verschiedene Komponenten: eine juristische (nicht töten, nicht stehlen) und eine nichtjuristische (achte Vater und Mutter). Bei den juristischen Inhalten stellt das Konzept der Gleichheit ein klares Kriterium für die Unterscheidung von richtigem und falschem Verhalten dar. Solange ein Mensch nicht gegen die Rechte anderer Menschen verstößt, die ihm selbst zustehen, solange er nicht freiwillig übernommene Verpflichtungen verletzt und seine Steuern zur Erhaltung des Staats zahlt, kann ihn das Gesetz und damit auch der Staat nicht belangen.

Die zweite, nichtjuristische Komponente steht hingegen in keinerlei Zusammenhang mit dem Staat. Sie funktioniert in der Gesellschaft ohne dessen Beteiligung. Wenn jemand seinen Vater und seine Mutter nicht achtet, hat die Gesellschaft das Recht, ihn zu missachten. Andere müssen ihn nicht grüßen, nicht mit ihm reden oder können ihm auf andere Weise ihr Missfallen bekunden. Eine solche öffentliche Rüge kann sich als sehr wirkungsvolles Mittel erweisen. Doch hierfür muss ein klares und genaues Verständnis in der Gesellschaft darüber existieren, was falsch und was richtig ist. Moral – das sind nämlich die ungeschriebenen Verhaltensregeln, die die Mehrheit einer bestimmten Gruppe von Menschen für richtig erachtet – die Bevölkerung eines Landes, die Anhänger einer Religion, die Angehörigen einer gesellschaftlichen Klasse usw.

Behauptungen aber, wonach moralische Normen im Urwesen der menschlichen Natur lägen (d. h. dem Menschen angeboren seien) – sind ein großer Trugschluss (wenn nicht Betrug). Die Moral eines Bojaren und die eines Bauern, die eines Polynesiers oder die eines Russen, eines Bibliothekars oder eines Matrosen sieht jeweils anders aus. Vielleicht werden die moralischen Unterschiede in hundert Jahren unter dem Einfluss der Globalisierung angeglichen sein (woran ich allerdings nicht glaube), aber heute ist, und früher war, genau dies der Fall. Hieraus folgt übrigens, dass Moral sich im Laufe der Zeit verändert.

Analysiert man diesbezüglich das Grundlagendokument, so lässt sich aus ihm schließen: Die einzige und unteilbare Moral, die es gibt, sei die der Menschen, die der ROK angehören, und das Konzil möchte diese Moral allzu gern allen anderen aufzwingen. Hier haben wir einen weiteren radikalen Unterschied zwischen den Anhängern der Gleichheit und den Teilnehmern des Konzils. Wir, die Anhänger der Gleichheit, sind der Meinung, dass die Teilnehmer des Konzils genauso wie Christen, Muslime und alle anderen Gemeinschaften von Menschen das Recht haben, bei ihrer Verständigung untereinander beliebige Verhaltensregeln ohne juristischen Inhalt zu beachten, d. h. Regeln, die andere Menschen nicht tangieren, wenn sie nicht zu dieser Gemeinschaft gehören. Doch die Mitglieder des Konzils wollen genau die Regeln, die sie für richtig halten, allen anderen aufzwingen. Ich hoffe, dass ihnen das nicht gelingen wird, denn die Idee der Gleichheit ist mittlerweile ziemlich tief verwurzelt.

Die freie Wahl und das Böse

„In Anerkennung des Wertes der freien Wahl bekräftigt die Kirche, dass diese zwangsläufig verschwindet, wenn die Wahl zugunsten des Bösen erfolgt.“ Der Begriff des Bösen wird übrigens im Grundlagendokument nicht definiert. Kein Wunder, denn die Kirche hat gerade erst begonnen, über Rechte und Freiheiten zu reden – ein ganz neues Thema für sie. Vielleicht wird sie mit der Zeit diesen Begriff noch für sich definieren. Doch eigentlich kaum. Aus dem gesamten Kontext des Grundlagendokuments geht schon hervor, dass das Böse all das ist, was die Kirche für böse hält. Und von diesem subjektiven Kriterium wird sie sich kaum trennen wollen. Dafür ist sie umso eher zur Stelle, wenn es darum geht, Menschen die Freiheit der Wahl „abzusprechen“. Also faktisch zu entscheiden, welche Taten der Menschen eine „Wahl zugunsten des Bösen“ darstellen. Sehr bequem – wenn das Kriterium hierfür in den Händen der Kirche liegt!

Das Konzept der Menschenrechte hat jedoch seit Langem ein objektives Kriterium formuliert: Böses ist all das, was gegen die Gleichheit eines jeden Menschen verstößt. Mit diesem Kriterium ist jeder vernünftige Mensch in der Lage, selbst zu bestimmen, wo Gut und wo Böse sind, ohne die Experten der Kirche bemühen zu müssen. So ein objektives Kriterium macht „Experten“ überflüssig. Natürlich kann nur ein juristisches Kriterium als universell anerkannt werden, denn wie wir bereits festgestellt haben, ergeben sich im moralischen Bereich die Kriterien zur Unterscheidung von Gut und Böse bei jeder sozialen Gruppe eigenständig.

Offenbarung vs. Menschenrechte

„Da die Menschenrechte kein gottgegebenes Postulat sind, dürfen sie nicht in Konflikt mit der göttlichen Offenbarung treten.“ Solche Perlen sind im gesamten Text des Grundlagendokuments verstreut. Zusammenfassen lassen sie sich etwa so: Nach Auffassung des Konzils hat die Theorie der Menschenrechte kein Recht auf eine unabhängige Existenz. Dort wo diese im Einklang mit den Bestimmungen der christlichen Lehre stehen, sind sie zulässig und mögen existieren; doch dort, wo dies nicht der Fall ist, muss das Konzept der Menschenrechte nicht angewendet und entsprechend „vervollkommnet“ werden.

Da kann man nur sagen – Hände weg!

Das Konzept der Menschenrechte und Grundfreiheiten hat selbstverständlich das Primat gegenüber jeder religiösen oder anderweitigen privaten Doktrin. Allein schon deshalb, weil es die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit enthält – allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen (Artikel 18 der Erklärung). Die Konzeption der Gleichheit ist umfassender als jede religiöse Doktrin und sie verleiht keiner Kirche (nicht nur der ROK) eine absolute Freiheit.

Überall dort, wo religiöses Leben im Widerspruch zu den Menschenrechten gerät, muss es sich diesen unterordnen und eingeschränkt werden. Ganz egal, von welchen Motiven sich Diener der Kirche leiten lassen – eine Verletzung der Menschenrechte ist auch bei ihnen nicht hinnehmbar. Selbst wenn sie behaupten, Gott habe ihnen befohlen, einen Ketzer zu verbrennen, damit seine unsterbliche Seele nicht in der Hölle lande, muss das Verbrennen des irregeleiteten Körpers verhindert bzw. im Fall, dass dies nicht gelungen ist, bestraft werden. Kein einziger Gotteswille ist es wert, nicht nur kein Menschenleben zu opfern, sondern auch keine geringfügigere Verletzung aller anderen ebenbürtigen Menschenrechte hinzunehmen.

Doch die Kirche ist anderer Meinung. Und entsprechend sprach Patriarch Alexi bei der Eröffnung des Konzils: „Die Auslegung der Menschenrechte als höchste und universelle Grundlage des gesellschaftlichen Lebens, das sich religiösen Ansichten und Praktiken zu unterwerfen hat, ist gefährlich und nicht hinnehmbar.“ Daraus wird nichts! Die Menschenrechte sind die höchste universelle Basis des gesellschaftlichen Lebens! Und ich bin überzeugt, dass es Menschen gibt, die bereit sind, dafür zu kämpfen, dass genau diese Auslegung zur gesellschaftlichen Norm wird. Einer von diesen Menschen bin ich.

Eigentlich sollte man meinen, dass die Kirche von heute im 21. Jahrhundert weiß, welcher Platz ihr zusteht. Und man sollte meinen, dass die Säkularisierung in der zivilisierten Welt, darunter in Russland, endgültig gesiegt habe. Doch leider nicht. Wie im Mittelalter will die Kirche die gesamte Gesellschaft und nicht nur ihre Schäfchen beherrschen.

Übersetzung und Bearbeitung: Tibor Vogelsang

Quellen:
Kommentar (Russisch)

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Deutsch)

ROK-Positionspapier „Grundlagen der Lehre der orthodoxen Kirche von der Würde, der Freiheit und den Rechten des Menschen“ (Russisch)

Bild: www.patriarchia.ru