Die Menschenrechte – neu bedacht

(hpd) Menschenrechte sind die im Humanismus der Renaissance durch das Studium der Antike wiederentdeckten und als politische Forderungen der Aufklärung neu formulierten Rechte jeder einzelnen Person. Das Programm der Menschenrechte wurde am 10. Dezember vor sechzig Jahren durch die UNO anerkannt. Sie sind seitdem einklagbar.

 

Zu diesem Jahrestag im Folgenden ein Kommentar von Prof. Dr. Franz Josef Wetz. Er lehrt Kulturphilosophie und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

Das Wertedokument mit der weltweit größten Anerkennung ist die vor 60 Jahren von den Vereinten Nationen verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Gegenwärtig geht es im nationalen und internationalen Kampf der Ideologien nicht mehr so sehr um deren Zustimmung oder Ablehnung sondern nur noch um ihre „richtige“ Auslegung.

Im Allgemeinen werden fünf Arten Menschenrecht unterschieden: Zuerst seien die Verfahrens- und Organisationsrechte genannt: Demokratie, Gewaltenteilung, Grundrechte, Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Hiernach hat jeder Mensch ein Recht auf Leben in einem demokratischen, die Gewalten teilenden und Grundrechte garantierenden Verfassungsstaat. Zweitens sind die liberalen Abwehrrechte zu erwähnen, die einen besonderen Schutz der Freiheit des Einzelnen vor willkürlichen staatlichen Eingriffen fordern, um auf diesem Wege staatliche Zwangsgewalt zu begrenzen.
Dazu gehören neben dem Recht auf Leben und individuelle Selbstbestimmung die Erlaubnis, nach persönlichem Glück zu streben, die Gleichheit vor dem Gesetz sowie Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Hiervon unterscheidet man drittens die politischen Teilhaberechte – auch Bürgerrechte genannt -, die dem Einzelnen aktive Beteiligung am politischen Geschehen ermöglichen. Dazu gehören neben Versammlungs-,
Meinungs- und Pressefreiheit vor allem das allgemeine Wahlrecht, über das in der Regel jeweils nur die Bürger eines Landes verfügen, weshalb man es nationales Menschenrecht nennt. Von diesen politischen Mitwirkungsrechten werden als viertes wiederum die sozialen Leistungs- und Wohlfahrtsrechte unterschieden, die dem Einzelnen soziale Sicherheit versprechen für den Fall, dass seine Existenz gefährdende Risiken wie Krankheit, Unfall oder Arbeitslosigkeit eintreten, und damit verbunden sozialen Ausgleich, um so die wirtschaftliche Lage jener Mitbürger zu verbessern, die als sozial schwach oder benachteiligt gelten.
Als fünfte Rechtsart gelten neuerdings die so genannten Solidaritäts- und Kollektivrechte, zu denen das Recht auf saubere Umwelt genauso gehört wie das Recht auf nachhaltige Entwicklung, das hauptsächlich die Länder der Dritten Welt fordern.

Freiheit, Gleichheit, Toleranz sind aus weltlicher Ethik begründbar

Nun stellt sich allerdings die bange Frage, ob der Mensch an sich überhaupt solche Rechte hat, wie sie etwa Friedrich Schiller im Wilhelm Tell überschwänglich preist:„Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last – greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel, und holt herunter seine ewgen Rechte, die droben hangen unveräußerlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.“
Bereits Ende des 18. Jahrhunderts bestritt der englische Philosoph Jeremy Bentham jede Art von Menschenrechten, die der Gründung eines Staates vorausgehen und den Menschen an sich zukommen sollen. Bentham bezeichnete eine solche Annahme als „Unsinn auf Stelzen“.
Tatsächlich ist es falsch zu glauben, wir Menschen hätten von Natur etwa ein Recht auf Leben, Gleichheit und Sicherheit. Der Gedanke, dass Leben schon das Recht zu leben umfasst, gehört bestenfalls zu den schönen Illusionen der abendländischen Kultur. Jedoch setzt solch skeptische Sichtweise bezüglich der unveräußerlichen Menschenrechte den Verlust der metaphysischen Begründungen durch „Gott“, „Natur“ und „Vernunft“ voraus.
Ausgehend von der modernen Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem, ist die Frage nach vorgesellschaftlichen, angeborenen Menschenrechten in die Privatsphäre zu verlegen, weil diese Ideen, gegründet auf „Gott“, „Natur“ und „Vernunft“, weltanschaulich eingefärbt sind. So darf zwar der religiöse Mensch etwa hieran weiter festhalten und hierfür öffentlich eintreten, ein religiöses Menschenbild kann aber einer politischen und rechtlichen Ordnung nicht auf allgemeingültige Weise unterlegt werden, die sich zu weltanschaulicher Neutralität bekennt und für unterschiedliche Kulturen offen bleiben möchte.
Freiheit, Gleichheit und Toleranz müssen sich auch ohne Religion aus einer weltlichen Ethik heraus begründen lassen, mehr noch, religiöse Anschauungen haben sich umgekehrt den allgemeinen Menschenrechten unterzuordnen.

Menschenrechte gelten ohne religiöses Sinnzentrum

Nun sind tief religiöse Menschen aber gar nicht ohne weiteres bereit, ein solches Opfer zu bringen. Im Gegenteil sind sie vielmehr davon überzeugt, dass Heil und Glück der Menschen von ihren eigenen Glaubenswahrheiten abhängen. Weit davon entfernt, die säkulare Welt zu akzeptieren, selbst wenn diese Religionsfreiheit ermöglicht, neigen hohe islamische, katholische und jüdischorthodoxe Geistliche eher dazu, die säkulare Welt als einen Irrläufer der Geschichte zu verurteilen, weil sie nicht ausreichend Sinn und verbindliche Orientierungswerte aus sich heraus produzieren könne.
Aber dies ist ein großer Irrtum:

  • Erstens steht die von den Menschenrechten beherrschte säkulare Kultur nicht im Widerspruch zur religiösen Sinngebung, sondern erlaubt vielerlei Ansichten über den Sinn des Lebens und damit über das Gute oder die richtige Lebensführung.
  • Zweitens fordert die säkulare Kultur in der Tat eine Anerkennung der Menschenrechte auch von den Weltreligionen, wozu eine Achtung vor den Ungläubigen, die Gleichstellung der Frauen und Homosexuellen, ein Verzicht auf Handamputationen bei Diebstahl oder Steinigungen von Frauen bei Ehebruch gehören. In diesen Fragen darf mit Bezug auf Immanuel Kants berühmtes Werk „Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft“ von Religion innerhalb der Grenzen der Menschenrechte gesprochen werden.
  • Drittens bleibt zu wünschen, dass die Weltreligionen – ähnlich wie die beiden großen christlichen Kirchen – nach und nach die Menschenrechte zur eigenen Sache werden lassen, nachdem sie die Ursprünge solcher Grundwerte wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in ihren eigenen Sinnerzählungen ausfindig gemacht haben. Eine solche Entwicklung durchlief die katholische Kirche im 20. Jahrhundert, ohne sie allerdings bisher zu einem Abschluss gebracht zu haben; die islamische Welt steht erst am Anfang eines solchen Prozesses.

Aber so sehr Neuinterpretationen der Weltreligionen zu deren Annäherung an die Menschenrechte führen können – die Menschenrechte erheben den Anspruch, auch ohne religiöses Sinnzentrum zu gelten. Die Forderung nach weltanschaulicher Neutralität gebietet aber Staat, Politik und Recht, so zu tun, als ob es angeborene Rechte nicht gäbe, die ohne metaphysischen Hintergrund, der Privatsache ist, unbegründet bleibt. Die Ergebnisse der modernen Kosmologie, Evolutionsbiologie, Molekulargenetik und Neurophysiologie legen sogar die Vermutung nahe, dass es überhaupt keine angeborenen Menschenrechte gibt, weil der Mensch im Letzten lediglich ein schmalnasiges Säugetier mit besonders komplexer Organausstattung ist.

Verzicht auf Menschenrechte wäre verantwortungslos

Angesichts der allgemeinen Forderung nach weltanschaulicher Neutralität und der unleugbaren Vorherrschaft der modernen Naturwissenschaften dürften sich dann Politik, Recht und Staat überhaupt nicht mehr auf die Ideen der angeborenen Menschenrechte berufen. Dennoch werden wir uns mit der völligen Verwerfung der Menschenrechte wohl weder anfreunden noch abfinden wollen.
Schon das Übermaß an Elend, Unterdrückung und Ungerechtigkeit in der Welt ließe den Verzicht auf die Menschenrechte geradezu als verantwortungslos erscheinen. Allerdings können wir in den Menschenrechtenkünftig nur mehr ethische Ideale erblicken, deren Grundlagen anthropologischer Art sind. Den Ausgangspunkt dieser Überlegung bildet die Selbsterkenntnis des Einzelnen als eines endlichen, verwundbaren, leidensfähigen Wesens mit starkem Erhaltungs-, Entfaltungs- und Entwicklungsdrang. Sicherlich äußert sich dieser in verschiedenen kulturellen Kontexten auf jeweils unterschiedliche Weise.
Aber so sehr unsere Bedürfnisse historisch und regional variabel sind – es bleibt unbestreitbar, dass noch vor jeder kulturellen Differenzierung eine existenzielle Gleichstellung aller Menschen als endliche, leidensfähige Wesen besteht. An dieser Unvollkommenheit und Bedürftigkeit lässt sich mühelos die Vorzugswürdigkeit eines Lebens ohne Hunger, Not, Ausbeutung, Gewalt und Entmündigung erkennen. Die Menschenrechte lassen sich auf derartige Interessen stützen. Sie sind intersubjektiv begründbar dadurch, dass wir uns gemeinsame Interessen in Aufforderungen zu bestimmten Verhaltensweisen verwandeln. Die Frage bleibt allerdings bestehen, auf welchen allgemeinen Menscheninteressen solche ethischen Grundwerte beruhen sollen, an die sich dann die öffentliche Ordnung und jeder Bürger zu halten hätte.

Allgemeine Interessen der Menschen

(1) Zweifellos gehören hierzu die erwähnten Interessen der Menschen am Überleben, an körperlicher Unversehrtheit, an Religions-, Bewegungs- und Handlungsfreiheit, Schutz vor Übergriffen anderer, übermächtiger Kollektive und des Staates, dann Schutz vor Diebstahl sowie die Einhaltung von Versprechen und Verträgen. Solche und ähnliche andere Interessen verbinden die allermeisten Menschen miteinander, obwohl es keine Garantie dafür gibt, dass sie tatsächlich alle haben.
(2) Um sich über diese Interessen verständigen zu können, muss bereits eine Möglichkeit zu argumentativer Auseinandersetzung und ungezwungenem Meinungsaustausch bestehen. Denn erst sie ermöglichen ein offenes Gespräch über die Frage, woran wir uns orientieren möchten. So ist das offene Gespräch gleichfalls ein wichtiger Grundwert.
(3) Dieser bleibt wiederum an elementare Voraussetzungen gebunden, wenn man bedenkt, dass mangelnde Bildung, Hunger und Geheimpolizei die für das offene Gespräch notwendige Freiheit, Muße, Aufgeklärtheit und Unerschrockenheit verhindern, die somit auch Grundwerte einer freien Gesellschaft sind. Aus der Vergleichbarkeit aller Menschen in diesen Belangen folgt geradezu von selbst eine allgemeine Forderung nach Gleichberechtigung: die Pflicht zu gleicher Achtung eines jeden und das Recht auf gleiche Achtung durch jeden, woraus sich dann zwanglos – als Ansprüche an die öffentliche Ordnung – ein Recht der Bürger auf Selbstregierung, Demokratie mit Gewaltenteilung und Grundrechte, ableiten lässt, in der sie alle als Gleiche zu berücksichtigen wären.

Am Wohlergehen der Mitmenschen gelegen

Doch selbst wenn die Vorzugswürdigkeit eines Lebens ohne Hunger, Not, ohne Bildungsmangel und gewaltsame Unterdrückung außer Frage steht, ist damit noch lange nicht gesichert, dass sich Staat und Politik als vorrangige Adressaten dieser Rechte auch daran halten, obwohl sie diese offiziell anerkannt haben und die Möglichkeit hierzu hätten. Man denke nur an den langwierigen Prozess der Gleichstellung von Schwarzen mit Weißen, Frauen mit Männern, Homosexuellen mit Heterosexuellen in der westlichen Welt trotz ihres Bekenntnisses zur Gleichheit aller Menschen.
Diese Interessen richten sich zwar in erster Linie an die politisch Verantwortlichen, zugleich aber auch an jeden Einzelnen von uns. Aber warum sollte jemandem überhaupt an freier Selbstbestimmung und Wohlergehen der Mitmenschen gelegen sein? Man sollte bereits deshalb wollen, dass auch anderen gewährt werde, was man für sich selbst als Mindeststandard zum Leben beansprucht, weil man nur so die Erfüllung seiner eigenen Wünsche und Interessen dauerhaft sichern kann.
Zum anderen sollte uns am Wohlergehen unserer Mitmenschen gelegen sein, aus der einfachen Überlegung, dass Not, Schmerz und Erniedrigung für andere nicht weniger wiegen als für uns selbst – wie umgekehrt die eigenen Wünsche und Interessen nicht einfach deshalb mehr zählen als die anderer Menschen, nur weil sie die eigenen sind. Eine solche ethische Grundhaltung setzt allerdings – bildhaft formuliert – einen Schritt zur Seite voraus: einen Abstand zu sich selbst, ein Absehen von eigenen Wünschen und Neigungen. Denn erst so wird man fähig, sich in die Lage anderer zu versetzen und deren Vorlieben und Ideale zu berücksichtigen, soweit sie sozialverträglich sind. Jedenfalls erwacht dann fast zwangsläufig die allgemeine Erkenntnis, dass Schmerz, Leid, Elend, Erniedrigung und Unterdrückung nicht nur für einen selbst, sondern für alle etwas Schlimmes sind.

Weltweit durchsetzungsfähige Institutionen gefragt

Allerdings bewegen solche ethischen Einsichten noch lange nicht das Herz der Menschen, sich auch wirklich uneigennützig zu verhalten. Egoistische Neigungen verhindern häufig die Achtung vor den Menschenrechten selbst dort, wo eben noch erkannt wurde, dass Grausamkeit und Unfreiheit verabscheuungswürdig sind. Aus diesem Grund geht es nicht ohne persönliches Wohlwollen und innere Selbstbindung an moralische Grundsätze, die eine mühsame Kleinarbeit der Aufklärung und Erziehung zu gegenseitiger Achtung, Gesprächs- und Hilfsbereitschaft erforderlich machen. Dennoch bindet sich nicht jeder freiwillig an ethische Leitlinien oder Menschenrechte.
Es scheint sogar Menschen ohne jedes Unrechtsempfinden und Wohlwollen zu geben – Menschen, die scheinbar wie von allen guten Geistern verlassen sind. Da die Zwingkraft jeder Ethik gering ist, kann sich eine Gesellschaft gegen solche Menschen nur rechtlich schützen. Tatsächlich dürfen wir nicht bloß auf die Bereitschaft des Einzelnen vertrauen, seinen Nächsten zu achten und diesem in der Not tätig beizustehen.
Was wir brauchen, sind weltweit durchsetzungsfähige Rechtsinstitutionen und politische Ordnungen, die verhindern, dass sich die Menschen gegenseitig und vor allem herrschende Politiker, regierende Religionsführer und international agierende Unternehmen den Menschen noch mehr Demütigungen, Leid und Unrecht antun.

(Dieser Artikel ist ein Nachdruck aus „diesseits, Zeitschrift des Humanistischen Verbandes“. Berlin 22(2008)85 [4], S.12-14. – Wir bedanken uns bei der Redaktion „diesseits“.)

Zum Weiterlesen: Franz Josef Wetz: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Verfall eines Grundwerts. Stuttgart: Klett-Cotta 2005.